Saskia Hennig von Lange – Heim

Welche Assoziationen löst der Titel des neuen Romans von Saskia Hennig von Lange – Heim – aus? Bei mir war es tatsächlich zunächst ausschließlich die der Geborgenheit, des Heimkommens, etwas Warmes. Aber natürlich kann ein Heim auch etwas Kaltes, Erschreckendes, Bedrohliches sein. Lange Zeit galt das beispielsweise für Kinderheime, Kindererholungsheime, Heime für Menschen mit geistigen Einschränkungen, auch Altenheime. Die Komplexität des Titels weist bereits auf die Vielschichtigkeit dieses sehr gelungenen Romans hin.

Saskia Hennig von Lange wechselt in ihrem Text ständig von der Innen- in die Außenperspektive ihrer verschiedenen Protagonisten und führt unter anderem in die Innenwelt der zu Beginn knapp achtjährigen Hannah. Sie ist ein besonderes Kind, das wird sehr schnell klar. Seit einer „frühkindlichen Hirnschädigung“ ist sie geistig beeinträchtigt, verhaltensauffällig. Viele ihrer Handlungen und Reaktionen weisen auf Autismus hin. Die Autorin benennt es nicht genauer. Befinden wir uns aber in Hannahs Kopf – sie ist die einzige Ich-Erzählerin -, dann sind ihre Gedanken, sind ihre Wahrnehmung und deren Verarbeitung plausibel, schlüssig, sind wir ihr ganz nah. Schwenkt die Perspektive aber auf ihre Eltern Willem und Tilda, dann ändert sich das sehr schnell. Dann sieht man ein schwer lenkbares, aufbrausendes, aber auch träumerisches und zärtliches Kind.

Ein besonderes Kind

Die Hilflosigkeit und Überforderung der Eltern, besonders auch der Mutter Tilda, die ihr Kind manchmal rigoros ablehnt, ist ein Stück weit sicher auch zeitbedingt. Hannah wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, in den Fünfzigerjahren war Autismus noch nicht groß erforscht, generell der Umgang mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen noch ein ganz anderer. Die Jahre des Nationalsozialismus, seine Überzeugungen, das was dem Menschen jahrelang eingeimpft wurde, waren noch nicht lange her. Auch in Tilda und Willem ist noch sehr präsent, was mit Hannah geschehen wäre, wäre sie zehn Jahre früher zur Welt gekommen. Und auch die Haltung der Umwelt zu dem Mädchen ist meistenteils ablehnend. Tildas Schwester Gerda ist da auch mit einem Urteil schnell bei der Hand:

“Mir passiert so etwas auf keinen Fall“ hat sie neulich am Telefon gesagt. „Denn erstens habe ich mir nichts vorzuwerfen, und zweitens gibt es keine Unregelmäßigkeiten in unserer Ahnenreihe. Auch Bertis Ahnenpass ist sauber.“

Dass auch noch Jahrzehnte so etwas wie ein Ahnenpass überhaupt noch Erwähnung findet, lässt einem übelwerden. Aber auch in den Eltern ist die Ideologie noch sehr verankert. Besonders die oft sehr ablehnende Haltung Tildas ist schwer zu ertragen. Einmal spricht sie von ihr als ihr „Sühnekind“ – Strafe für eigenes Fehlverhalten und Schuld, die sich ihr Mann aufgeladen hat. Dann wieder liebt sie sie zärtlich. Mehr Bindung zu seiner Tochter fühlt Willem. Zwischen den Eheleuten herrscht sehr oft Ratlosigkeit, Uneinigkeit und immer ein großes Schweigen. Auch das ein typisches Phänomen der Zeit.

Eine unglückliche Ehe

Es ist eine unglückliche Ehe zwischen Tilda und Willem, die einst so vielversprechend begann. Mitte der 1930er Jahre lernen die Beiden sich auf einem Kreuzfahrschiff kennen und fühlen sich gleich zueinander hingegezogen. Nach einem Landgang an die spanische Küste kehrt der schneidige Willem allerdings nicht zurück an Bord und bleibt längere Zeit aus Tildas Leben verschwunden. Nach und nach erfahren die Leser:innen, dass er Teil der Legion Condor war, jener Freiwilligen der deutschen Luftwaffe, die ab 1936 im Spanischen Bürgerkrieg mehr oder weniger geheim auf Seiten der Nationalisten unter Francisco Franco gegen die Spanische Republik kämpften, und die die ersten größeren Luftangriffe der Geschichte gegen Zivilbevölkerung durchführten, am bekanntesten ist vielleicht der Angriff auf Guernica am 26. April 1937.

Nie wird nach dem Krieg, nachdem sich die Beiden wiederbegegnen und heiraten, über Willems Beteiligung an diesen Kriegsverbrechen gesprochen, nie über seine Kriegserlebnisse. Und sehr spät erst erfährt Tilda von Willems erster Frau, die aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee mit ihrer kleinen Tochter den Freitod wählte. Willem, der mittlerweile als Lebensmittelchemiker arbeitet, seinen Opel liebt und sich ansonsten so oft wie möglich in den Keller zurückzieht und Jazz-Platten hört, handelt wie viele Männer damals – verdrängen, wegducken, schweigen. Über Schwager Berti heißt es:

„Berti schweigt zu allem. Der lässt sie machen. Kindererziehung ist schließlich eine Frauenangelegenheit. Gerda befolgt alles, was in den Büchern steht, komme, was da wolle.“

Tilda ist selbst stark traumatisiert durch den zurückliegenden Krieg:

„Als könnten wir von der Zukunft, die aus einer solchen Vergangenheit kommt, etwas erhoffen, als stünde uns etwas zu, das nicht schlecht und voller Leid und Einschränkungen ist! Voll von verschütteten Einschlägen. Tilda denkt an die Bombennächte, an die sie eigentlich immer denkt, die immer da sind, egal, wie sehr sie sich bemüht, gerade nicht darn u denken. Sie denkt an den Morgen im Dezember `4, als sie aus dem Keller gekrochen kam, hinter ihr Gerda und Mutti, und überall war nur Feuer und Tod. Gestank und Zerstörung.“

Überforderung und Schuld

Und Tilda fühlt sich allein mit Hannah völlig überfordert. Immer die Frage: „Was denken die Leute?“ Hannah stößt sie ab mit ihrem Speichelfluss, ihren Schreien, dem widerspenstigen Haar. Hannah ist für sie das „Sühnekind“ für eine Abtreibung, die sie nach einem Seitensprung hat vornehmen lassen. Gewalt gegen das Baby, ein Versuch es zu ersticken werden angedeutet. Vielleicht sogar der Grund für Hannahs Hirnschädigung? Die Autorin lässt es in der Schwebe. Hannah soll ins Heim. Wer von den Eltern letztendlich die treibende Kraft ist, bleibt ein wenig offen. Saskia Hennig von Lange verschiebt Innen- und Außenperspektiven, vielleicht denkt tatsächlich jeder der Ehepartner, der andere wäre mehr „schuld“.

Über die grässlichen Zustände in den Heimen der damaligen Zeit ist oft berichtet worden. Es nochmal so deutlich zu lesen ist dennoch quälend. Hannah wird sediert, fixiert, vernachlässigt. Das Sorgerecht haben die Eltern bei der Einweisung an die Heimleitung abgetreten. Dennoch wollen Tilda und Willem das irgendwann nicht länger hinnehmen, sehen, wie ihre Tochter leidet, gequält wird.

Saskia Hennig von Lange hat mit Heim einen bewegenden Roman geschrieben. Psychologisch feinfühlig beobachtet sie ihre Protagonisten. In Hannahs Kopf hineinzuschlüpfen ist sicher ein wenig heikel, es ist ihr aber sehr überzeugend gelungen. Die Relikte der NS-Zeit werden beklemmend sichtbar gemacht. Und im letzten Kapitel erzählt die Autorin über Hintergründe und Entstehung des Romans. Ein Großonkel stand wohl Pate für Willem und seine Verstrickungen. Es gab wohl auch eine Tante, deren Schicksal dem von Hannah ähnelte. Es geht hier auch um die Verlässlichkeit von Erinnerungen. Und am Ende wird Saskia Hennig von Lange unerwartet tagespolitisch, schlägt den Bogen nach Butscha, Be´eri und Gaza. Ob das überzeugend ist, mag jedem selbst überlassen bleiben. Es ist ein mutiges Ende eines beeindruckenden Romans.

 

Beitragsbild: CC0 @ www.industriesalon.de

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Saskia Hennig von Lange – Heim
Jung und Jung August 2024, 256 Seiten, gebunden, € 23,-

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