Marcelo Figueras – Das schwarze Herz des Verbrechens

Marcelo Figueras – Das schwarze Herz des Verbrechens

„Das ist die Macht, die die Literatur gewährt: Sie drängt uns, in die Haut der anderen zu schlüpfen, sich vorzustellen, was die fühlen, die nicht wir sind. Das kann dreckig sein, wenn es Schmerz hervorruft; (…)Trotzdem würde ich es nicht eintauschen wollen. Denn das ist der Grund, warum wir erzählen und lesen. Um Empathie zu erzeugen. Um mit unseren Gefühlen das Gefängnis zu überwinden, in das unsere Haut uns sperrt. Wenn man nicht von anderen ergriffen wird, woher soll man dann wissen, dass man lebt?“

Rodolfo Walsh, Jahrgang 1927, ist ein argentinischer Klassiker. Er gilt als Erfinder des investigativen Journalismus in Argentinien, schrieb weit vor Truman Capote etwas, das man „Testimonio“ nannte, den Tatsachenroman, „True crime“, eine auf Zeugenberichten aufgebaute, literarische Nacherzählung von Ereignissen. In Deutschland ist er eher unbekannt, drei seiner Werke erscheinen im Züricher Rotpunktverlag.

Eines davon, „Das Massaker von San Martin“ (Original: „Operacíon masacre) von 1957, nahm der argentinische Autor Marcelo Figueras nun als Ausgangspunkt für seinen neuen Roman. Er ist eine Hommage an den engagierten Journalisten und Schriftsteller Walsh, der 1977 von einem Einsatzkommando der Militärjunta auf offener Straße erschossen wurde (wie übrigens ein Jahr zuvor seine ebenfalls oppositionell arbeitende Tochter). Eine Hommage, aber alles andere als eine eindimensionale Heldenverehrung, sondern eine differenzierte Persönlichkeitsstudie und seinerseits eine Art „Testimonio“.

Marcelo Figueras - Das schwarze Herz des Verbrechens
Instalación artística basada en la “Carta abierta a la Junta Militar”, del escritor Rodolfo Walsh. Obra concebida por el artista plástico León Ferrari. by Espacio Memoria y Derechos Humanos (CC BY-SA 3.0) via Wikimedia Commons

Auf der ersten Seite sehen wir ein Bild des jungen Rodolfo. Der Sohn konservativer irischer Einwanderer war ursrünglich kein ausgesprochen politischer Mensch. Er schrieb kleine Kriminalgeschichten, übersetzte Texte, schrieb Artikel für Zeitungen. Bis zu jenem Tag im Jahr 1956, an dem er von den „lebenden Erschossenen“ hörte. Bis dahin war er, so Marcelo Figueras in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe,

„ein junger, hungriger Reporter mit Träumen von Ruhm und Reichtum, ein hoffnungsvoller Autor, der fand, seine ausgedachten Krimis seien – auch wenn sie Preise erhielten – bloß Schrott. (Womit er nicht ganz unrecht hatte.) Aber seine Recherchen veränderten ihn vollständig.“

Die Geschichte, die er hörte, klang spektakulär: 1956 trieben Schergen der sich damals gerade an der Macht befindlichen Militärregierung von General Pedro Eugenio Aramburu Cilveti, die unlängst den Staatspräsidenten Juan Perón durch einen Putsch gestürzt hatte, vermeintlich umstürzlerische Peronisten zusammen, erschoss die Männer auf einer Müllhalde im Vorort José Léon Suaréz und beseitigte alle Spuren. Eines der ersten Staatsverbrechen, denen in den folgenden Jahrzehnten der unrühmlichen argentinischen Geschichte noch so einige folgen sollten. Einige der Männer konnten dabei entkommen und sich verstecken – die lebenden Erschossenen. Dieser Geschichte ging Walsh nach. Sie sollte sein ganzes Leben verändern. Sie machte ihn zu dem politischen Schriftsteller, als der er heute bekannt ist.

Der sinnlose Tod meist völlig unschuldiger Zivilisten erschütterte Rodolfo Walsh zutiefst. Streng katholisch bei Ordensschwestern zur Schule gegangen, verfolgt ihn fortan eine Frage aus dem Lukas-Evangelium, die das Volk Israel Johannes den Täufer fragt: „Was sollen wir denn tun?“ („What then must we do?). Für einen Journalisten wie Walsh gab es eine klare Antwort: Darüber schreiben. Zeugnis ablegen über das Ungeheuerliche.

Rodolfo Walsh
Rodolfo Walsh by  Marco Rodriguez Garrido  (CC BY-SA 3.0) via wikimedia Commons

Marcelo Figueras erzählt in „Das schwarze Herz des Verbrechens“ über die Nachforschungen, die Zeugenbefragungen, den Entstehungsprozess der Aufzeichnungen, die „Operación masacre“ werden sollen. Eine mühevolle und gefährliche Arbeit, die Walsh nicht nur in den Untergrund treibt, sondern auch seine Ehe zerbrechen lässt. Mit Hilfe seiner Mitarbeiterin Enriqueta, die bald auch seine Geliebte wird, gelingt es R, wie er im Roman durchgehend genannt wird, sein „testimonio“ zunächst anonym als Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung unterzubringen. Schließlich muss er aber abtauchen.

Marcelo Figueras beschreibt das alles in knappen Kapiteln so spannend und atemlos, dass sich das Ganze wie ein Politthriller liest. Er schildert den Ablauf und die Hintergründe der Vorgänge 1956, Walshs Rekonstruktionen und die Entstehung seiner Aufzeichnungen, die Schwierigkeiten der Nachforschungen und der Veröffentlichung. Die Atmosphäre in den Redaktionen wird eingefangen, die Angst, die Repressalien. Gleichzeitig schafft er eine differenzierte Charakterstudie, die auch die dunkleren Seiten von Walsh, seinen gnadenlosen Ehrgeiz, seine Sturheit, sein rücksichtloses Verhalten gegenüber Frau und Geliebter, nicht verschweigt.

„Operacón masacre“ wird nicht nur die Regierung Aramburu, sondern die unzähligen seitdem stattgefundenen Machtwechsel überstehen, wenn auch Walsh Hoffnung, dass damit das Verbrechen gesühnt werden könnte, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden, enttäuscht wurde. Die Situation verschlimmerte sich während der brutalen Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla von 1976 bis 1981, gegen die Walsh erneut, wie seine Tochter, in den Untergrund ging. In einem „Offenen Brief

eines Schriftstellers an die Militärjunta“ klagt er sie an:

 

„15 000 Verschwundene, 10 000 Gefangene, 4000 Tote, Zehntausende, die aus dem Land vertrieben worden sind – dies sind die nackten Zahlen dieses Terrors. Als die herkömmlichen Gefängnisse überfüllt waren, verwandelten Sie die größten militärischen Einrichtungen des Landes in regelrechte Konzentrationslager, zu denen kein Richter, kein Rechtsanwalt, kein Journalist, kein internationaler Beobachter Zugang hat. Die Anwendung des Militärgeheimnisses, für die Untersuchung all der Fälle als unumgänglich erklärt, macht die Mehrzahl der Verhaftungen de facto zu Entführungen, was Folter ohne jede Einschränkung und Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil ermöglicht.“

Las paredes son la imprenta de los pueblos – Rodolfo Walsh by Antonio Marín Segovia  (CC BY-NC-ND 2.0) via flickr

Am 25. März 1977 verteilte Walsh etliche dieser offenen, an verschiedene Zeitungsredaktionen adressierten Briefe auf verschiedene Briefkästen in Buenos Aires, als er in einen Hinterhalt geriet. Bei einem Schusswechsel mit einem Einsatzkommando der Marine wurde Rodolfo Walsh getötet. In einem Epilog begleiten wir ihn auf diesem letzten Gang. Erst hier kommt im Roman ein ganz klein wenig Pathos auf.

Erst nach Wiedereinführung der Demokratie in Argentinien 1983 wurden die Verbrechen der Militärdiktatur, auch dieses, allerdings zunächst zögerlich, aufgearbeitet.

In seinem Nachwort macht Marcelo Figueras deutlich, dass es ihm mit „Das dunkle Herz des Verbrechens“ nicht allein um das historische Ereignis, einen bewunderten Mann und eine dunkle Zeit geht, sondern dass er im heutigen Argentinien beunruhigende Tendenzen zurück sieht, zu einer eingeschränkten Pressefreiheit, zu einer bedenklich neoliberalen Wirtschaftspolitik, einem autoritären Regime.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was mit mir geschehen wird – und mit Millionen anderer Argentinier – in nächster Zukunft. Vielleicht werden wir alle unserer Arbeit verlieren. Oder eingesperrt. Oder Schlimmeres.“

so schließt der Autor im November 2017 das Buch.

Ein Besorgnis erregender Schluss eines spannenden, perfekt erzählten Romans, der Porträt, Politthriller und Nachdenken über den Schreibprozess zugleich ist. Denn, dass Walsh eine Alternative sucht zur übermächtigen argentinischen Erzähltradition eines Jorge Luis Borges und dessen phantastischer, der reinen Ästhetik verhafteten Art, zu schreiben, eine den politischen Gegebenheiten angemessenere Alternative, auch das wird in diesem anregenden Buch thematisiert. Eine große Leseempfehlung, die ich auch für Marcelo Figueras „Kamtschatka“ aussprechen möchte.

Beitragsbild: Typewriter CC0 via Pixabay

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Marcelo Figueras - Das schwarze Herz des Verbrechens.

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Marcelo Figueras – Das schwarze Herz des Verbrechens
übersetzt von Sabine Giersberg 
Nagel & Kimche Februar 2018, gebunden, 464 Seiten, € 24,00

7 Gedanken zu „Marcelo Figueras – Das schwarze Herz des Verbrechens

  1. Danke für den Tip. Das kommt auf alle Fälle auf die Leseliste. Gerade bin ich mit „Die Herzen der Männer“ durch. Da passt das. liebe Grüsse Biggi

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