Die Geschichte in Das Porzellanzimmer klingt unglaublich, ist aber wohl an die Familiengeschichte des 1981 geborenen britischen Autors Sunjeev Sahota angelehnt. Wie die Protagonistin Mehar wurde seine indische Urgroßmutter als kleines Mädchen dem Sohn einer anderen Familie versprochen und musste diesen mit 15 Jahren heiraten ohne ihn vorher auch nur gesehen, geschweige denn kennengelernt zu haben. Weiterlesen „Sunjeev Sahota – Das Porzellanzimmer“
Autor: Petra Reich
Lektüre März 2023
Der März ist ja normalerweise der Monat der Leipziger Buchmesse. Da diese 2023 vorsichtshalber auf Ende April verschoben wurde, blieb in diesem März nicht nur viel Zeit für spannende Lektüre, sondern auch für viele Lesungsbesuche: Dinçer Güçyeter, Bernardine Evaristo, Ian McEwan, Julian Barnes, Éric Vuillard waren die hochkarätigen Autor:innen, die ich live erleben durfte.
Aber auch Hochkarätiges auf Papier war dabei: Besonders gefallen hat mit die ukrainische Familiengeschichte von Victoria Belim und die französische von Sylvie Schenk. Außerdem überzeugte Das Porzellanzimmer von Sunjeev Sahota besonders. Weiterlesen „Lektüre März 2023“
Lisa Weeda – Aleksandra
Zahlreiche Bücher erscheinen zurzeit in Deutschland über die Ukraine und zeigen ein bisher eher zurückhaltendes Interesse an osteuropäischer Literatur. Meistens beschäftigen sich die Autor:innen anhand von mehr oder weniger fiktionalisierten Familiengeschichten mit der Geschichte der Ukraine und ihren meist unheilvollen Beziehungen zum großen Nachbarn Russland. So auch die 1989 in Rotterdam geborene niederländische Autorin Lisa Weeda, die großmütterlicherseits aus der Ukraine abstammt, mit ihrem Roman Aleksandra, der wenige Monate vor dem Beginn des Angriffskriegs Russlands im Original erschien. Weiterlesen „Lisa Weeda – Aleksandra“
Bernardine Evaristo – Mr. Loverman
2019 erhielt die britische Autorin Bernardine Evaristo für ihren polyphonen, feministischen Roman „Girl, Woman, Other“ (dt. Mädchen, Frau etc.) den Booker Prize. Ausgezeichnet wurde sie, und das war etwas ganz besonderes, zusammen mit der großen kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood. Ein großartiges Duo, das auch ganz wunderbar zusammenpasste. 2022 folgte dann ihr Memoir Manifesto und nun erscheint ein etwas älterer Roman von Bernardine Evaristo, Mr. Loverman (2013). Weiterlesen „Bernardine Evaristo – Mr. Loverman“
Victoria Belim – Rote Sirenen
In Folge des furchtbaren Angriffskriegs auf die Ukraine erscheinen im Moment erfreulicherweise zahlreiche Bücher über das Land und/oder von ukrainischen Autor:innen. Eines davon ist das Memoir der 1978 dort geborenen Victoria Belim. Aufgewachsen in der Gegend von Poltawa, ca. 140 km südöstlich von Charkiw, ging Belim in Kiew zur Schule, besuchte ein Internat auf der Krim und verließ mit 14 Jahren zusammen mit ihrer Mutter die Ukraine Richtung USA. Bereits sechs Jahre zuvor hatten sich die Eltern getrennt, der Vater lebte auch in Amerika. Belim spricht 18 Sprachen und hat in Yale Politikwissenschaften studiert. Heute lebt sie in Belgien. Nachdem sie lange Zeit eher lose Bindungen zu ihrem Heimatland verspürt hat, waren die Ereignisse 2014 für sie der Impuls, sich wieder intensiver mit ihm auseinanderzusetzen. Wie sehr sich das Verhältnis von Victoria Belim zur Ukraine und zu ihrer dort lebenden Großmutter Valentina verändert hat, erzählt sie in Rote Sirenen. Weiterlesen „Victoria Belim – Rote Sirenen“
Marc Sinan – Gleißendes Licht
Marc Sinan – Gleißendes Licht
„Er hätte ein großer Dichter des zwanzigsten Jahrhunders werden sollen, doch der Krieg kommt über die Menschen und nimmt sie sich, als stünden sie ihm genauso hilflos gegenüber wie dem Lauf der Gestirne. Dabei sind sie selbst der Krieg, und die Gestirne sind die Gestirne.“
Mit dem Gedicht eines unbekannten deutschen Grenadiers aus dem Schützengraben des Ersten Weltkriegs – aus dem Jahr 1915, jenem Jahr, in dem das osmanische Reich den Völkermord an den Armeniern verübte – beginnt der 1976 geborene Musiker und nun auch Autor Marc Sinan seinen an autobiografischen Parallelen ausgerichteten Roman Das gleißende Licht.
Wie sein Protagonist Kaan hat der Autor eine armenisch-türkische Mutter und einen deutschen Vater, ist in München aufgewachsen und ein großartiger Gitarrist und Komponist. Den ersten, fast die Hälfte des Buchs umfassenden Teil seines Buches widmet Sinan dem Heranwachsen Kaans, seinen inneren Kämpfen und der auch an familienbedingten Traumata scheiternden Beziehung zu seiner großen Jugendliebe Zizi. Um es gleich zu sagen, dieser Teil hat mich leider gar nicht angesprochen, und das liegt nur zum Teil an meiner generellen Skepsis Liebesgeschichten und aufopferungsvollen Frauengestalten gegenüber. Es dauert einfach zu lange, bis der Autor zum Kern seiner Geschichte und eben zu jenen Traumata in der Familie kommt, die auch im Klappentext angekündigt werden. Es lohnt aber unbedingt, dranzubleiben. In den Zeit- und Handlungsebenen sowie in den Orten hin und her springend, erzählt Marc Sinan dann eine große, tragische Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 20. Jahrhundert.
Eine Familie an der Schwarzmeerküste
Kaans Familie stammt aus Perşembe an der türkischen Schwarzmeerküste. Dorthin ist Kaan auch als Kind immer wieder gereist, um seine geliebte Großmutter, seine Anneanne Vahide und seinen Großvater Hüseyin zu besuchen. Was er bis zum Tod von Vahide 1999 nicht wusste, war, dass sie Armenierin war und ihre gesamte Familie im Genozid verloren hat. Das Drama ihrer Herkunft verließ sie nie.
„Als meine Mayrik mich verließ, verließ mich jede Gewissheit um die Bedingunglosigkeit des Seins.“
Bei türkischen Pflegeeltern aufgewachsen, heiratete sie den aufstrebenden Hüseyin, der von der Vertreibung und Ermordung der armenischen Bevölkerung insoweit profitierte, dass er große Haselnussplantagen aus deren Besitz günstig erwarb und sich ein großes Imperium aufbauen konnte. Dieses verlor er aber in den 1940er Jahren unrechtmäßig, die Familie lebte fortan bescheiden. Eines ihrer Kinder ist Nur, die Mutter von Kaan, die nach Deutschland ging und einen deutschen Mann heiratete. Nur bedeutet „Licht“ und dieses „heilige“ oder auch „gleißende“ Licht bildet ein sich durch das ganze Buch hindurchziehendes Motiv.
Musikalität
Die Arbeit mit Motiven, die starke Rhythmik und Melodiosität seines Textes zeigt den Musiker Sinan. Und so springt der Text, allerdings immer gut nachvollziehbar, zwischen den Jahren des Genozids, den 1940er Jahren, Kaans Kindheit in den 90ern, dem Tod Vahides 1999 und einer Gegenwartebene, die sogar in die Zukunft, den April 2023 weist, und enthüllt so Stück für Stück die Familiengeschichte und das große Schweigen über den Völkermord an den Armeniern. Das Schweigen der Täter, aber auch das der Opfer, das eine wirkliche Aufarbeitung verunmöglicht.
Hinzu kommt noch die mytische Erzählung um Tepegöz, einen Zyklop, der im Buch Dede Korkut vorkommt, einer berühmten epischen Geschichte der Oghuz-Türken. In dieser grauslichen Geschichte, die nicht nur der Großvater Kaan, sondern dieser auch seiner Tochter erzählt, geht es vorwiegend um Rachegelüste, die Kaan auch nicht ganz fremd sind und die in der Gegenwartsebene, in der sich Kaan in der vom Goethe-Institut geführten Künstlerakademie Villa Tarabaya in Instanbul befindet, einen seltsamen Höhepunkt erreichen.
„Schreib endlich die Geschichte auf, Kaan. Schreibe, damit du sie vergessen kannst. Denn nur im Vergessen besteht die Chance zu überleben.“
Marc Sinan hat sie für Kaan aufgeschrieben. Das verrutscht manchmal, etwa wenn eine Walin die „Gesänge“ von ertränkten armenischen Kindern nachahmt. Auch Passagen wie „Die Tränen stürzen aus seiner Seele, ohne zuvor das Herz zu befragen. Aber es sind nicht seine Tränen. Es ist das Meer der ungeweinten Tränen“ hätte das Lektorat besser nicht passieren lassen.
Insgesamt ist Das gleißende Licht“ von Marc Sinan aber ein gelungenes, bewegendes Debüt.
Beitragsbild: Perşembe – Ordu , by Zeynel Cebeci, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Marc Sinan – Gleißendes Licht
Rowohlt Buchverlag Januar 2023, gebunden, 272 Seiten, € 24,00
Sabrina Janesch – Sibir
Sibir – dieses Wort schreibt der von Demenz bedrohte Vater der Ich-Erzählerin Leila im neuem Roman von Sabrina Janesch in den Staub der Gartentischplatte, bezeichnenderweise in drei Sprachen: Deutsch, Russisch und Kasachisch. Drei Sprachen und drei Länder, die das Leben von Josef Ambacher geprägt haben. Seine Familie stammte aus Galizien, wohin die Vorfahren im 18. Jahrhundert aus dem Egerland eingewandert waren und wo sie sich eine Heimat aufgebaut hatten. Seit 1920 gehörten sie zu Polen, wurden 1939 von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt, eine Heimat, die aber plötzlich nicht mehr das Egerland, sondern der annektierte „Reichsgau Wartheland“ war. Hier verlebte der kleine Josef mit seinem Bruder und den Eltern eine schöne Kindheit. Bis die Wirren des blutigen 20. Jahrhundert die Familie erneut einholten. Weiterlesen „Sabrina Janesch – Sibir“
Jonas Hassen Khemiri – Die Vaterklausel
Bereits mit seinem letzten, 2017 auf Deutsch erschienenen Roman Alles was ich nicht erinnerte konnte mich der schwedische Autor Jonas Hassen Khemiri durch seine multiperspektivische Erzählart überzeugen, die er auch in Die Vaterklausel wieder wählt. Ein Familienkonflikt steht hier im Zentrum, besonders das Verhältnis Vater-Sohn. Und wieder ist es eine schon lange in Schweden lebende Familie mit Wurzeln im arabischen Raum. Diesmal ist das Herkunftsland aber nicht ganz so eindeutig als Tunesien, aus dem auch Khemiris Vater stammt, zu identifizieren wie im Vorgängerroman. Weiterlesen „Jonas Hassen Khemiri – Die Vaterklausel“
Christoph Peters – Dorfroman
Dorfroman – im neuen Buch von Christoph Peters ist drin, was draufsteht. Und noch so viel mehr. Es ist nicht nur die hinreißende Geschichte einer Kindheit auf dem Land in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sondern auch eine melancholische Liebesgeschichte im Schatten der Anti-AKW-Bewegung der Achtziger und ein nachdenklicher Versuch über das Vergehen der Zeit, die Veränderung der Welt und über Verantwortung.
„Roman“ ist das Buch überschrieben, und tatsächlich gibt es leichte Verfremdungseffekte, so etwa bei den Ortsnamen, wo etwa das niederrheinische Kalkar mit altertümlichem C geschrieben wird. Auch den Heimatort des Protagonisten, Hülkendonck, findet man auf keiner Karte. Und doch ist es sehr einfach ihn als den Heimatort des Autors, Hönnepel, zu identifizieren. Die Kirche im Roman nennt sich Verafredis, in Hönnepel heißt sie Regenfledis. Es ist also ganz eindeutig, dass Christoph Peters im Dorfroman seine eigene Kindheit und Jugend erzählt, sich dabei aber erzählerische Freiheiten erlaubt. Weiterlesen „Christoph Peters – Dorfroman“
Stephan Lohse – Johanns Bruder
Johanns Bruder ist der zweite Roman des Autors und Schauspielers Stephan Lohse. Gemeinhin gilt der zweite Roman immer als der schwierigste, besonders wenn das Debüt so viel Aufmerksamkeit erhielt und so gelungen war wie Ein fauler Gott von 2017. Stephan Lohse stellt sich der Herausforderung und wagt einiges. Zwar ist auch Johanns Bruder – der Name verrät es – eine Brüdergeschichte, diesmal packt der Autor aber noch eine schwere zeitgeschichtliche Last in seinen Text. Weiterlesen „Stephan Lohse – Johanns Bruder“