Die junge spanische Autorin Aroa Moreno Durán, Jahrgang 1981, greift mit ihrem schmalen Debütroman Die Tochter des Kommunisten ein eher ungewöhnliches Thema auf und – das will ich gleich verraten – hat mich damit vollkommen überzeugt. Dabei schreibt sie nicht, wie viele Debütant:innen eine autobiografisch gefärbte Erzählung, sondern nimmt sich ein weniger bekanntes Kapitel der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vor. 2017 gewann sie damit den Premio Ojo Critico. Weiterlesen “Aroa Moreno Durán – Die Tochter des Kommunisten”
Autor: Petra Reich
Helene Bukowski – Die Kriegerin
Lisbeth leidet seit ihrer Kindheit an einer schweren Neurodermitis. Zu dünnhäutig, zu durchlässig für innere und äußere Einflüsse scheint sie zu sein. Als Mädchen hat sie sich bereits abgesondert, niemanden wirklich nah an sich herangelassen, die Verheerungen auf ihrer Haut, die sie sich durch Kratzen zum Teil selbst zufügt, sorgsam verbergend. Nun ist ihr alles zu viel, die Ehe mit Malik, die Ansprüche ihres kleinen Sohns, der Job als Floristin, das eigentlich schöne Zuhause – zu eng. Helene Bukowski hat über Lisbeth einen erstaunlichen Roman geschrieben – Die Kriegerin. Weiterlesen “Helene Bukowski – Die Kriegerin”
Mohamed Mbougar Sarr – Die geheimste Erinnerung der Menschen
Diese Besprechung von Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr ist vielleicht die subjektivste Rezension, die ich je geschrieben habe. Ich meide sonst zu viele „für mich“, „ich finde/denke“, „meiner Meinung nach“. Aber was schreiben über einen von seinen Leser:innen fast durchweg geliebten und bewunderten Roman, in dessen Besprechungen am häufigsten die Worte „groß“, „überwältigend“ und „funkelnd“ zu finden sind und der von Anlage und Themen (Kolonialismus, Migration, Literatur(betrieb), eine Kontinente umspannende Suche) her eigentlich genau passen müsste – und der mich dennoch als Ganzes kaum erreicht hat. Weiterlesen “Mohamed Mbougar Sarr – Die geheimste Erinnerung der Menschen”
Tara June Winch – Wie rote Erde
So fern sich die Länder und Kontinente auch sind, so erschreckend ähnlich waren doch die Mechanismen und Praktiken, mit denen die Weißen Kolonisatoren indigene Völker missachteten, diskriminierten, unterdrückten und teilweise vernichteten. Habe ich die entsetzlichen Vorgänge in den kanadischen Residential Schools zum überwiegenden Teil erst in den letzten beiden Jahren durch die Beschäftigung mit Literatur mit First Nations Autor:innen erfahren, hat mir nun die 1983 geborene und in Paris lebende Wiradjuri-Autorin Tara June Winch mit ihrem Roman Wie rote Erde gezeigt, dass mit den Aboriginal Australiens (auch das habe ich gelernt: „Aborigines“ gilt als eher abwertender Begriff) ähnlich, aber noch viel grausamer – falls man ein solches „Ranking“ aufmachen darf oder will – umgegangen wurde. Weiterlesen “Tara June Winch – Wie rote Erde”
Nathan Harris – Die Süße von Wasser
1865. Die Konföderierten Südstaaten sind den in der Union verbliebenen Nordstaaten von Amerika endgültig unterlegen. Die Sklaverei wird auch auf den großen Plantagen des Südens abgeschafft, Unionstruppen kontrollieren die Freilassung der Sklav:innen. Dass sich der große Konflikt, der 1861 zu einer Spaltung der Vereinigten Staaten geführt hat und die Bevölkerung ideologisch tief trennt, nach vier Jahren brutaler Kriegsführung mit geschätzt 600.000 Toten so einfach auflöst, ist unmöglich. Zu fest sind rassistische Ansichten und wirtschaftliche Abhängigkeiten von der Sklavenhaltung in der Südstaatenbevölkerung zementiert. Und was soll eigentlich mit den Millionen Freigelassenen passieren? Nathan Harris hat diesen speziellen historischen Moment für seinen 2021 auf der Longlist des Booker Prize platzierten Roman Die Süße von Wasser gewählt. Weiterlesen “Nathan Harris – Die Süße von Wasser”
Tillie Olsen – Ich steh hier und bügle
Seit einiger Zeit werden erfreulicherweise immer wieder Texte von Autorinnen veröffentlicht, die bereits vor Jahrzehnten geschrieben und meist im Original auch als Buch veröffentlicht wurden, es aber nicht zur Übersetzung ins Deutsche kam oder aber diese Übersetzung es im deutschen Buchmarkt nicht zu (bleibender) Aufmerksamkeit geschafft hat und deshalb seit langem vergriffen ist. Warum dieses Schicksal vor allem Texten aus weiblichen Händen beschieden ist, kann man nachlesen, nicht zuletzt in einem parallel zu Ich steh hier und bügle erschienenen Essayband von Tillie Olsen: Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur. Hier wird auch und vor allem auf das Fehlen wichtiger weiblicher Stimmen im Literaturkanon hingewiesen. Es vermag nicht zu verwundern, dass auch dieser Band erstmals nach seiner Veröffentlichung 1978 auf Deutsch erscheint. Weiterlesen “Tillie Olsen – Ich steh hier und bügle”
Lektüre Dezember 2022
Ein intensives Lesejahr 2022 endet mit einer schönen Lektüre im Dezember: Weiterlesen “Lektüre Dezember 2022”
Leïla Slimani – Schaut wie wir tanzen
Schaut wie wir tanzen ist der zweite Teil einer autobiografischen Trilogie, in der die französische Bestsellerautorin Leïla Slimani angelehnt an ihre eigene marokkanisch-französische Familie einen großen Bogen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart schlägt. Anders als in ihren frühen, eher knappen, lakonischen Romanen, erzählt sie hier eher konventionell, auktorial und episch. Das ist aber auf seine Weise ebenso mitreißend und spannend. Weiterlesen “Leïla Slimani – Schaut wie wir tanzen”
Blick in die Verlagsvorschauen Frühjahr 2023 – Neuerscheinungen
Der halbjährliche Blick in die Verlagsvorschauen stellt Neuerscheinungen im Vereich Belletristik für das Frühjahr 2023 vor – neuen spannende Bücher 2023
UPDATE Januar 2023 Weiterlesen “Blick in die Verlagsvorschauen Frühjahr 2023 – Neuerscheinungen”
Anuk Arudpragasam – Nach Norden
Es ist ein leider beinahe klassisches Szenario in unterschiedlichen Regionen der Welt. In nach der Kolonialzeit in die Unabhängigkeit gelangten Staaten brechen unterdrückte Konflikte zwischen verschiedenen ethnischen und/oder religiösen Gruppen vehement auf, beim Kampf um Macht und Vorherrschaft kommt es oft zu Konflikten, die häufig in Bürgerkriege, Massaker oder gar Völkermorde, wie 1994 in Ruanda (auch das üblich, Jahrzehnte nach Ende der kolonialen Unterdrückung) münden. Vielfach werden wie dort einstmals (vermeintlich oder real) von den Kolonialmächten bevorzugte Minderheiten im Land nun von der Bevölkerungsmehrheit diskriminiert, verfolgt oder sogar bekämpft. Zwischen 1983 und 2009 tobte ein solcher Bürgerkrieg auf Sri Lanka, dem vormaligen Ceylon, das 1948 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte. Aktuell (und immer wieder) flackert der Konflikt zwischen der singhalesischen, vorwiegend buddhistischen Bevölkerungsmehrheit und den meistenteils hinduistischen Tamilen im Norden des Landes wieder auf. Welche Wunden der Bürgerkrieg neben den geschätzt bis zu 100.000 Todesopfern geschlagen hat und wie diese auch heute noch zu spüren sind, erzählt der sri-lankische Autor Anuk Arudpragasam eindrücklich in Nach Norden.
Kindheit und Jugend in Colombo
Im Bewusstsein seines Protagonisten Krishan, dem der Autor in personaler Perspektive eng folgt, flackert der bewaffnete Konflikt in seinem Land meist nur dann auf, wenn es besonders spektakuläre Aktionen der tamilischen „Befreiungsarmee“ Tamil Tigers gibt, wie 1991 die Ermordung des ehemaligen indischen Premierministers Rajiv Gandhi oder 1993 des sri-lankischen Präsidenten Premadasa, oder Selbstmordattentate mit vielen Opfern. Oder wenn bei Vergeltungsaktionen der sri-lankischen Armee Tausende Tamilen sterben. Ansonsten lebt Krishan als Kind (wie der Autor) recht behütet im friedlichen Süden der Insel, in der Hauptstadt Colombo. Vom Norden, aus dem seine Familie stammt, hört er nur von verklärenden Verwandten, die sich oft im ausländischen Exil befinden. Bis sein Vater einem Attentat zum Opfer fällt. Als der Konflikt 2008/2009 eskaliert, befindet sich Krishan zum Studium in Neu-Dehli.Dort lernt er Anjum kennen, eine Aktivistin, deren lesbische Beziehung gerade zerbricht und die ein Verhältnis mit Krishan beginnt.

Eine Reise in den Norden
Zu Beginn von Nach Norden lässt Anuk Arudpragasam ihn eine E-Mail von Anjum, die sich bereits Jahre zuvor von ihm getrennt hat, erhalten. Erinnerungen an die nicht einfache, aber intensive Zeit mit Anjum kommen hoch, die Beziehung wird noch einmal reflektiert. Zeit dazu hat Krishan auf einer Zugreise von Colombo in den Norden Sri Lankas, in die Nähe von Jaffna. Dorthin hat sich Rani zurückgezogen, die zuvor als Pflegerin von Krishans Großmutter im Elternhaus lebte. Die seit den Kriegerlebnissen in ihrer Heimat, wo sie wie Hunderttausende tamilischer Zivilisten bei den Kämpfen zwischen die Fronten geriet und deren beide Söhne getötet wurden, schwer traumatisierte Frau, ist beim Sturz in einen Brunnen ums Leben gekommen. Da Krishans Großmutter nicht reisefähig ist, fährt er an ihrer statt zur Beerdigung. Neben seiner Erinnerungen an seine Liebe reflektiert er hier über den Bürgerkrieg und seine Folgen für Sri Lanka und beschreibt die vielfälltigen Sinneseindrücke bei seiner Reise und der traditionell hinduistischen Verbrennungszeremonie.
Krishan ist ein hochreflektierter Protagonist. Und Anuk Arudpragasam lässt ihn in Nach Norden viel Zeit für seine Erinnerungen, Gedanken und Beobachtungen. Nach Norden ist ein langsames Buch. In langen, fließenden, eleganten Sätzen, unter gänzlicher Vermeidung von direkten Dialogen verknüpft der Autor die ganz individuelle Liebes- und Entwicklungsgeschichte Krishans mit der aktuellen Geschichte Sri Lankas und nahezu philosophischen Gedanken (der Autor ist promovierter Philosoph). Dafür greift er auch auf altüberlieferte Gedichte und Geschichten zurück, die er geschickt und stimmig einflicht. Auch gesellschaftspolitisch relevante Dinge, wie beispielsweise der Umgang mit Frauen in der Öffentlichkeit werden thematisiert. Vielfältige Abschweifungen sind hier Programm.
Anuk Arudpragasam gelingt mit Nach Norden dadurch ein dichtes, stimmiges Bild einer eher seltener in der aktuellen Literatur betrachteten Weltgegend. Deswegen und wegen der von Hannes Meyer wunderbar übersetzten sprachlichen Schönheit stand das Buch 2021 völlig zu Recht auf der Shortlist zum Booker Prize.
Weitere Besprechungen bei Marius Buch-Haltung und Ines Letteratura
Beitragsbild via Pexels
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Anuk Arudpragasam – Nach Norden
übersetzt aus dem Englischen von Hannes Meyer
Hanser Berlin September 2022, Fester Einband, 320 Seiten, 25,00 €