Die Autorin und Fotografin Michèle Yves Pauty beweist in ihrem Debütroman Familienkörper, dass man Familiengeschichte auch ganz anders als gewohnt schreiben kann. In ihrem Text fasst sie die Familie als zusammenhängender Körper. Die Mitglieder sind ineinander verwoben, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur durch ihre Beziehungen zueinander, sondern auch durch das, was in den Familien vererbt wird. Vererbt mit Stolz oder Scham, unbewusst oder absichtsvoll, für alle deutlich oder ganz unbemerkt. Das sind Verhaltensweisen, Ansichten, Haltungen, in die machtvoll äußere Umstände wie Herkunft, Klasse, Bildung und Geschlecht hineinspielen, aber auch ganz greifbare körperliche Dinge, wie Aussehen, Körpermerkmale oder auch Krankheiten bzw. Veranlagungen dazu. Weiterlesen „Michèle Yves Pauty – Familienkörper – Kurz vorgestellt“
Kategorie: Rezensionen
Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter
2019, Norwegen war Gastland der Frankfurter Buchmesse und es erschienen ungewohnt viele norwegische Bücher in deutscher Übersetzung, las ich Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger. Ich hatte den Autor auf der Messe kurz treffen dürfen und war sehr fasziniert von der persönlichen Geschichte, die er da vorstellte. In Form einer Enzyklopädie präsentierte er die Familiengeschichte seiner Frau Rikke während und kurz nach der deutschen Besatzungszeit 1940-45. Die Familie hat jüdische Wurzeln und musste nach Schweden fliehen, um zu überleben. Nach der Rückkehr lebten sie – zuerst unwissend – in der Folterzentrale eines der übelsten Kollaborateure Norwegens. In seinem neuen Roman Museum der Mörder und Lebensretter erzählt Simon Stranger davon unabhängig ein weiteres Kapitel der düsteren Vergangenheit Norwegens der Besatzungsjahre. Und auch dafür fand er wieder eine familiäre Grundlage.
Bei Recherchearbeiten zu der Familiengeschichte seiner Frau stieß der Autor auf eine ganz unglaubliche Geschichte: Die beiden norwegischen Fluchthelfer, die die Großmutter seiner Frau, Ellen Glott, und ihre Familie 1942 sicher und ohne Lohn über die Grenze nach Schweden brachten (und dies wohl unzählige Male zuvor und danach ebenso), töteten kurz davor ein jüdisches Ehepaar, das sie begleiten sollten, und versenkten ihre Leichen in einem See. Erst Monate später trieben die mit Steinen beschwerten Leichen an die Wasseroberfläche und wurden entdeckt. Auch die Täter wurden identifiziert, verhaftet und angeklagt. Nach dem Krieg wurden die beiden Täter allerdings freigesprochen. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? Und wie dazu, dass aus zigfachen Lebensrettern, Mitgliedern des norwegischen Widerstandes, die oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens arbeiteten, brutale Mörder eines älteren Ehepaars werden konnten?
Ein Museum der Erinnerungen
Simon Stranger baut auch seinen neuen Roman auf eine ganz besondere Weise auf. War es bei Vergesst unsere Namen nicht die enzyklopädische Ordnung der Stichworte von A-Z, bilden die einzelnen Kapitel dieses Mal die Räume eines Museums nach. In ihnen sind Museumsobjekte wie Zeitungsartikel, persönliche Gegenstände, Gerichtsakten, Fotos angeordnet, an denen entlang er die Geschichte der Flucht von Ellen parallel zur Geschichte des Ehepaars Rakel und Jacob Feldmann und ihrer Ermordung erzählt. Wie in einer literarischen Reportage verfolgen wir auch die Spurensuche des Autors, seine Recherchen, seine Zweifel, seine Mutmaßungen. Natürlich kann er nicht wissen, was die Beteiligten damals gedacht, gefühlt, gesagt haben. Er füllt dies mit Fiktion.
Die Geschichte, die er erzählt, ist spannend wie ein Krimi und führt anschaulich die Zerrissenheit Norwegens während der deutschen Besatzung vor Augen. Unter Ministerpräsident Vidkun Quisling von der Nasjonal Samling wurden die (vergleichweise sehr wenigen) norwegischen Juden und Jüdinnen verfolgt, an die Deutschen ausgeliefert und deportiert. Wenn ihnen nicht die Flucht nach Schweden gelang, so wie der Familie von Simon Strangers Ehefrau. Und auch eine passende Anekdote aus seiner eigenen Familie erzählt der Autor. Eine der Quellen, die er für seine Romane studiert hat, das üble Propagandawerk „Der Untermensch“ (Umennesket), wurde von der Druckerei seines Urgroßvaters Sigurd Wahl gedruckt. Nicht zuletzt hinterfragt Stranger sich und seine Nachforschungen immer wieder selbst.
„Wer wäre ich während des Krieges gewesen, der ich als Jugendlicher so aufgeschlossen war, so offen und empfänglich für große Ideen? Hätte ich zu jenen gehört, die sich von den Strömungen dieser Zeit mitreißen ließen?“
Formal, inhaltlich und stilistisch überzeugt Simon Stranger mit seinem Museum der Mörder und Lebensretter, das mit einer Vielzahl von Schwarz-Weiß-Fotos ergänzt wird, und erhält von mir eine klare Leseempfehlung.
Beitragsbild: Syltefjord CC0 via digitaltmuseum.org
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Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter
Übersetzt von Thorsten Alms
Hardcover, 368 Seiten, € 22,00
Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe
Einen zeitgemäßen, authentischen Liebesroman, ohne aufgeblasene Gefühle, langweiliges Gefühlswirrwarr oder Überproblematisierungen und ohne Kitsch und misslungene Sexszenen – gibt es das überhaupt? Kaum, dachte ich und meide deshalb dieses Genre mittlerweile weitgehend. Hannes Köhler hat mit Zehn Bilder einer Liebe tatsächlich die Quadratur des Kreises geschafft und einen Roman über eine Liebe geschrieben, den ich nicht nur äußerst gern gelesen habe, sondern der mir auch im Nachgang noch sehr nah ist. Weiterlesen „Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe“
Alan Murrin – Coast Road
1994, ein kleine Gemeinde im irischen County Donegal, im Norden des Landes. Colette Crowley kehrt nach einer gescheiterten Flucht aus der provinziellen Enge und Kontrolle zurück nach Ardglas, in dem sie Mann und drei Söhne zurückgelassen hatte. Mit einem verheirateten Mann lebte sie eine Zeitlang in Dublin zusammen und versuchte als Dichterin und Schriftstellerin Fuß zu fassen. Die Beziehung zerbrach und der berufliche Erfolg blieb aus. Alan Murrin erzählt in seinem sehr gelungenen Debütroman Coast Road, für den er bei den Irish Book Awards 2024 als „Newcomer of the year“ ausgezeichnet wurde, wie schwer Colette diese Rückkehr nicht nur von ihrem Ex-Mann Shaun gemacht wird. Weiterlesen „Alan Murrin – Coast Road“
Jörg Hartmann – Der Lärm des Lebens – Kurz vorgestellt
Nicht schon wieder ein Roman von einem Fußballer oder Schauspieler könnte man denken. Warum bleiben die nicht bei dem was sie wirklich können, könnte man denken. Aber abgesehen davon, dass Letztere meistens zumindest gut mit Sprache umgehen können, ist es wirklich erstaunlich, wieviele richtig tolle – meist autofiktionale – Bücher von Schauspielern erscheinen. Joachim Meyerhoff, Edgar Selge, Matthias Brandt und jetzt auch Jörg Hartmann, den man vom Dortmunder Tatort als grantigen Kommissar Faber kennt, mit seinem Roman Der Lärm des Lebens. Weiterlesen „Jörg Hartmann – Der Lärm des Lebens – Kurz vorgestellt“
Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies – Kurz vorgestellt
Einen ähnlichen Ansatz für eine erzählende Biografie wie Volker Weidermann mit Mann vom Meer und von diversen anderen Autoren wie beispielsweise Florian Illies oder Uwe Wittstock verfolgt auch der Literturwissenschaftler Martin Mittelmeier mit seinem Buch zum Thomas Mann-Jubiläumsjahr Heimweh im Paradies: anhand von locker zusammengefügten Episoden aus derem Leben, literarisch erzählt, umfassend recherchiert und in kleinen intimen Einblicken leicht fiktionalisiert wird ein thematisch und/oder zeitlich begrenztes Bild einer Person (oder einer Zeit) präsentiert.
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Volker Weidermann – Mann vom Meer
Am 6. Juni 2025 wird der 150. Geburtstag Thomas Manns gefeiert. Zusammen mit der 70. Wiederkehr seines Todestags im August wird das Jahr damit zum Thomas-Mann-Jahr – fleißig beworben und medienwirksam umgesetzt. Zumindest bei mir hat das verfangen und ich habe begonnen, mich mit dem Autor, der mich mit seinen Buddenbrooks vor vielen Jahren begeistert, danach aber mit seinem Zauberberg einigermaßen ratlos (und ehrlicherweise gelangweilt) zurückgelassen hat, erneut zu beschäftigen. Ich begann mit Deutsche Hörer!, den Reden, die Mann zwischen 1942 und 1945 an ein deutsches Publikum via BBC gerichtet hat. Und war überrascht und sehr angetan davon, wie politisch und leidenschaftlich-polemisch der von mir eher als steif und kühl empfundene Autor doch war. Auch das zweite Buch, das ich mir in diesem Kontext vorgenommen habe, Mann vom Meer Thomas Mann und die Liebe seines Lebens von Volker Weidermann zeichnete ein vom Üblichen abweichendes Bild und hat mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch sehr interessante Einblicke geliefert. Weiterlesen „Volker Weidermann – Mann vom Meer“
Colum McCann – Twist
Ein Roman über einen Journalisten, der eine Reportage über die Reparatur von in der Tiefsee verlegten Glasfasern schreibt. Was am neuen Roman des irischen Autors Colum McCann vielleicht zunächst am interessantesten ist, ist, wie wenig sich der thematisch festlegen lässt und das auch mit seinem neuesten Werk Twist demonstriert. Weiterhin interessiert vielleicht, wie man als Autor auf ein derart ungewöhnliches Thema stößt. Aber das ist schnell erklärt. Die Corona-Pandemie spielt dabei eine Rolle und eine Zeitungsmeldung, die McCann zufällig entdeckte. Weiterlesen „Colum McCann – Twist“
József Debreczeni – Kaltes Krematorium, Bericht aus dem Land namens Auschwitz
Nun stehe ich also hier. Unter dem kunstvoll geschwungenen Band von „Arbeit macht frei“. Schaue entlang der Schienen auf das ikonisch gewordene Torhaus von Birkenau. Im Gepäck habe ich den Roman „Kaltes Krematorium, Bericht aus dem Land namens Auschwitz“ von József Debreczeni und geschätzt vierzig Jahre des Interesses, des Entsetzens, des ungläubigen Staunens darüber, zu welcher Grausamkeit der Mensch doch fähig ist. Ich kann mich noch sehr gut an den Tag in der Schule erinnern, als im Fach Geschichte eine Filmvorführung anstand. Filmvorführungen waren immer gut, waren Ausnahmen vom Frontalunterricht und außerdem bestanden immer gute Chancen, dass die Videorekorder-TV-Anbindung mal wieder nicht zu den Kernkompetenzen der Lehrkraft gehörte und die Stunde allein mit technischen Problemlösungen vorbeiging. Weiterlesen „József Debreczeni – Kaltes Krematorium, Bericht aus dem Land namens Auschwitz“
Liz Moore – Der Gott des Waldes – Kurz vorgestellt
In einem wilden Waldgebiet in den Adirondeck Mountains nördlich von New York besitzt die wohlhabende Familie Van Laar nicht nur eine prächtige Sommerresidenz, sondern betreibt in dem Naturpark seit Jahrzehnten auch ein Sommerlager für junge Menschen. In der Natur sollen die Kinder und Jugendlichen ihre Überlebensfähigkeiten trainieren, Gemeinschaft erleben und die langen Sommerferien überbrücken. Diese Lageraufenthalte gehören für Generationen von amerikanischen Kindern zum Sommer dazu – mal geliebt, mal gefürchtet und gehasst. Doch was Liz Moore in ihrem neuen spannenden Roman Der Gott des Waldes aus einem solchen Ferienaufenthalt macht, ist wahrlich nervenzerreibend, auch für die Lesenden.
1975 – Barbara, die 13-jährige Tochter der Van Laars, nimmt auf eigenen Wunsch und gegen den Willen der Eltern erstmals auch am Lagersommer teil. Barbara ist ein schwieriger Teenager, kleidet sich entgegen der Mode der 70er punkig, eckt an, verträgt sich besonders mit ihrer Mutter nicht. In der Campleiterin T.J. Hewitt, von den Kindern respektiert und angehimmelt, hat sie schon lange eine schwesterliche Freundin, kennen die beiden sich doch schon lange, da T.J.s Vater zuvor schon in Diensten der Van Laars. In letzter Zeit wurde er ein wenig wunderlich und hat die Leitung des Camps an seine Tochter übertragen. Auch Barbaras Bettnachbarin Tracy wird sehr bald zu einer guten Freundin. Doch eines Morgens ist Barbaras Bett leer und das Mädchen spurlos verschwunden. Eine fieberhafte Suche beginnt.
Wechselnde Perspektiven und Zeitebenen
Die Betreuerin Louise und ihre Assistentin Annabel verlassen hin und wieder nachts ihre Betten, um sich auch ein wenig Vergnügen zu gönnen. In dieser Nacht waren beide unterwegs und sagen nicht die ganze Wahrheit. Aber auch Tracy und T.J. scheinen etwas zu verschweigen. Und die ganze Familie Van Laar benimmt sich merkwürdig. Vor vierzehn Jahren verschwand bereits der fünfjährige Sohn Bear aus dem Sommercamp und tauchte nie wieder auf. Auch damals gab es viele Fragen und Unstimmigkeiten. Ein Dorfbewohner starb an einem Herzanfall. Danach wurde er verdächtigt. Und was hat der unlängst aus der Haft geflohene „Schlitzer“, der sich Gerüchten nach in der Nähe aufhält, mit der Sache zu tun? Mit der jungen Ermittlerin Judyta, schaltet sich auch die Polizei ein.
In ständig wechselnden Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen von 1950 bis 1975 beobachten wir das Geschehen, alle Protagonist:innen haben ein etwas anderes Wissen, das erst langsam enthüllt wird. Mit vielen gelungenen Cliffhangern hält Liz Moore die Leser:innen von Der Gott des Waldes über die nicht unbedeutende Lesestrecke bei der Stange. Es geht ihr dabei nicht nur um die Vermisstenfälle, sondern auch um ungute Familiendynamiken, Lieblosigkeit, Misogynie, soziale Ungleichheiten und Coming of age. Das ist sehr gut konstruiert und geschrieben. Und auch wenn das Ende mich nicht völlig überrascht hat und gern noch etwas offener hätte sein dürfen, schließt es die fast 600 Seiten zufriedenstellend ab. Ein Krimi, der weit mehr als nur das ist, oder aber genau das ist, was einen guten Krimi ausmacht: ein scharfes, genaues Gesellschaftsbild.
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Liz Moore – Der Gott des Waldes
Aus dem Englischen von Cornelius Hartz.
C.H.Beck Februar 2025, 590 Seiten, Hardcover, € 26,00