LiteraturReich https://literaturreich.de/ Ein Literaturblog Thu, 28 Sep 2023 10:38:43 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.1 https://literaturreich.de/wp-content/uploads/2017/03/cropped-screenshot-05-03-2017-16_17_25-2-32x32.png LiteraturReich https://literaturreich.de/ 32 32 164610390 Lektüre August 2023 https://literaturreich.de/2023/09/28/lektuere-august-2023/ https://literaturreich.de/2023/09/28/lektuere-august-2023/#respond Thu, 28 Sep 2023 10:38:43 +0000 https://literaturreich.de/?p=17141 Ist der Juli-Überblick spät, dann kann auch der August nicht pünktlich sein. Der Vollständigkeit halber hier noch der Überblick über die Lektüre im August 2023, der auch mein Urlaubsmonat war. Ich hoffe, dass ich die… Mehr

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Ist der Juli-Überblick spät, dann kann auch der August nicht pünktlich sein. Der Vollständigkeit halber hier noch der Überblick über die Lektüre im August 2023, der auch mein Urlaubsmonat war. Ich hoffe, dass ich die Lektüreüberblicke wieder etwas geordneter hinbekomme. gelesen sind die bücher ja schon lange und von den meisten auch schon die Rezensionen geschrieben. Nur bei den Zusammenfassungen habe ich ein wenig geschludert…

 

johanna-sebauer-nincshofJohanna Sebauer – Nincshof

Mein erstes Augustbuch war gleich eine ziemliche Enttäuschung für mich. Von vielen Leser:innen geliebt, ist mir hier der Blick auf ein kleines, abgelegenes Dorf im Burgenland und Teile seiner Einwohner:innen, die es gern dem Vergessen anheimgeben wollen, weil sie nicht mehr von all den Widrigkeiten und Vorschriften von draußen, von „denen da oben“ gegängelt werden möchten, zu harmlos, zu gewollt schrullig-nett, zu wenig soziologisch oder politisch reflektiert. Ein leichter, niemandem weh tuender Roman, der mir wenig gegeben hat. Kann man, muss man aber nicht lesen.

 

Deborah Levy - AugustblauDeborah Levy – Augustblau

Mein zweites Buch hat mich dagegen sehr positiv überrascht, war ich bisher nicht so ganz überzeugt von der auch von sehr vielen hochgeschätzten Deborah Levy. Weder Heim schwimmen noch Heiße Milch konnten mich überzeugen. Aber Augustblau war für mich ein Volltreffer.

 

 

„Vielleicht tue ich das.
Vielleicht tust du was?
Nach Gründen suchen, um zu
leben.“

„Vielleicht bin ich es.
Vielleicht bist du was?
Niedergeschlagen.“

Die Starpianistin Elsa Miracle Anderson ist ein Wunder(kind) am Piano und wundersam ist Deborah Levys Roman, der sie an einem zutiefst erschütterten Zeitpunkt ihres Lebens antrifft. Bei einem Auftritt in Wien verpatzt sie Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert, flieht von der Bühne und tingelt zukünftig durch Europa von einer Privatlehrerinnenstelle zur nächsten. Ihre Identität ist erschüttert, wer sie ist, wer ihre unbekannte Mutter war, wie ihr Verhältnis zu ihrem Adoptivvater, Lehrer, Förderer Arthur Goldstein war und ist.
Eine rätselhafte Doppelgängerin zieht sie in ihren Bann und ist doch wohl nur ein Alter Ego, mit dem sie in Dialog (siehe oben) tritt. Ihre Kindheit kehrt in Traumbildern zurück.
Deborah Levy hält alles in der Schwebe, ihr Buch voller traumhafter Magie und voller Verweise, denen zu folgen ein Riesenvergnügen ist, ob Trilby hat oder Rachmaninoffs Konzert. Nichts ist zufällig, alles hochintelligent, atmosphärisch und berührend. Traumhaft auch die Gestaltung im Aki Verlag, übersetzt von Marion Hertle.

 

Julie Otsuka - Solange wir schwimmenJulie Otsuka – Solange wir schwimmen

Weiter ging es mit einem ganz wunderbaren Roman, der für mich allerdings ein bisschen Anlaufzeit brauchte. Julie Otsuka hat 12 Jahre nach ihrem Erfolg mit Wovon wir träumten (Das ich allen, die es noch nicht kennen wärmstens empfehle) einen neuen feinen und formal toll gebauten Roman geschrieben.
Ein unterirdisches Schwimmbad und seine Besucher, vorwiegend Stammgäste, darunter Alice, die am Beginn einer Demenz steht. Die Perspektive wechselt vom Wir, das langsam „Risse“ (so eines der Kapitel, mit dem ich aus formalen Gründen ein wenig gehadert habe) bekommt, über die personale Perspektive zu der kollektiven eines Pflegeheims zur ganz persönlichen Du-Perspektive der Tocher Alices, die zwischen Distanz und Nähe, zwischen Selbstvorwürfen und Zuwendung über die langsam verschwindende Mutter nachdenkt. Mich hat das Buch unglaublich stark berührt, kam mir sehr nah, hat mich sprachlich und formal sehr überzeugt.

 

susan-choi-vertrauensuebungSusan Choi – Vertrauensübungen

Noch längeren Anlauf brauchte meine Begeisterung für den National Book Award gekrönten Roman von Susan Choi. Der erste, längste Teil, der eine typisch amerikanische Coming-of-age-Geschichte an einer Eliteschule mit Schwerpunkt Darstellende Kunst erzählt, konnte mich nicht von sich und seinen Protagonisten überzeugen. Wäre da nicht der Augenmerk auf eine ziemlich perfide Art von Missbrauch, wäre ich vielleicht nicht am Ball geblieben. Aber das machte die Geschichte dann doch interessant.
Und dann, die Hälfte des Buchs liegt bereits hinter uns, bricht der Text ziemlich abrupt ab. Die Perspektive wechselt und es wird deutlich, was Choi mit ihrem Roman eigentlich will. Er wird zu einer echten Vertrauensübung zwischen Autorin und Lesenden, es kommt nochmal zu einem Perspektivwechsel. Und das ist ziemlich genial und lohnt die Lektüre unbedingt. Für alle, die das Buch noch nicht gelesen haben, habe ich nicht so viel verraten, denn Spoiler wären hier schade.

 

Eva Reisinger - Männer tötenEva Reisinger – Männer töten

Die fünfte Autorin in Folge im August. Unter dem herrlich zweideutigen Titel Männer töten veröffentlicht die österreichische Journalistin und Sachbuchautorin Eva Reisinger ihren ersten Roman und wurde dafür gerade für den Österreichischen Debütpreis 2023 nominiert. Weil die ständigen Berichte und Reportagen über Femizide anscheinend nicht wirklich eine Veränderung bringen, suchte Reisinger einen neuen Weg der Aufklärung, Bewusstmachung und Anklage. Männer töten ist ihre Antwort darauf. Sie ist wütend, konsequent und doch sehr unterhaltsam und österreichisch-humorig. Allein die Verschiebung zu Frauen als Täterinnen anstatt als Opfer, wie wir das in so vielen Krimis, Thrillern, Romanen gewohnt sind, schafft ein positives Aufmerken und Bewusstwerden. Das ist zunächst lobenswert und dem Roman sind allein deswegen viele Leser:innen zu wünschen, gerade auch männliche. Und Bücher über gelebte Frauensolidarität und die Utopie einer Welt ohne Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Menschen kann es gar nicht genug geben. Mir war die Geschichte im Verlauf aber dann leider doch ein wenig zu flach, die Charaktere wie beispielsweise das lesbische Brautpaar oder die couragierte (katholische!) Pfarrerin zu sehr Abziehbilder, als dass mich das Buch trotz der großen Sympathie dafür literarisch wirklich überzeugen konnte. Wer allerdings ein leichtes, heiteres Buch mit Substanz sucht, ist hier vielleicht genau richtig. Und den Österreichischen Debütpreis hat das Buch auf jeden Fall (schon allein wegen des Titels!) verdient. Ich drücke die Daumen.
Zu erwähnen ist unbedingt noch die wirklich sehr schöne Gestaltung des Leykam Verlags, die das Buch zu einem wirklichen Schmuckstück macht: poppig-buntes, grafisches Cover mit Golddruck und schwarz-weißer Buchschnittverzierung.

 

Drago Jančar – Als die Welt entstand

Slowenien ist dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Höchste Zeit also ein Buch eines seiner bedeutendsten Autoren zu lesen. Mit Als die Welt entstand ist Drago Jančar ein auch sehr stimmig von Erwin Köster übersetzter, meisterhafter Roman sowohl über das Aufwachsen in einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft als auch über die in vielen osteuropäischen Ländern noch nicht wirklich stattgefundene Auseinandersetzung mit den Kriegsjahren, der Besatzung, der sozialistischen Republik und der 1991 erfolgten Unabhängigkeit gelungen. Eine ausführliche Besprechung und eine Vorstellung neuer slowenischer Literatur erscheint hier auf dem Blog in Kürze.

 

bastian-kresser-als-mir-die-welt-gehoerteBastian Kresser – Als mir die Welt gehörte

Das Erstaunliche ist, dass es diesen Victor Lustig wirklich gab. Der 1890 geborene Lustig war österreich-ungarischer Herkunft, von großer Intelligenz und umfassender Ausbildung. Er sprach fünf Sprachen. Dass er mit 22 Jahren bereits 5x im Gefängnis sitzen, sich etliche fiktive Identitäten zulegen und auf Überseedampfern Geld mit Betrügereien bei Glücksspielen machen sollte, war in keiner Weise vorgezeichnet oder vorhersehbar. In die Geschichte ging er schließlich ein als „der Mann, der den Eiffelturm verkaufte“. Und das gleich zwei Mal. Seine überraschende Geschichte erzählt der österreichische Autor Bastian Kresser auf so unterhaltsame wie spannende Weise.
Mit viel Freude am Detail lässt er den Trickbetrüger und Hochstapler aus seinem Leben erzählen, von seiner Jugend, den aufregenden Jahren in Frankreich und den USA bis zu seinem atemberaubenden Coup um das Wahrzeichen von Paris und seinen Gefängnisjahren in Alcatraz, wo ihn eine Art Freundschaft mit dem berühmten Gangsterboss Al Capone verband. Die Fakten sind genau recherchiert, aber natürlich lässt sich Autor Kresser daneben genug Freiheit, seine Geschichte fesselnd und überraschend zu erzählen.

 

Jan Costin Wagner - Einer von den GutenJan Costin Wagner – Einer von den Guten

Jan Costin Wagner hat mit Einer von den Guten einen dritten Roman über den Ermittler Ben Neven geschrieben, der am Ende zwar auch fast alles in der Schwebe lässt, aber dennoch einen zufriedenstellenden Abschluss der Reihe bildet.
Am Ende von Teil zwei hat Ben Neven seine eigenen pädophilen Neigungen, denen er zunächst nur im Internet folgt, zunehmend nicht mehr unter Kontrolle. Ben Neven steht auf der Kippe, ist kräftig angeschlagen.
Kurze, schmucklose Sätze, knappe Dialoge und vieles, was nur angedeutet wird – der typische Sound von Jan Costin Wagner herrscht auch in Einer von den Guten. Am Ende löst sich nichts auf, die Sicht auf Hauptprotagonist Ben Neven wird noch problematischer. Vermutlich wird er sich weiterhin einreden einer von den Guten zu sein.

 

Viktor Funk - BienenstichViktor Funk – Bienenstich

Der Ich-Erzähler kam als Zehnjähriger mit seinen Eltern aus Kasachstan und wurde mit einem Stück Bienenstich begrüßt. Das Streben nach Integration und danach, in Deutschland wirklich zuhause zu sein, bestimmt seitdem das Leben der Familie. Nicht auffallen, perfekt Deutsch sprechen, alle Erwartungen erfüllen, keine Relikte aus der alten Heimat mit sich herumschleppen – das gelingt ihm zunächst auch sehr gut. Aber auch wenn er sich nach außen gut integriert, zweifelt der Ich-Erzähler oft. Hat er nicht zu viel von sich selbst aufgegeben, die von ihm erwarteten Rollen zu gut ausgefüllt, sein altes Ich verraten, wie ihm später seine Freundin Marie, die aus Rumänien stammt und der das Eingliedern in die deutsche Gesellschaft nicht ganz so leicht von der Hand geht, vorwirft? Bienenstich ist ein Buch über die Suche nach Identität und über scheiternde Beziehungen, über unterschiedliche Ansätze, als Migrant:in in Deutschland anzukommen, über Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Zugehörigkeit. Der Ich-Erzähler und der Autor teilen sich einige biografische Eckpunkte.

 

birgit-mattausch-bis-wir-wald-werdenBirgit Mattausch – Bis wir Wald werden

Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort oder sogar als eine Art Protagonist. Meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Autorin Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte.
Hauptfiguren in Bis wir Wald werden sind Nanush und ihre Urgroßmutter Babulya. Mit der noch ganz kleinen Nanush ist Babulya einst aus Sibirien nach Deutschland ausgereist und über das Sammellager Friedland schließlich im Hochhaus am Waldrand gelandet. Nun ist Babulya sehr alt und Nanush lebt schon längst in einer eigenen Wohnung ganz oben, die Bindung zwischen beiden ist aber weiterhin sehr eng. Die alte Frau ist auch irgendwie die gute Seele der vorwiegend russlanddeutschen Hausgemeinschaft. Warum sie einst nur mit ihrer Urenkelin emigriert ist, was mit Nanushs Mutter ist (vermutlich tot) oder mit deren Mutter, Babulyas Tochter (vermutlich stramm russlandtreu) lässt Birgit Mattausch ein wenig in der Schwebe. Wie sie so manches zwischen den Zeilen unausgesprochen lässt.
Sehr feinfühlig, poetisch, leise schreibt Birgit Mattausch über diese ganz besondere Hausgemeinschaft, über die Geschichte, die Geschichte der Russlanddeutschen. Nie belehrend, sondern so, dass man gern mehr darüber erfahren möchte, nachschlägt, googelt. Und sehr zart schreibt sie über die starke Bindung zwischen Urgroßmutter und Urenkelin, über das bevorstehende Abschiednehmen und das langsame Verlöschen eines geliebten Menschen. Ein sehr schönes Buch, eine Entdeckung!

 

 

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Karen Gershon – Das Unterkind https://literaturreich.de/2023/09/25/karen-gershon-das-unterkind/ https://literaturreich.de/2023/09/25/karen-gershon-das-unterkind/#respond Mon, 25 Sep 2023 15:12:27 +0000 https://literaturreich.de/?p=17115 Schon sehr früh fühlt sich die kleine Käthe Löwenthal (der Geburtsname von Karen Gershon) als das Unterkind der wohlhabenden jüdischen Familie aus Bielefeld. Die beiden Schwestern, die sehr bewunderte Anne und die vielgeliebte Lise sind… Mehr

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Schon sehr früh fühlt sich die kleine Käthe Löwenthal (der Geburtsname von Karen Gershon) als das Unterkind der wohlhabenden jüdischen Familie aus Bielefeld. Die beiden Schwestern, die sehr bewunderte Anne und die vielgeliebte Lise sind zwei bzw. ein Jahr älter. Und schon seit jüngsten Jahren

„hetzt (sie) sich ab, physisch, aber auch im übertragenen Sinn, um ihre Schwestern einzuholen. Die Tatsache, dass es ihr nie gelang, hat sie wohl zu der Überzeugung gebracht, ein Unterkind zu sein, und das schon vor ihrem zehnten Lebensjahr, in dem die Nazis an die Macht kamen.“

Um wieviel mehr wird sich dieses Gefühl nach dem Januar 1933 festsetzen, als jüdische Mitbürger:innen nach und nach immer mehr aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden, die Repressionen immer mehr zunehmen und die systematische Verfolgung beginnt. Sowohl Käthe als auch ihre beiden Schwestern können 1938 mit einem der letzten Kindertransporte nach England entkommen. Die 1923 geborene Käthe bleibt mit einer Zwischenstation in Israel in Großbritannien und veröffentlicht dort Lyrik, Prosa und ihr bekanntestes Werk, die „kollektive Autobiografie“ Wir kamen als Kinder. Wie ihre Tochter Naomi Shmuel in ihrem Nachwort schreibt, hat Karen Gershon lange nach einer Form für eine Autobiografie gesucht, bis 1992 Das Unterkind zunächst auf Deutsch, 1993 kurz nach Karens Tod auch auf Englisch erschien.

Käthe Löwenthal

Gershon wählt darin eine distanzierte Erzählhaltung, berichtet von sich als Käthe in der dritten Person. In einer etwas spröden Sprache und mit einem strengen und unerbittlichen Blick vor allem auch auf sich selbst erzählt sie von ihrer glücklichen Kindheit in wohlhabenden Kreisen in Bielefeld. Der Großvater war Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, der Vater Paul erfolgreicher Architekt, beide nicht religiös, sich vollkommen als Deutsche fühlend. Paul war zudem verdienter Teilnehmer am Ersten Weltkrieg. Wie in vielen assimilierten jüdischen Familien kann man sich nicht vorstellen, jemals einer direkten Verfolgung ausgesetzt zu sein, auch nicht als sich die Lage immer weiter verschärft.

Paul bekommt bald keine Aufträge mehr, muss die Familie durch Gelegenheitsarbeiten ernähren, der Großvater wird aus fadenscheinigen Gründen verhaftet. Zumindest die drei Schwestern schicken die Eltern in von der zionistischen Bewegung geführte Lager, die sie auf ihre Ausreise nach Israel vorbereiten sollen. Dazu kommt es allerdings nicht mehr. Die Lage verschärft sich derart, dass die Mädchen mit einem der letzten Kindertransporte nach England fliehen. Für ältere Menschen ist eine Ausreise, auch nach Israel, bereits nicht mehr möglich. In Neben- oder Halbsätzen erzählt Karen Gershon über das weitere Schicksal der Menschen, von denen sie in Das Unterkind erzählt.

„Hete und Max Sieger kamen nach Theresienstadt, wo er starb. Sie wurde von dort nach Ausschwitz deportiert und hat nicht überlebt.“

Erschütterndes Zeitdokument

Kurz und knapp, fast nüchtern erzählt Karen Gershon ihre Familiengeschichte. Und macht das Erzählte dadurch fast noch eindringlicher. Auch die Eltern Paul und Selma überleben nicht. Sie werden frühe Opfer der Willkür. Eigentlich noch geschützt wegen Pauls Teilnahme am Ersten Weltkrieg, gelangen ihre Namen nur zur Erfüllung des „Deportations-Solls auf die Liste“, weil ein eingeplantes Ehepaar in der Nacht zuvor Selbstmord verübt hat. Es gibt auch (wenige) Deutsche, die den Nazis kritisch gegenüberstehen. Wie der Mann, der den abreisenden Mädchen den Koffer tragen will und ihnen zuruft. „Nicht alle Deutsche sind mit dem einverstanden, was  in unserem Namen euch Juden angetan wird.“ Das Unterkind ist ein erschütterndes Zeitdokument.

Aber es ist noch mehr. Es ist der Bericht über das Aufwachsen in einer modernen, gutsituierten jüdischen Familie. Nicht in Berlin oder einer anderen Metropole, sondern in Bielefeld. Es ist die Geschichte von schwesterlichen Rivalitäten, Jungmädchenträumen, ersten Verliebtheiten – denn das alles passiert natürlich auch, ganz abseits aller verhängnisvollen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dabei ist Gershons Blick auch sehr präzise auf ihre jugendlichen Gefühle gerichtet, die sie keineswegs schönt. Die Rivalität besonders zur selbstbewussten Anne, die milde Verachtung der ihr ergebenen Lise, die Distanz zum Vater, die Kritik an der Mutter. Lange fühlt sie sich von den Eltern verstoßen, weil sie sie nach England geschickt haben. Ein Vergeben gelingt ihr erst viel später. Begleitet wird alles durch die „Schuld“ überlebt zu haben. Es ist ein Verdienst des Lilienfeld Verlags, das lange Zeit vergriffene Buch als wichtiges Zeitdokument in einer Neuausgabe in der bewährten Übersetzung durch Sigrid Daub wieder verfügbar zu machen.

 

Eine weitere Buchbesprechung findet ihr bei Birgit Böllinger

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Karen Gershon - Das Unterkind.

Karen Gershon – Das Unterkind
Mit einem Nachwort von Naomi Shmuel
Aus dem Englischen von Sigrid Daub
Lilienfeld Verlag, gebunden, Fadenheftung, 312 Seiten,€ 24,00,

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Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden https://literaturreich.de/2023/09/21/birgit-mattausch-bis-wir-wald-werden/ https://literaturreich.de/2023/09/21/birgit-mattausch-bis-wir-wald-werden/#respond Thu, 21 Sep 2023 09:14:15 +0000 https://literaturreich.de/?p=17109 Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort und sogar als eine Art Protagonist – das ist jetzt nicht unbedingt ganz neu. Bei der Lektüre von Bis wir Wald werden von Birgit Mattausch musste ich häufig an Karosh… Mehr

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Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort und sogar als eine Art Protagonist – das ist jetzt nicht unbedingt ganz neu. Bei der Lektüre von Bis wir Wald werden von Birgit Mattausch musste ich häufig an Karosh Tahas Beschreibung einer Krabbenwanderung denken. Und erst vor kurzem erschien der US-amerikanische Bestseller Kaninchenstall von Tess Gunty, der im gleichnamigen Wohnkomplex angesiedelt ist. Aberso unterschiedlich Häuser und darin lebende Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Romane. Meist sind es die eher einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die im Hochhaus wohnen, viele Migrant:innen und ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel, die die Annehmlichkeiten wie Aufzug, Ebenerdigkeit etc. zu schätzen wissen. Aber meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte.

Nanush und Babulya

Hauptfiguren in Bis wir Wald werden sind Nanush und ihre Urgroßmutter Babulya. Mit der noch ganz kleinen Nanush ist Babulya einst aus Sibirien nach Deutschland ausgereist und über das Sammellager Friedland schließlich im Hochhaus am Waldrand gelandet. Nun ist Babulya sehr alt und Nanush lebt schon längst in einer eigenen Wohnung ganz oben, die Bindung zwischen beiden ist aber weiterhin sehr eng. Die alte Frau ist auch irgendwie die gute Seele der vorwiegend russlanddeutschen Hausgemeinschaft. Warum sie einst nur mit ihrer Urenkelin emigriert ist, was mit Nanushs Mutter ist (vermutlich tot) oder mit deren Mutter, Babulyas Tochter (vermutlich stramm russlandtreu) lässt Birgit Mattausch ein wenig in der Schwebe. Wie sie so manches zwischen den Zeilen unausgesprochen lässt.

Familie sind für Nanush die Bewohner des Hochhauses, manche weniger, wie beispielsweise die Baptistenfamilien mit ihren hauchdünnen Kopftüchern oder das Hausmeisterehepaar Rappard, andere mehr, wie ihr Onkel Wladi mit den politisch nicht ganz korrekten Ansichten, ihre Altersgenoss:innen Vitali, Nelli und der ins Drogenmilieu abgerutschte Gregorij und Oma Elsa mit dem Deutsch aus dem 18. Jahrhundert, weil sie nie richtig Russisch und schon gar nicht Hochdeutsch gelernt hat. Ihr „Dialekt“ ist sehr stimmungsvoll getroffen. Und so schwätzen sie alle, diskutieren, kochen viel, sind sich nah. Sie alle haben die gleiche familiäre Vergangenheit, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als „Deutsche“ umgesiedelt, verfolgt, drangsaliert.

Fascisti

„Jetzt waren wir die Russen. Die ersten dreißig Jahre etwa waren wir das. Bis einige von uns anfingen, eine Partei zu wählen, die kein Problem hatte mit Fascisti, Putin und dem Gedanken, dass der deutsche Boden mehr war als Asphalt und Wiese. Wir wurden russische Fascisti oder: faschistische Russen oder: die, die man aufgenommen hat wegen eines deutschen Schäferhundes im Stammbaum und die jetzt …

Wie können sie so dumm sein und die wählen! (Ich. Zu Vitali. Zu Babulya. Zu Nelli. Oma Elsa.)

Lass die Männr ieber Palietijk rede, Nanushka! (Oma Elsa)

Haben wir noch Tee im Haus, Kätzchen? Geh schauen für mich. (Babulya)

Weil sie alles glauben, was auf Facebook steht. (Nelli)

Ach, Nanush, du kennst sie doch. (Vitali)

Nicht alle sind so. (Lilli)

Onkel Wladi frage ich nicht. Ich will die Antwort nicht hören“

Babulya ist nicht nur für Nanush das Zentrum dieser Gemeinschaft. Aber nun wird sie immer schwächer, blasser, ein bisschen tüddelig. Aber immer noch erzählt sie ihre Geschichten. Geschichten von der Weite Sibiriens, vom Wald, von den Tieren und ihrem im Krieg gebliebenen Mann. Magisch sind manche Geschichten. Und ein wenig Magie lässt Birgit Mattausch auch durch Bis wir Wald werden hindurchwehen. So sitzt an der Bushaltestelle vor dem Hochhaus stets die Frau mit dem roten Kopftuch, die meistens schweigt, für viele Bewohner aber eine Art Hafen, eine Anlaufstelle darstellt. Ein wenig ist sie die weise Alte aus dem Märchen, die gute Fee, die Zauberin.

Sehr feinfühlig, poetisch, leise schreibt Birgit Mattausch über diese ganz besondere Hausgemeinschaft, über die Geschichte, die Geschichte der Russlanddeutschen. Nie belehrend, sondern so, dass man gern mehr darüber erfahren möchte, nachschlägt, googelt. Und sehr zart schreibt sie über die starke Bindung zwischen Urgroßmutter und Urenkelin, über das bevorstehende Abschiednehmen und das langsame Verlöschen eines geliebten Menschen. Ein sehr schönes Buch, eine Entdeckung!

 

Beitragsbild via pxhere


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Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden
Klett-Cotta August 2023, 176 Seiten, gebunden, € 20,00

 

 

 

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Viktor Funk – Bienenstich https://literaturreich.de/2023/09/18/viktor-funk-bienenstich/ https://literaturreich.de/2023/09/18/viktor-funk-bienenstich/#respond Mon, 18 Sep 2023 09:49:12 +0000 https://literaturreich.de/?p=17097 „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“, so beginnt der Debütroman von Viktor Funk und war auch so betitelt, als er 2017 im damals noch existierenden Frankfurter Größenwahn Verlag erschien. Der fast durchgehend… Mehr

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„Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“, so beginnt der Debütroman von Viktor Funk und war auch so betitelt, als er 2017 im damals noch existierenden Frankfurter Größenwahn Verlag erschien. Der fast durchgehend namenlos bleibende Ich-Erzähler (erst ziemlich am Ende wird er mit Herr Bellen angesprochen) erzählt darin von seiner Jugend, der Emigration nach Deutschland, aber vor allem von seinen Beziehungen zu Frauen und seinem Jugendfreund Mark.

Als Zehnjähriger kam er mit seinen Eltern aus Kasachstan und das Streben nach Integration und danach, in Deutschland wirklich zuhause zu sein, bestimmt seitdem das Leben der Familie. Nicht auffallen, perfekt Deutsch sprechen, alle Erwartungen erfüllen, keine Relikte aus der alten Heimat mit sich herumschleppen – das gelingt ihm zunächst auch sehr gut. Dass er blauäugig und hellhaarig ist, kommt ihm da sicher zugute. Trotzdem fühlt sich die Familie und besonders der Ich-Erzähler unsicher, immer wieder hin und her gerissen zwischen der Gemeinde der Russlanddeutschen und den neuen Mitbürgern. Gerade die Älteren sind dem neuen Leben oft nicht gewachsen.

„In Deutschland, glaubten sie, würden sie und ihre Kinder selbst über ihr Leben bestimmen. Nur hatten sie das selbst nie gelernt und konnten das auch in Deutschland ihren Kindern nicht beibringen. Die neue Freiheit überforderte uns.“

Auch wenn er sich nach außen gut integriert, zweifelt der Ich-Erzähler oft. Hat er nicht zu viel von sich selbst aufgegeben, die von ihm erwarteten Rollen zu gut ausgefüllt, sein altes Ich verraten, wie ihm später seine Freundin Marie, die aus Rumänien stammt und der das Eingliedern in die deutsche Gesellschaft nicht ganz so leicht von der Hand geht, vorwirft?

„Ich konnte noch immer nicht sagen, wer oder was ich bin. Ich wusste nur, dass ich viel zu lange viel zu viele Rollen gespielt hatte. Die meisten hatte ich ohne Gegenwehr angenommen. Ich hatte sie angenommen, weil ich dachte, diese oder jene Rolle werde von mir erwartet. Von meinen Lehrern, von meinen Kommilitonen, von meinen Kollegen. Und von Marie.“

Mark und Marie

Mit Marie verbindet ihn eine nicht immer ganz einfache, aber tiefe Beziehung. Am Ende scheitert sie aber genauso wie die zu seiner früheren deutschen Freundin Karina. Vielleicht zerbricht sie daran, dass Marie noch nicht so sesshaft ist, sich noch nicht angekommen fühlt, mehr von ihrem Leben verlangt und der neuen Heimat weitaus kritischer gegenübersteht als der Ich-Erzähler.

Zu Mark, den er schon bald nach seiner Immigration im Schwimmverein kennenlernt und der seine Liebe zum Angeln teilt, verbindet ihn eine stabile Freundschaft. Mark ist für mich der interessanteste Charakter, den Viktor Funk in Bienenstich geschaffen hat. Ihm geht in Kindheit und Jugend alles scheinbar leicht von der Hand. Eine sichere Existenz gibt er aber für ein Entwicklungsprojekt in Burundi auf. Dort will er jugendlichen Waisen eine Zukunft bieten, startet ein Geschäftsmodell mit Solarmodulen. Was aber so idealistisch und erfolgreich gestartet ist, scheitert an den Gegebenheiten vor Ort, an wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, der Mentalität der Menschen, die Mark nicht ausreichend einkalkuliert hat.

Die Suche nach Identität

Bienenstich ist ein Buch über die Suche nach Identität und über scheiternde Beziehungen, über unterschiedliche Ansätze, als Migrant:in in Deutschland anzukommen, über Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Zugehörigkeit. Der Ich-Erzähler und der Autor teilen sich einige biografische Eckpunkte und ganz sicher auch die Liebe zum Angeln. Für mich, die ich dazu gar keinen Draht habe, waren die manchmal doch etwas ausführlichen Passagen dazu ebenso eine Herausforderung wie die sich etwas zu intensiv um die Beziehung zu Marie drehenden Passagen. Jedes Mal gelingt es Viktor Funk aber, wieder zum Kern seiner Geschichte zurückzukommen, zu dem nun mal auch das Angeln und natürlich die nicht ganz unproblematische Beziehung zu Marie gehören. Ich mochte das Buch gern und es ist sehr zu begrüßen, dass der Verbrecher Verlag eine leicht bearbeitete Neuauflage von Bienenstich nach dem wirklich sehr beeindruckenden Wir verstehen nicht, was geschieht von Viktor Funk veröffentlicht hat.

 

Beitragsbild by Gourmandise (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr

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Viktor Funk - Bienenstich.

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Viktor Funk – Bienenstich
Verbrecher Verlag August 2023, Hardcover, 224 Seiten, 22,00 €

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Bastian Kresser – Als mir die Welt gehörte https://literaturreich.de/2023/09/15/bastian-kresser-als-mir-die-welt-gehoerte/ https://literaturreich.de/2023/09/15/bastian-kresser-als-mir-die-welt-gehoerte/#respond Fri, 15 Sep 2023 10:30:51 +0000 https://literaturreich.de/?p=17079 Das Erstaunliche ist, dass es diesen Victor Lustig wirklich gab. Der 1890 geborene Lustig war österreich-ungarischer Herkunft, von großer Intelligenz und umfassender Ausbildung. Er sprach fünf Sprachen. Dass er mit 22 Jahren bereits 5x im… Mehr

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Das Erstaunliche ist, dass es diesen Victor Lustig wirklich gab. Der 1890 geborene Lustig war österreich-ungarischer Herkunft, von großer Intelligenz und umfassender Ausbildung. Er sprach fünf Sprachen. Dass er mit 22 Jahren bereits 5x im Gefängnis sitzen, sich etliche fiktive Identitäten zulegen und auf Überseedampfern Geld mit Betrügereien bei Glücksspielen machen sollte, war in keiner Weise vorgezeichnet oder vorhersehbar. In die Geschichte ging er schließlich ein als „der Mann, der den Eiffelturm verkaufte“. Und das gleich zwei Mal. Seine überraschende Geschichte erzählt der österreichische Autor Bastian Kresser auf so unterhaltsame wie spannende Weise in seinem Roman Als mir die Welt gehörte.

Und warnt gleich zu Beginn:

„Glauben Sie mir kein Wort.“

Das passt natürlich zu seinem Ich-Erzähler Lustig, der seinerseits konstatierte:

„Ich kann ehrliche Menschen nicht verstehen. Sie führen ein hoffnungslos langweiliges Leben.“

Langweilig ging es nun wirklich nicht zu bei Victor Lustig, und zur Freude der Leser:innen auch nicht bei Bastian Kresser. Mit viel Freude am Detail lässt er den Trickbetrüger und Hochstapler aus seinem Leben erzählen, von seiner Jugend, den aufregenden Jahren in Frankreich und den USA bis zu seinem atemberaubenden Coup um das Wahrzeichen von Paris und seinen Gefängnisjahren in Alcatraz, wo ihn eine Art Freundschaft mit dem berühmten Gangsterboss Al Capone verband. Die Fakten sind genau recherchiert, aber natürlich lässt sich Autor Kresser daneben genug Freiheit, seine Geschichte fesselnd und überraschend zu erzählen.

Victor Lustig bei seiner Vernehmung 1935
Victor Lustig bei seiner Vernehmung 1935
Ein abenteuerliches Leben

Bereits dem kleinen Victor war seine Heimat im böhmischen Arnau zu eng. Seine Großmutter wies ihm den Weg zum Erfolg:

„Nur ein guter Zuhörer erfährt die Wahrheit.“

Und so lernte bereits der kleine Victor zu erkennen, was Menschen zu hören und zu glauben begehrten, wie man ihr Vertrauen gewinnt und zu überzeugen versteht. Schon als sehr junger Mensch verließ er seine Heimatstadt und das Elternhaus. Mit kleinen Taschendiebstählen und Hütchenspielen in Paris fing es an, der Verkauf erfundener „Geldvervielfältigungsmaschinen“ und umetikettierter vermeintlicher Spitzenweine in den USA brachte ihm jede Menge Geld ein. Ein gehöriges Maß an Selbstüberschätzung ist wohl jedem Hochstapler zu eigen und Lustig legte sich gleich einmal den Titel eines Grafs zu. Der Erfolg seiner Betrügereien und die Türen, die ihm als vorgeblichem Aristokrat gerade in den USA offen standen, animierten ihn zu immer dreisteren Projekten.

Zwar wurde der zweite Eiffelturm-Verkauf entdeckt, aber Viktor Lustig gelang knapp die Flucht. Wirklich das Genick brach ihm der massenhafte Druck von Falschgeld, der die amerikanische Wirtschaft fast ins Schwanken brachte. Der Secret Service wurde auf den Fall angesetzt und schließlich der Verantwortliche geschnappt. Noch am Tag vor seinem Prozess gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis in New York. Kurze Zeit später wurde er aber wieder festgenommen und 1935 zu 15 bzw. 20 Jahren Haft verurteilt (da schwanken die Angaben), die er im Hochsicherheitsgefängnis Alcatraz verbüßte.

Zehn gebote eines Hochstaplers

Viktors Charme und Fähigkeit, die Menschen für sich einzunehmen, ist überliefert, die Fakten hat Bastian Kresser für Als mir die Welt gehörte recherchiert. Sein Roman über diesen faszinierenden Menschen ist fiktiv. Er endet am Tag von Al Capones Entlassung 1939. Lustig selbst starb 1947, übrigens nur wenige Wochen nach Capone, an einer Lungenentzündung. Das ist eine der wenigen Tatsachen, die über den Mann mit den fast fünfzig Identitäten wirklich verbürgt ist. Zehn Gebote eines Hochstaplers hat er hinterlassen.

  1. Sei ein geduldiger Zuhörer.
  2. Sehe niemals gelangweilt aus.
  3. Sei niemals betrunken.
  4. Warten Sie, bis der andere seine politische Meinung preisgibt, dann stimme zu.
  5. Warte, bis die andere Person ihre religiöse Position preisgibt, dann habe dieselbe.
  6. Sprich niemals über Krankheiten, es sei denn, jemand trägt eine sorge an dich heran.
  7. Lass deine Wichtigkeit wortlos offensichtlich sein.
  8. Erkundige dich niemals nach persönlichen Angelegenheiten anderer Menschen, sie werden von sich aus alles verraten.
  9. Schneide sexuelle Themen an, vertiefe sie aber nur, wenn die andere Person ein starkes Interesse daran zeigt.
  10. Sei niemals schmutzig oder unordentlich.

Und Stoff für den unterhaltsamen, spannenden, hinreißenden Roman Als mir die Welt gehörte von Bastian Kresser.

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Bastian Kresser – Als mir die Welt gehörte
Braumüller Verlag März 2023, gebunden, 368 Seiten, € 26,00

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Jan Costin Wagner – Einer von den Guten https://literaturreich.de/2023/09/12/jan-costin-wagner-einer-von-den-guten/ https://literaturreich.de/2023/09/12/jan-costin-wagner-einer-von-den-guten/#respond Tue, 12 Sep 2023 13:46:27 +0000 https://literaturreich.de/?p=17075 „Ben Neven und seine Kolleg:innen sind an einem Punkt angelangt, an dem der Autor sie (und die Leser:innen) nicht einfach allein lassen kann. Ihre Geschichte ist noch nicht auserzählt.“ So habe ich meine Rezension zum… Mehr

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„Ben Neven und seine Kolleg:innen sind an einem Punkt angelangt, an dem der Autor sie (und die Leser:innen) nicht einfach allein lassen kann. Ihre Geschichte ist noch nicht auserzählt.“ So habe ich meine Rezension zum Vorgängerroman Am roten Strand beendet. Nun hat Jan Costin Wagner mit Einer von den Guten einen dritten Roman über den Ermittler Ben Neven geschrieben, der am Ende zwar auch fast alles in der Schwebe lässt, aber dennoch einen zufriedenstellenden Abschluss der Reihe bildet.

2020 erschien der erste Teil einer neuen Kriminalserie, nachdem Jan Costin Wagner seine sehr erfolgreiche Reihe um den grüblerischen, verschlossenen Kimmo Joentaa beendet hat. Im Mittelpunkt von Sommer bei Nacht stand die Ermittlergruppe um den Wiesbadener Kriminalbeamten Ben Neven, glücklich verheiratet, eine Tochter. Zusammen mit den Kollegen Christian Sandner, Mark Lederer und Maren Kramer, ergänzt durch die Polizeipsychologin Christina Gerst und mit vielen Ratschlägen von seinem Freund und ehemaligen Mentor, dem Ex-Polizisten Ludwig Landmann, ermittelte Neven in den beiden ersten Büchern in einem an reale Ereignisse angelehnten Fall rund um einen Pädophilen-Ring. Tief getroffen von der Gewalt, die kleinen Jungen angetan wurde, merkt man als Leserin sehr bald, dass die ganze Geschichte allmählich eskaliert und aus dem Ruder läuft.

Am Ende von Teil zwei hat Ben Neven seine eigenen pädophilen Neigungen, denen er zunächst nur im Internet folgt, zunehmend nicht mehr unter Kontrolle. In Dortmund, in der Nähe eines Spaßbades entdeckt er auf dem dortigen Pädophilen-Strich den Jungen Adrian, den er für seine sexuellen Dienste bezahlt und fortan alle zwei Wochen aufsucht.

Ein zerrissener Charakter

Ben Neven ist sich der Schändlichkeit und vor allem der möglichen beruflichen und privaten Konsequenzen seines Tuns bewusst, verachtet die Täter seiner eigenen polizeilichen Ermittlungen zutiefst, kann aber seinem eigenen Verlangen keinen Riegel vorschieben. Stattdessen spricht er für sich von „seinem Jungen“, redet sich dessen Zuneigung und das einvernehmliche Tun mit dem 13jährigen ein. Die „Beziehung“ zu Adrian wird immer mehr zur Obsession, belastet seine Arbeit, von der er sich bald freistellen lässt, und auch die Familie, denn natürlich darf Ben sich nicht outen. Innere Qualen nehmen zu, ein Selbstmordversuch scheitert knapp.

Da Ben an den polizeilichen Ermittlungen, die sich aktuell auf einen Pfarrer im Pädophilenring konzentrieren, nicht mehr aktiv teilnimmt, kann man kaum noch davon sprechen, dass Jan Costin Wagner mit Einer von den Guten einen Kriminalroman geschrieben hat. Aber auch schon in den beiden ersten Teilen spielten die Ermittlungen (bei denen es zudem oft ein wenig in der Logik knirschte) nur eine untergeordnete Rolle. Im neuen Band hat die Psychologisierung die eindeutige Überhand und entwickelt einen beachtlichen Sog. Wie die Hauptfigur der vorherigen Reihe, Kimmo Joentaa, der unter dem Tod seiner Frau litt, steht auch Ben Neven auf der Kippe, ist kräftig angeschlagen.

Unterschiedliche Perspektiven

Jan Costin Wagner gibt sowohl Ben Neven als auch dem Jungen Adrian eine Erzähl-Perspektive (eine winzige Sequenz gehört auch Maren Kramer, warum auch immer). Die beiden unterscheiden sich erwartungsgemäß beträchtlich. Während Ben sich eine freundschaftliche, einvernehmliche Beziehung zu dem Jugendlichen einredet, leidet dieser darunter, illegal in Deutschland zu leben, vom eigenen Vater und dessen Kumpan zur Prostitution gezwungen zu werden und versteht das Desinteresse der in Rumänien zurückgebliebenen Mutter nicht. Nur die 14jährige Vera, die ihm freundschaftlich zugetan ist, erhellt sein Elend ein wenig.

Kurze, schmucklose Sätze, knappe Dialoge und vieles, was nur angedeutet wird – der typische Sound von Jan Costin Wagner herrscht auch in Einer von den Guten. Am Ende löst sich nichts auf, die Sicht auf Hauptprotagonist Ben Neven wird noch problematischer. Vermutlich wird er sich weiterhin einreden einer von den Guten zu sein, vielleicht gelingt es Adrian tatsächlich mit Hilfe von Vera und ihrer Familie, seinem Vater zu entkommen. Ein vierter Teil ist zumindest nicht angedacht, so Wagner im Interview. Die Leserin ist mit dem Ende dieses Mal zufrieden.

 

Beitragsbild: Jérémy-Günther-Heinz Jähnick / Bellewaerde Aquapark (D12) / Wikimedia Commons

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Jan Costin Wagner - Einer von den Guten.

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Jan Costin Wagner – Einer von den Guten
Galiani-Berlin August 2023, gebunden, 208 Seiten, € 23,00

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Susan Choi – Vertrauensübung https://literaturreich.de/2023/09/10/susan-choi-vertrauensuebung/ https://literaturreich.de/2023/09/10/susan-choi-vertrauensuebung/#comments Sun, 10 Sep 2023 09:51:14 +0000 https://literaturreich.de/?p=17067 Selten hat mich ein Buch so zwiegespalten zurückgelassen wie der mit dem National Book Award ausgezeichnete und nun in der Übersetzung von Tanja Handels und Katharina Martl bei Kjona erschienene Roman von Susan Choi, Vertrauensübung.… Mehr

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Selten hat mich ein Buch so zwiegespalten zurückgelassen wie der mit dem National Book Award ausgezeichnete und nun in der Übersetzung von Tanja Handels und Katharina Martl bei Kjona erschienene Roman von Susan Choi, Vertrauensübung. Einhellige Begeisterung herrscht bei mir allerdings über die Gestaltung des Buchs. Der sich vor allem für Nachhaltigkeit in der Buchproduktion engagierende Kjona Verlag macht einige der schönsten Bücher, die derzeit im Handel sind. Trendige Veredelungen wie Lacke oder Farbschnitte werden aus Umweltschutzgründen nicht verwendet, dafür jubelt mein Bücherherz angesichts des klaren Designs, des hochwertigen, alterungsbeständigen Papiers und vor allem der Fadenheftung. Ganz große Begeisterung!

Der fünfte Roman der Amerikanerin Susan Choi, der auch auf Barack Obamas berühmter Sommerleseliste stand, hat es mir mit meinem Urteil nicht ganz so leicht gemacht. Ich muss zugeben, dass ich zu Beginn sogar einen Abbruch erwähnt habe, da ich der Autorin bestimmte Handlungsbestandteile und Charaktere einfach nicht abgenommen habe. Nach und nach wurde mir aber klar, dass nicht nur der Titel des Romans, sondern das ganze Buch eine Art Vertrauensübung der Autorin Susan Choi mit ihrem Lesepublikum darstellt. Und dann war ich schon sehr, wenn auch nicht restlos begeistert.

Citywide Academy for the Perfomative Arts

Worum geht es? Zunächst scheint es einer jener typischen Highschool- oder Collegeromane zu sein, die man gerade aus den USA kennt. Die Citywide Academy for the Perfomative Arts, kurz CAPA genannt, ist eine Elite-Highschool mit Schwerpunkt Darstellende Künste in einer südlich gelegenen Stadt. Vieles deutet darauf hin, dass es sich um Houston/Texas handelt, wo Choi selbst als Jugendliche lebte. Zu Beginn des Buchs befinden wir uns in den 1980er Jahren und begleiten eine Klasse bzw. einiger ihrer Schüler:innen, die schließlich „Sophomores“ sind, etwas, was man mit unseren Zehntklässlern vergleichen kann. Also Jungen und Mädchen von ca. 14 bis 16 Jahren.

Und hier begann mein anfängliches Problem mit dem Buch, denn diese Schüler:innen waren für mich (und vielleicht bin ich da auch nur sehr naiv) alle nicht altersgemäß, sondern extrem frühreif. Zwei von ihnen, Sarah und David, verstrickten sich gleich zu Beginn ihrer Schullaufbahn in eine heftige, vorwiegend körperliche Affäre. Dass es Jugendliche in diesem Alter wirklich im Schulflur vor dem Musikzimmer und in allen Heckenecken des Schulgeländes treiben, darüber hinaus aber keine Form der Beziehung zueinander suchen bzw. finden, konnte ich dem Buch nicht wirklich abnehmen. Und wenn einmal der Zahn des Zweifels an mir nagt…

Vertrauensübungen

Singen, Tanzen, Schauspielern – für letzteres vor allem ist der charismatische Lehrer Mr. Kingsley aus New York zuständig. Von anderen Unterrichtsaktivitäten bekommen wir nicht viel mit. Dafür viel von Kingsleys Anforderungen an die Schüler:innen und die Übergriffigkeit, die dort anscheinend normal ist. Zurschaustellung, emotionaler Missbrauch, ein rigides Zeitmanagement – für mich auch nicht überzeugend, dass das schon so jungen Menschen zugemutet wird und niemand, außer vielleicht ganz zaghaft Sarahs Mutter – dagegen protestiert. Dass solche krassen Methoden an Theaterschulen durchaus üblich sind, ist mir bekannt, aber an solch jungen Schüler:innen, von denen es auch heißt, „ihre emotionale Reife bleibt hinter ihrer körperlichen Entwicklung zurück“? Teil dieser Methoden sind sogenannte „Vertrauensübungen“, die vor allem für das Teambuilding verwendet werden.

Neue Münchner Schauspielschule, by Vincent Kraupner, CC0, via Wikimedia Commons
Überforderung

Sarah, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in eher einfachen Verhältnissen lebt, zu Intensität, Drama und Selbstqual neigt, kommt mit der Situation deutlich weniger gut klar als der aus sehr reichen Elternhaus stammende, selbstbewusste und umschwärmte David. Aber deutlich ist, dass beide von der Situation, den Ansprüchen der Schule und ihrer obsessiven Liebesbeziehung heillos überfordert sind. Die Situation eskaliert, als eine gleichaltrige Theatergruppe einer englischen Partnerschule eintrifft. Dass diese Partnerschule Voltaires Candide vor der versammelten Elternschaft derart freizügig und experimentell aufführt, „sie mimten Vergewaltigen und Vergewaltigtwerden, und einvernehmliche Ficks – dem Anschein nach vor allem sowohl erzwungene wie auch einvernehmliche Arschficks“, wohlgemerkt vor den Eltern der 15 – 16 Jährigen, das nehme ich der Geschichte einfach nicht ab. Nun gut. Es kommt darüber hinaus auch zu Übergriffen zwischen den Schülerinnen und dem englischen „Lehrkörper“. Der erste Teil bricht hier zur Verwunderung der Leserin recht abrupt ab.

Zweiter Teil

Zweiter Teil Vertrauensübung, und so langsam ahne ich, was Susan Choi im Sinn hat. Mein skeptisches Interesse ist geweckt, meine Abwehr sinkt. Denn hier, nach etwa der Hälfte des Buchs wird klar, dass wir es beim ersten Teil mit einem Buch im Buch zu tun haben. Sarah ist – wir befinden uns jetzt  14 Jahre später – nicht darstellende Künstlerin, sondern Autorin geworden, die über ihre Zeit auf der CAPA ein autofiktionales Buch geschrieben hat. Wir haben es also in Teil 1 mit einer ziemlich unzuverlässigen Erzählerin zu tun. Das versöhnt ein wenig mit einigen der von mir angezweifelten Begebenheiten.

Karen, eine in diesem ersten Teil eher am Rande erwähnte Mitschülerin, übernimmt nun die Erzählperspektive. Sie war, anders als in Sarahs Buch dargestellt, wohl deren engste Freundin und entlarvt viele der Schilderungen als falsch. Besonders die Namen und die Beziehungen zwischen den Schüler:innen waren wohl ganz anders als geschildert. Sie selbst erscheint aber auch als eher unzuverlässige Erzählinstanz, auch wenn sie natürlich durch die zusätzlichen Lebensjahre gereifter erzählt.

Eine andere Perspektive

Karen, die in Wirklichkeit natürlich nicht Karen heißt und deren Perspektive in Teil 2 zwischen „Karen“ und „ich“, also der dritten und ersten Person abwechselt, erzählt vom eigenen Missbrauch, davon, wie „Sarah“, die natürlich auch nicht so heißt, diesen Teil der Geschichte in ihrem Buch einfach unterschlagen hat. Ein Zusammentreffen von ihr, „David“, „Sarah“ und „Martin“, dem ehemaligen Leiter der englischen Schultheatergruppe, spitzt die Situation zu. Was man als Leserin hier wieder glauben kann oder nicht, ist erneut ungewiss. Und macht einen großen Reiz des Romans aus, der nun seinerseits zur „Vertrauensübung“ zwischen Autorin Susan Choi und den Lesenden wird. Sicher ist, dass ein oder besser gesagt das zentrale Thema des Buches der Missbrauch von Machtverhältnissen und von jungen Menschen ist, die zwar behaupten niemals wirklich Kinder gewesen zu sein, dies aber in vielen Bereichen eben doch waren.

In Teil 3 sind wir dann im Jahr 2013 angekommen und wieder taucht eine neue Perspektive auf das Erzählte auf und dreht alles noch einmal auf links. Ein Spiel mit den Perspektiven, gewagte Wendungen, die Leser:innen, die sich gern in eine Geschichte hineinsaugen lassen, munter wieder hinauskatapultieren und ihr Vertrauen in die Autorin auf die Probe stellen und das alles kombiniert mit dem hochsensiblen und aktuellen Thema des Missbrauchs – meine Bedenken vom Anfang der Geschichte sind nicht völlig vom Tisch, aber angesichts der genialen Wendungen und des intelligenten Aufbaus des Romans, ziemlich in den Hintergrund getreten. Deshalb eine eindeutige Leseempfehlung.

 

Weitere Besprechungen findet ihr bei Ines Letteratura, Bookster HRO und der Kulturbowle

 

Beitragsbild: „Agamemnon“_2008_Studiobühne_Siegburg.jpg: Schauspielschule Siegburgderivative work: Hic et nunc, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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susan-choi-vertrauensuebung.

Susan Choi – Vertrauensübung
Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels und Katharina Martl
Kjona Verlag August 2023, 352 Seiten, Gebunden, Fadenheftung, 25,00

 

 

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Eva Reisinger – Männer töten https://literaturreich.de/2023/09/08/eva-reisinger-maenner-toeten/ https://literaturreich.de/2023/09/08/eva-reisinger-maenner-toeten/#respond Fri, 08 Sep 2023 07:28:44 +0000 https://literaturreich.de/?p=17041 Unter dem herrlich zweideutigen Titel Männer töten veröffentlicht die österreichische Journalistin und Sachbuchautorin Eva Reisinger ihren ersten Roman und wurde dafür gerade für den Österreichischen Debütpreis 2023 nominiert. Interessant ist, welche Bedeutung des Titels sich… Mehr

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Unter dem herrlich zweideutigen Titel Männer töten veröffentlicht die österreichische Journalistin und Sachbuchautorin Eva Reisinger ihren ersten Roman und wurde dafür gerade für den Österreichischen Debütpreis 2023 nominiert. Interessant ist, welche Bedeutung des Titels sich beim ersten Augenschein bei der Leserin oder dem Leser nach vorne drängt. Tatsache ist, das macht die „Triggerwarnung“ gleich zu Beginn deutlich: Hier werden Männer getötet. Dabei geht es aber eigentlich um die unerträgliche Tatsache, dass Männer Frauen töten. Immer noch, immer wieder. Und immer noch schaut die Gesellschaft viel zu oft weg, bagatellisiert und ist auch die Rechtsprechung noch nicht so sensibilisiert, diese Femizide als solche gesondert zu behandeln. Bislang haben nur zwei Länder in Europa, nämlich Zypern und Malta, beschlossen, diese Femizide als eigenständige Verbrechen anzuerkennen.

2018 war bezogen auf die Zahl der begangenen Femizide ein besonders trauriges Jahr in Österreich. Ein Jahr, das die (auch) über Femizide berichtende Journalistin Eva Reisinger derart aufgewühlt hat, dass sie beschloss, darüber einen Roman zu schreiben. Weil die ständigen Berichte und Reportagen anscheinend nicht wirklich eine Veränderung bringen, suchte sie einen neuen Weg der Aufklärung, Bewusstmachung und Anklage. Männer töten ist ihre Antwort darauf. Sie ist wütend, konsequent und doch sehr unterhaltsam und österreichisch-humorig.

Ein oberösterreichisches Matriarchat

Protagonistin Anna-Maria kommt aus Wien eher zufällig in eine kleine oberösterreichische Gemeinde. Frisch getrennt und selbst Opfer männlicher Gewalt, hat es sie zusammen mit ihrem neuen Freund Hannes auf dessen Bauernhof verschlagen. Gleich zu Beginn hat sie das Gefühl, dass der Ort etwas anders tickt, als sie es gewohnt ist. Frauen sind hier deutlich in der Überzahl, nehmen ihre Geschicke beherzt und selbstbewusst in die Hand. Es scheint ein offeneres, friedvolleres Miteinander zu herrschen. Nach und nach enthüllt sich aber, dass dieses Engelhartskirchen ein nicht unbedingt harmloses Matriarchat beherbergt.

Eva Reisinger stellt mit ihrem Roman die Verhältnisse auf den Kopf und regt zum Überdenken der eigentlich untragbaren gesellschaftlichen Situation an, weltweit sind es laut Schätzungen der Vereinten Nationen 137 Femizide, die täglich verübt werden. Und auch in Österreich geschieht häufiger als alle zwei Wochen ein solcher geschlechtsbedingter Mord an einer Frau. Eva Reisinger schreibt darüber in Männer töten, ohne pädagogisch daherzukommen. Allein die Verschiebung zu Frauen als Täterinnen anstatt als Opfer, wie wir das in so vielen Krimis, Thrillern, Romanen gewohnt sind, schafft ein positives Aufmerken und Bewusstwerden.

Wichtiges Thema, leichte Umsetzung

Das ist zunächst lobenswert und dem Roman sind allein deswegen viele Leser:innen zu wünschen, gerade auch männliche. Und Bücher über gelebte Frauensolidarität und die Utopie einer Welt ohne Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Menschen kann es gar nicht genug geben. Mir war die Geschichte im Verlauf aber dann leider doch ein wenig zu flach, die Charaktere wie beispielsweise das lesbische Brautpaar oder die couragierte (katholische!) Pfarrerin zu sehr Abziehbilder, als dass mich das Buch trotz der großen Sympathie dafür literarisch wirklich überzeugen konnte. Wer allerdings ein leichtes, heiteres Buch mit Substanz sucht, ist hier vielleicht genau richtig. Und den Österreichischen Debütpreis hat das Buch auf jeden Fall (schon allein wegen des Titels!) verdient. Ich drücke die Daumen.

Zu erwähnen ist unbedingt noch die wirklich sehr schöne Gestaltung des Leykam Verlags, die das Buch zu einem wirklichen Schmuckstück macht: poppig-buntes, grafisches Cover mit Golddruck und schwarz-weißer Buchschnittverzierung.

 

Mehr zum Österreichischen Buchpreis

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Eva Reisinger - Männer töten.

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Eva Reisinger – Männer töten
Leykam Verlag august 2023, gebunden, 288 Seiten, € 24,00

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Lektüre Juli 2023 https://literaturreich.de/2023/09/07/lektuere-juli-2023/ https://literaturreich.de/2023/09/07/lektuere-juli-2023/#respond Thu, 07 Sep 2023 10:04:59 +0000 https://literaturreich.de/?p=17038 Spät, sehr spät kommt er, der Überblick über meine im Juli 2023 gelesene Lektüre. Vielleicht interessiert es ja noch den einen oder die andere. Der Vollständigkeit halber (und weil mein innerer Blog-Monk das sowiso fordert)… Mehr

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Spät, sehr spät kommt er, der Überblick über meine im Juli 2023 gelesene Lektüre. Vielleicht interessiert es ja noch den einen oder die andere. Der Vollständigkeit halber (und weil mein innerer Blog-Monk das sowiso fordert) ist er hiermit nachgereicht.

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Ayobami Adebayo - Das Glück hat seine ZeitAyòbámi Adébáyò – Das Glück hat seine Zeit

Zwei Familien stehen im Mittelpunkt des Romans, die aus zwei völlig verschiedenen Milieus stammen. Der Vater des Jungen Eniola wurde nach einem der vielen Machtwechsel als Lehrer entlassen. Das einigermaßen wohlhabende Leben und das Ansehen, das der Familie zuteilwurde, sind dahin. Dabei hat Baami immer an den Aufstieg durch Bildung geglaubt, daran, dass man durch Strebsamkeit und Anstand ein Auskommen findet.
Yeye stammt aus einer einflussreichen Familie und ist mit dem erfolgreichen Unternehmer Otunba Makinwa verheiratet, der Beziehungen in die höchste Kreise hat. Status und Ansehen sind ihr so wichtig wie sein beträchtliches Vermögen. Sie führt ein Luxusleben. Anders hält es ihre älteste Tochter Wuraola, die nach ihrem Medizinstudium als Assistenzärztin in der Klinik arbeitet. Anpassung, Ehrgeiz, Pflichterfüllung verheißen ihr Erfolg im Beruf und schließlich, anders als bei ihrer Mutter, Selbstständigkeit und Emanzipation als Frau.

Zunehmend spannend und immer mehr Fahrt aufnehmend legt Ayòbámi Adébáyò in Das Glück hat seine Zeit die politischen Intrigen, die Korruption und vor allem die in allen Ebenen der Gesellschaft herrschende Gewalt in Nigeria bloß. Die marode Gesellschaft, die nach außen Parteiendemokratie, Wirtschaftswachstum und Entwicklung propagiert, ist zutiefst gewalttätig und ungerecht. Laut des International Monetary Fund leben 32 % der Bevölkerung Nigerias in extremer Armut. Frauen werden unterdrückt und marginalisiert. Im nigerianischen Parlament findet man lediglich 29 Frauen neben 440 Männern.
Ayòbámi Adébáyòs Protagonisten suchen alle nur ihr eigenes kleines Glück, ein wenig Zufriedenheit. Sie sind keine Held:innen oder Aktivist:innen. Aber selbst das wird ihnen verwehrt. Überhaupt nicht kitschig, wie der Titel des Romans vielleicht vermuten ließe, erzählt die Autorin von ihnen, berührend, manchmal auch ein wenig sentimental, aber immer präzise und spannend. Viele interessante Nebenfiguren und ihre Schicksale weiten die Tragödie um Wuraola, Eniola und ihre Familien zu einem mitreißenden Gesellschaftspanorama Nigerias.

 

Penelope Mortimer - Bevor der letzte Zug fährtPenelope Mortimer – Bevor der letzte Zug fährt

Penelope Mortimers 1958 erschienener Roman liegt zum ersten Mal in der Übersetzung von Kristine Kress vor. Und das erstaunt angesichts der literarischen Qualität sehr. Andererseits berührt der Text Themen, von denen man zur damaligen Zeit sicher nicht unbedingt lesen wollte. Die 1918 geborene Journalistin und sechsfache Mutter von Kindern unterschiedlicher Väter spricht in Bevor der letzte Zug fährt ein in der damaligen Zeit stark mit Tabus behaftetes Thema an: die ungewollte Schwangerschaft und deren Beendigung.

Die 37jährige Ruth Whiting lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London auf dem Land. Ein schönes, gepflegtes Haus, den gutaussehenden Zahnarzt Rex zum Mann, eine fast erwachsene Tochter und Zwillingssöhne, dazu eine nette Nachbarschaft – eine scheinbare Traumexistenz, hinter deren Fassade wie so oft das Grauen herrscht. Pendlerzüge transportieren aus diesem Suburbia jeden Morgen die Männer Richtung Stadt, zurück bleiben die Frauen und Kinder, oftmals gelangweilt, ungeliebt, hoffnungs- und trostlos.
Die 18jährige Tochter Angela sucht die Hilfe ihrer Mutter, zu der sie ansonsten ein eher angespanntes Verhältnis hat, als ihr das passiert, was zu der Zeit die größte Sorge aller unverheirateten Mädchen ist: sie ist schwanger. Natürlich wollen weder sie noch der das Kind und auch Ruth setzt alle Hebel in Bewegung, damit ihrer Tochter das eigene Schicksal einer zu frühen Schwangerschaft und einer ungeliebten Pflichtehe erspart bleibt. Ihr erwächst angesichts der Lage ihrer Tochter und deren Apathie eine ungeahnte Kraft.
Die öde, trostlose Welt der Vorstädte, die oft ausweglose Lage der Ehefrauen und Mütter, die selbstherrliche, anmaßende und oft pflichtvergessene Haltung der Männer und immer und vor allem muss die Fassade gewahrt werden – das erfasst die Autorin kühl analytisch, aber auch sehr unterhaltsam, stilistisch brillant und ironisch-sarkastisch mit überzeugenden Dialogen und einer ordentlichen Portion Situationskomik. Ich hoffe sehr, dass noch weitere Romane von Penelope Mortimer neu oder erstmals übersetzt werden. Für mich ist sie eine der großartigen Wiederentdeckungen dieses Jahres.

 

Caroline Wahl – 22 Bahnen

Diesen sehr gelobten Debütroman der jungen Autorin Caroline Wahl habe ich nach knapp der Hälfte zunächst zur Seite gelegt. Ich tue mich recht schwer mit dem Abbrechen von Büchern, aber hier hat mich weder die Sprache (kunstlos, flappsig), noch die Charaktere oder der Inhalt überzeugt. Mal schauen, ob ich dem Buch noch eine zweite Chance geben werde.

 

tess-gunty-der-kaninchenstallTess Gunty – Der Kaninchenstall

Mittelpunkt von Der Kaninchenstall ist ein Apartmenthaus in einer Stadt im US-amerikanischen Rustbelt. Wie mit einer Kamera schaut Gunty in die verschiedenen Wohnungen hinein, deren Bewohner:innen größere oder kleinere Rollen im Erzählten einnehmen. Zentrum ist Apartment C4, in dem, wir erfahren es gleich am Anfang, Blandine Watkins, eine 18jährige ätherische Schönheit „ihren Körper verlässt“. Ein Großteil der bis zum Ende andauernden Spannung bezieht der Roman aus der Frage, was in jener „heißen Nacht“ mit der jungen Frau passiert ist und was uns Tess Gunty dazu auf den nächsten über 400 Seiten enthüllt.

Allerhand skurrile Figuren bevölkern den Kaninchenstall und einen ähnlichen Einfallsreichtum wie bei ihrem Personal beweist Tess Gunty bei den von ihr behandelten Themen. Immer wieder Gewalterfahrungen, strukturelle und persönliche, die Klimakrise, verwahrloste Kindheiten, Missbrauchserfahrungen unterschiedlicher Art, Klassenfragen, wirtschaftlicher Abstieg, Chancen(un)gleichheit, MeeToo, die Macht des Internets und und und. Ein wenig brummt der Leserin der Kopf angesichts der ganzen aufgetischten Absurditäten und skurrilen Situationen. Das Ganze präsentiert Tess Gunty in einem hohen Tempo, mit häufigen Perspektivwechseln, unterschiedlichen Textsorten, beigefügten Illustrationen, knappen Dialogen. Überbordend nennt man so etwas gerne. Und das ist noch kein Werturteil, weder in die eine noch in die andere Richtung. Für mich persönlich allerdings war es von allem zu viel. Zu viele absonderliche Charaktere, zu viele skurrile Schicksale, zu viel Tempo, zu viel Sprachspielerei, zu viele Themen. Tess Gunty hat mit Der Kaninchenstall ganz sicher ein bewunderungswürdig originelles, gut geschriebenes, einfallsreiches und spannendes Buch geschrieben. Ich habe es auch nicht ungern gelesen und kann verstehen, dass die Kritiker:innen jubilieren. Mir allerdings kam es nicht nahe, sondern ließ mich ziemlich erschöpft und etwas entnervt zurück.

 

Javier Cercas - Blaubarts BurgJavier Cercas – Blaubarts Burg

Der 3. Teil der Terra Alta Krimi-Reihe von Javier Cercas
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Melchor Márin ist nach Etappen in Barcelona, nach einer glücklichen Ehe und dem tragischen Tod seiner Frau Olga aus dem Polizeidienst ausgeschieden und arbeitet nun als Provinzbibliothekar. Hier kann er seine Liebe zur Literatur ausleben, die er während einer Haftstrafe durch die Lektüre von Victor Hugos Roman „Die Elenden“ entdeckt hat – Melchors Vorgeschichte wird ausführlich, aber nicht ungeschickt in den neuen Roman hineingewebt, so dass auch Cercas-Neulinge mithalten können. Sein Leben mit der 17jährigen Tochter Cosette verläuft ruhig, aber glücklich. Nur die hartnäckigen Nachfragen Cosettes zum Tod ihrer Mutter, der kein Unfalltod war – wie man ihr immer gesagt hatte – beschäftigen ihn doch sehr. Deswegen ist er auch sehr beunruhigt, als Cosettes Freundin Elisa vom gemeinsamen Urlaub auf Mallorca allein zurückkommt. Zuerst vermutet er, dass sie sich aus Wut über sein langes Schweigen von ihm zurückziehen will und auch die eingeschaltete Guardia Civil auf der Insel wiegelt ab. Da die Umstände aber immer dubioser werden, auch Elisa keine Nachrichten mehr empfängt und sich die Spur von Cosette verliert, reist Melchor nach Mallorca und forscht dort selbst nach.
Es geht wie immer bei Cercas um gesellschaftliche und politische Verwerfungen, darum, wie durch Korruption und Filz eine ganze Gesellschaft unterhöhlt werden kann, Recht und Gerechtigkeit käuflich werden.
Javier Cercas hat sich mit diesem dritten Teil warm geschrieben. Ich bin gespannt, ob es tatsächlich bei der Trilogie bleibt. Ich wäre zumindest einem Band 4 nicht abgeneigt.

 

johanna-sebauer-nincshofJohanna Sebauer – Nincshof

Der Legende nach hätte eine von der Außenwelt unentdeckte Gemeindejahrhundertelang völlig autark, mit matriarchal verlaufenden Familienlinien, mit durch Holzstege über dem Moor verbundenen Pfahlbauten, versteckt im hohen Schilf in einer entlegenen Ecke des österreichischen Burgenlandes existiert und sei erst durch Trockenlegung der dortigen Sümpfe der Außenwelt aufgefallen. Augenzwinkernd, märchenhaft, verspielt erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman, wie einige Bewohner des fiktiven Dörfchens Nincshof diesen vermeintlich glücklichen, vergessenen Zustand wiederherstellen möchten.

Das könnte herrlich satirisch sein und ist teilweise auch recht lustig. Aber für mich feiert der Roman die Verschrobenheiten, die Kauzigkeit seiner Protagonisten zu sehr. In seiner heimeligen Harmlosigkeit blendet er alle gesellschaftlichen oder politischen Dimensionen aus. Völlig lächerlich und ignorant sind die drei Gestalten, aber werden doch eher liebevoll geschildert. Das Buch macht es den Leser:innen schwer, es nicht zu mögen. Es ist durchaus charmant geschrieben und sicher eine angenehm leichte Sommerlektüre. Wer mehr von einem Buch verlangt, bleibt vielleicht ähnlich enttäuscht wie ich zurück.

 

Michel Bergmann - MamelebenMichel Bergmann – Mameleben

Michel Bergmann schreibt in seinem Buch über die ganz besondere Beziehung zu seiner Mutter. Eine sehr liebevolle, enge, aber auch sehr übergriffige, einengende Beziehung zu einer beeindruckenden, aber auch schwierigen Frau. Charlotte hat ihre gesamte Familie im Holocaust verloren, hat ihre hoffnungsvolle Jugend wie unzählige andere durch die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten verpasst und nur durch ein Wunder überlebt. Traumata, Erinnerungen, Selbstvorwürfe quälen sie wie viele andere Überlebende. Ihr Ein und Alles wird der Sohn, zu dem sie nach dem frühen Tod des Vaters eine zunehmend toxische Beziehung aufbaut, aus der sich der Sohn nur schwer befreien kann. Ambivalent sind seine Gefühle. Und das kann dieser Text großartig transportieren. Eindrucksvoll, zart und unerbittlich, sehr berührend schildert der Autor die Geschichte einer schillernden Frau, seine eigene Kindheit und Jugend, die Hassliebe, die ihn mit seiner Mutter verbindet, und seine schwierige, nie ganz gelingende Loslösung, nicht chronologisch, sondern eher assoziativ. Ein wunderbares Buch!

 

Außerdem habe ich noch für das Literaricum Lech ein weiteres Mal Stolz und Vorurteil von Jane Austen gelesen sowie Die Freiheit, allein zu sein von Sarah Diehl und Mon Chérie und unsere demolierten Seelen von Verena Rossbacher, die auch in Lech waren. Letzteres ein herrlich amüsanter roman, zu dem ich später noch einen Beitrag bringen werde.

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Johanna Sebauer – Nincshof https://literaturreich.de/2023/09/01/johanna-sebauer-nincshof/ https://literaturreich.de/2023/09/01/johanna-sebauer-nincshof/#respond Fri, 01 Sep 2023 14:49:30 +0000 https://literaturreich.de/?p=17015 „Nincs“ – ungar.: „Es gibt kein“. Nincshof – es gibt keinen Hof, kein Dorf, kein gar nichts. Zumindest nach der Legende gab es hier im äußersten östlichen Zipfel Österreichs, in der entlegensten Ecke des Burgenlandes,… Mehr

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„Nincs“ – ungar.: „Es gibt kein“. Nincshof – es gibt keinen Hof, kein Dorf, kein gar nichts. Zumindest nach der Legende gab es hier im äußersten östlichen Zipfel Österreichs, in der entlegensten Ecke des Burgenlandes, ganz nahe am Einser-Kanal, der an der Grenze von Österreich und Ungarn verläuft, offiziell jahrhundertelang nichts. Offiziell. Denn bevor der Einser-Kanal seit der Wende zum 20. Jahrhundert den ansonsten abflusslosen Neusiedlersee entwässerte und danach die südöstlich davon gelegenen Hanságsümpfe mehr und mehr trockengelegt wurden, lag dort der Legende nach (zumindest im vorliegenden Roman) eine von der Außenwelt unentdeckte Gemeinde, völlig autark, mit matriarchal verlaufenden Familienlinien, mit durch Holzstege über dem Moor verbundenen Pfahlbauten, versteckt im hohen Schilf. Augenzwinkernd, märchenhaft, verspielt erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman, wie einige Bewohner des (fiktiven) burgenländischen Dörfchens Nincshof diesen vermeintlich glücklichen, vergessenen Zustand wiederherstellen möchten.

Oblivisten

Oblivisten (lat. oblivere – vergessen) nennen sie sich. Der Bürgermeister gehört delikaterweise dazu, ein junger Außenseiter namens Valentin Salmerak und der uralte Sipp Sepp, man munkelt, er hätte die 100 schon weit überschritten. „Freiheit“ rufen diese selbsternannten Traditionalisten, fort mit den Zumutungen, die täglich aus aller Welt auch in diesen entlegenen Zipfel Österreichs vordringen, weg mit den ganzen Vorschriften und Einschränkungen durch „die da oben“ und draußen bleiben sollen all die, die so ganz anders sind als die Nincshofer, zum Beispiel die ganzen Radtouristen aus der Stadt mit ihren bunten Fahrradoutfits.

Das könnte herrlich satirisch sein und ist teilweise auch recht lustig. Wahrscheinlich ist es auch ungerecht, der jungen Autorin vorzuwerfen, dass die Haltung ihrer Oblivisten heutzutage eher einen schalen bis bedrohlichen Beigeschmack hat als nur liebenswert schrullig zu sein. Aber für mich feiert der Roman die Verschrobenheiten, die Kauzigkeit seiner Protagonisten zu sehr. In seiner heimeligen Harmlosigkeit blendet er alle gesellschaftlichen oder politischen Dimensionen aus. Völlig lächerlich und ignorant sind die drei Gestalten, aber werden doch eher liebevoll geschildert.

Ihnen schließt sich noch die fast achtzigjährige Erna Rohdiebel an. Sie ist „Anarchistin“ qua Geburt, denn ihre Großmutter hat einst den „Aufstand der Waschweiber“ gegen die Obrigkeit angeführt. Ihr selbst steckt dadurch die Anarchie anscheinend tief im Blut, schleicht sie doch nachts in den Nachbargarten und geht dort heimlich im Pool schwimmen. Harmlos ist das, wie eigentlich alles bei Johanna Sebauer. Auch die Namen der Protagonist:innen strahlen diese gewollte Drolligkeit aus: Erna Rohdiebel, Frederika Liebzipfel, Armina Karnelli, Sipp Sepp.

Zu viele Drolligkeiten

Trotzdem: Das Buch macht es den Leser:innen schwer, es nicht zu mögen. Es ist durchaus charmant geschrieben und sicher eine angenehm leichte Sommerlektüre. Auch die zugezogenen Städter dürfen in Nincshof nicht fehlen. Da ist die berühmte Dokumentarfilmerin Isa Bachgasser, die nach der Krebserkrankung ihres Mannes Silvano Mezzaroni mit diesem und der heranwachsenden Tochter die alte Dorfmühle wieder flott macht. Der ehemals erfolgreiche Architekt Silvano hat als Rehabilitationsmaßnahme nun die Irrziegenzucht für sich entdeckt und bringt auch einiges an groteskem Humor in die Geschichte.

Südamerikanische, während des Gebärens leuchtende Irrziegen, reichlich Pusztafeigenschnaps, ein Schwein, das im Krippenspiel die Rolle des Jesuskindes übernimmt – Johanna Sebauers Einfallsreichtum ist enorm. Leider erschöpft er sich in niedlichen Details und harmlosen Verstiegenheiten. Soziologisch oder politisch wird hier wie gesagt nichts betrachtet. Und dass es verschiedene Wahrheiten gebe – diese Aussage ist vielleicht auch nicht ganz falsch, hat aber für mich auch wieder diesen etwas unangenehmen Beigeschmack (siehe oben).

Man kann das Ganze natürlich auch ausschließlich als sommerleichte, humorvolle Groteske lesen. Wer hätte nicht auch schon mal den Wunsch verspürt, sich gegen alles „da draußen“ abzusperren und die Welt zu verlangsamen. Dann hat man sicherlich einen unterhaltsamen, charmanten Roman entdeckt. Mir ist das leider nicht gelungen, ich habe mich an den unbedingt liebenswert sein wollenden Kauzigkeiten gerieben, mir war alles zu harmlos und eine gesellschaftspolitische Betrachtung habe ich vermisst. Mir ist dadurch wohl ein Großteil des Lesevergnügens verwehrt geblieben.

 

Beitragsbild: GeorgDerReisende, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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johanna-sebauer-nincshof.

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Johanna Sebauer – Nincshof
Dumont Juli 2023, 368 Seiten, Gebunden, € 23,00

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