LiteraturReich https://literaturreich.de/ Ein Literaturblog Thu, 03 Jul 2025 16:31:55 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.8.1 https://literaturreich.de/wp-content/uploads/2017/03/cropped-screenshot-05-03-2017-16_17_25-2-32x32.png LiteraturReich https://literaturreich.de/ 32 32 164610390 Christian Mitzenmacher – Knallkrebse – Kurz vorgestellt https://literaturreich.de/2025/07/07/christian-mitzenmacher-knallkrebse-kurz-vorgestellt/ https://literaturreich.de/2025/07/07/christian-mitzenmacher-knallkrebse-kurz-vorgestellt/#respond Mon, 07 Jul 2025 08:22:59 +0000 https://literaturreich.de/?p=20436 Christian Mitzenmacher ist mit seinem Debütroman Knallkrebse ein federleichtes Buch über ein ernstes und eigentlich bedrückendes Thema gelungen. Sein Protagonist Tom ist wie der 1986 geborene Autor studierter Physiker und Pate eines aus Afghanistan Geflüchteten.… Mehr

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Christian Mitzenmacher ist mit seinem Debütroman Knallkrebse ein federleichtes Buch über ein ernstes und eigentlich bedrückendes Thema gelungen. Sein Protagonist Tom ist wie der 1986 geborene Autor studierter Physiker und Pate eines aus Afghanistan Geflüchteten.

Der 16-jährige Farid hat sehr schnell Deutsch gelernt, ist wissbegierig, interessiert und aufgeschlossen. Eigentlich ein idealer Fall für die so vehement geforderte Integration in die Gesellschaft. Wären da nicht – und das wird so oft einfach ignoriert und bekommt auch in der Öffentlichkeit trotz der vielen Warnsignale zu wenig Beachtung – die traumatischen Erinnerungen an seine Flucht, die Farid immer wieder einholen und ihn psychisch belasten. Vor allem bedrückt ihn der Verlust von Pari, die er auf der Flucht kennengelernt hat und die irgendwann von Bewaffneten aus dem Schlepperbus herausgezogen wurde. Und von der er seitdem nichts mehr gehört hat.

Unbegleiteter Jugendlicher

Farid ist die Flucht als unbegleiteter Jugendlicher geglückt und er ist in München gelandet, auch wenn eigentlich Frankreich sein Ziel war, da dort ein Onkel wohnt. Wie viele Geflüchteten schleppt auch er aber so viele schlimme Erinnerungen mit sich herum, plagt ihn die Sorge um Mutter und Schwester, die in Pakistan zurückgeblieben sind, und vor allem die Angst um Pari. Irgendwann beschließt er, trotz gerade erhaltener Aufenthaltserlaubnis wieder Richtung Osten aufzubrechen, um seine Freundin zu suchen. Ein Wahnsinnsplan, besonders da ihm eine erneute Einreise nach Deutschland mit Sicherheit verwehrt würde. Das erkennt Tom, mit dem Farid wie mit dessen Partnerin Laura und Freund Yev mittlerweile eine enge Freundschaft verbindet. Tom weiß, dass er diesen verrückten Plan verhindern muss. Für Farid bedeutet dies aber erneuten psychischen Stress. Er bricht zusammen, kommt in die Psychiatrie und wird mit Medikamenten ruhiggestellt.

Die Realität von Geflüchteten in Deutschland fühlbar zu machen, ist das Anliegen dieses Romans. Er tut dies aber ohne erhobenen Zeigefinger und ist vor allem eine Geschichte über Freundschaft und Vertrauen, von Überforderung und Solidarität. Am Ende hätte ich mir noch mehr Offenheit gewünscht, der Epilog lässt mich etwas ratlos zurück. Insgesamt ist Knallkrebse aber ein schöner Debütroman, der trotz seines eher schweren Themas auch ein herrlich leichtes Sommerbuch mit viel Atmosphäre ist und der am Ende an die Französische Atlantikküste führt. Es ist kein autofiktionales Buch, aber es steckt viel Christian Mitzenbacher in Knallkrebse, wie der sympathische Autor bei einem Treffen in Frankfurts Buch & Wein verriet.

 

Christian Mitzenmacher - Knallkrebse.

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Christian Mitzenmacher – Knallkrebse
Frankfurter Verlagsanstalt März 2025, 256 Seiten, Hardcover, € 24,00

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Dirk Kurbjuweit – Nachbeben – Frankfurt liest ein Buch 2025 https://literaturreich.de/2025/07/05/dirk-kurbjuweit-nachbeben-frankfurt-liest-ein-buch-2025/ https://literaturreich.de/2025/07/05/dirk-kurbjuweit-nachbeben-frankfurt-liest-ein-buch-2025/#respond Sat, 05 Jul 2025 08:40:03 +0000 https://literaturreich.de/?p=20334 Das jährlich stattfindende Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch“ hatte sich für 2025 den Roman Nachbeben von Dirk Kurbjuweit ausgesucht. Nach den ganz aktuellen Titeln der vergangenen beiden Jahre, Deniz Ohdes Streulicht und Florian Wackers Zebras… Mehr

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Das jährlich stattfindende Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch“ hatte sich für 2025 den Roman Nachbeben von Dirk Kurbjuweit ausgesucht. Nach den ganz aktuellen Titeln der vergangenen beiden Jahre, Deniz Ohdes Streulicht und Florian Wackers Zebras im Schnee, wieder ein älterer Roman. Nachbeben erschien zum ersten Mal 2004. Das ist bedauerlicherweise im Buch nirgendwo gekennzeichnet, auch nicht im Impressum, so dass man annehmen könnte, es handelt sich um einen aktuellen Roman. Was dann wiederum verwundern könnte, denn so ganz gut gealtert ist das Werk nicht. Besonders einige Gedanken über/zu Frauen sind doch etwas angestaubt und lesen sich heute nicht mehr so wirklich passend. Auch nicht in der Figurenrede.

Überhaupt die Figuren. Selten bin ich einer solchen Ansammlung an Unsympathen und gleichzeitig Langweilern begegnet. Der etwas verschrobene Seismologe Luis, der neben seiner Lehrtätigkeit an der Goethe-Universität in Frankfurt auf dem Kleinen Feldberg im Vordertaunus die dortige Erdbebenwarte betreut, ist noch der sympathischste von ihnen. Völlig zurückgezogen lebt er im Blockhaus der 1913 durch finanzielle Zuwendungen der Baronin von Reinach gegründeten seismologischen Station – der Gatte von Reinachs hatte ein Faible für die Erdbebenforschung – und überwacht dort die weltweiten Ausschläge der Seismografen.

Auf dem Berg

Im Nachbarhaus lebt die Hausmeisterfamilie Kühnholz. Der Waffennarr Konrad – ein Ekelpaket in Person -, seine Frau Charlotte, deren einzig erkennbare Eigenschaft „schön“ ist und der in den 1960er Jahren kleine, herzige Sohn Lorenz, der als Kind eine starke Verbindung zu Luis entwickelt. 200 Tage Nebel im Jahr, keine Wasserleitungen, im Winter teils tagelang eingeschneit – das Leben in der kleinen Gemeinde auf dem Feldberg war offensichtlich kein Zuckerschlecken.

Die erzählte Zeit startet kurz vor der Wende im Juni 1989 mit einem leichten Erdbeben in der Region Köln. Lorenz, eigentlich schon als Angestellter der Bundesbank in Frankfurt tätig, macht Telefondienst auf der Erdbebenwarte und beruhigt dort verängstigte Anrufer:innen. Dabei verliebt er sich in die Stimme von Selma, fährt augenblicklich zu ihr nach Köln und die beiden werden ein Paar. Sie heiraten, neun Monate später kommt Sohn Horand auf die Welt. Schon diese Geschichte wirkt ziemlich unglaubwürdig.

Das Zusammenleben zwischen Selma und den Schwiegereltern auf dem Kleinen Feldberg ist problembelastet, Lorenz bei der Bundesbank karrieremäßig auf der Überholspur und so entschließen sich die beiden, eine viel zu teure Immobilie im teuren Kronberg zu kaufen und sich damit völlig zu verschulden. Eine fatale Entscheidung, denn der Stern von Lorenz und der der Bundesbank ist mit geplanter Abschaffung der D-Mark im Sinken begriffen. Lorenz selbst ist erklärter Euro-Gegner, auch das nicht unbedingt zukunftsträchtig in seiner Branche. Bei einer Geschäftsreise nach Albanien verliebt er sich nicht nur in die junge Laura, sondern verursacht einen Unfall, bei dem ein Kind stirbt. Nach Insidergeschäften – zu den Hausschulden kommen nun noch Forderungen aus Albanien, die den Geldbedarf steigern – verliert Lorenz seinen Job. Die Beziehung zu Selma kriselt heftig.

Reichlich viel

Reichlich viel, was hier im Vordertaunus zusammenkommt. Die Erschütterungen der Erde, die der Seismograf misst, sind nichts gegen die Erschütterungen in der Finanzwelt, der europäischen Politik, der Familie Kühnholz, der Ehe von Lorenz und Selma, mit denen sie ein bisschen zu deutlich parallelgesetzt werden. Dirk Kurbjuweit gelingt es in Nachbeben zwar gut, sein Wirtschafts- und Währungswissen (er ist studierter Volkswirt) und Interessantes über die Erdbebenforschung einzubringen, insgesamt kann der Roman aber nicht recht überzeugen. Die Figuren sind zu uninteressant, um darüber hinwegzutrösten, dass sie alle sehr unsympathisch sind. Das Frauenbild ist merkwürdig (welche Frau erzählt bei einem Anruf bei der Erdbebenwarte, dass sie ein grünes Höschen trägt; es sei denn, sie verdient sich ihr Geld mit Telefonsex) und die Trauer über den Verlust der D-Mark hat sich doch hoffentlich auch mittlerweile gelegt.

Das Buch hat durchaus auch gute Passagen. Die Atmosphäre auf der Erbebenwarte ist gelungen geschildert und auch die Wechsel der Ich-Perspektive von Luis auf eine distanziertere personale Perspektive von Lorenz funktionieren gut. Trotzdem hoffe ich, dass die Auswahl für Frankfurt liest ein Buch im nächsten Jahr für mich wieder mehr passt. Auch dass viele Veranstaltungen mit dem Buch abseits von Frankfurt stattfanden (zum Beispiel auf dem Kleinen Feldberg), war für unmotorisierte Besucher:innen von Nachteil.

 

Beitragsbild: Blick auf den Kleinen Feldberg von Von giggel, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

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Dirk Kurbjuweit  - Nachbeben.

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Dirk Kurbjuweit – Nachbeben 
Ausgewählt für »Frankfurt liest ein Buch« 2025
Penguin März 2025, Hardcover, mit Schutzumschlag, 224 Seiten, € 24,00

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Lektüre Juni 2025 https://literaturreich.de/2025/07/03/lektuere-juni-2025/ https://literaturreich.de/2025/07/03/lektuere-juni-2025/#respond Thu, 03 Jul 2025 16:31:55 +0000 https://literaturreich.de/?p=20469 Ein vielseitiger Monat war der Juni 2025, was meine Lektüre betrifft. Von politischem Sachbuch über Reisereportage und einem weltberühmten Klassiker zu ganz aktuellen Titeln. Endlich war auch mal wieder ein Debütroman dabei. Ein Buch habe… Mehr

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Ein vielseitiger Monat war der Juni 2025, was meine Lektüre betrifft. Von politischem Sachbuch über Reisereportage und einem weltberühmten Klassiker zu ganz aktuellen Titeln. Endlich war auch mal wieder ein Debütroman dabei. Ein Buch habe ich abgebrochen, was ich wirklich sehr, sehr selten tue, aber da hat es einfach nicht gepasst. Mit Tan Twang Engs Haus der Türen habe ich auch einen Anwärter für „Bücher des Jahres“ gelesen.

Jean-Baptiste Andrea - Was ich von ihr weißJean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß

2023 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet erzählt Jean-Baptiste Andrea hier eine ein ganzes Jahrhundert umspannende Geschichte. Sie folgt Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo, dessen Familie Anfang des Jahrhunderts aus Oberitalien nach Frankreich auswandern. Nach dem Tod des Vaters kann die Mutter den kleinen Mimo nicht mehr ernähren und schickt ihn zu Verwandten in ein kleines italienisches Dorf. Dort lernt er die unangepasste Viola aus der reichen, angesehenen Familie Orsini kennen und zeigt ein beeindruckendes bildhauerisches Talent. Der Roman spielt von Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, in denen Mimo als als alter Mönch in einem Kloster auf das Sterben wartet und sein Leben Revue passieren lässt. Es beleuchtet auch die gesellschaftlichen Veränderungen und den Aufstieg des Faschismus in Italien. Episch und unterhaltsam geschrieben.

 

pierre-jarawan-frau-im-mondPierre Jarawan – Frau im Mond

Auch Pierre Jarawan erzählt eine Familiengeschichte und greift in Rückblicken auf die Vergangenheit zu. Hier ist Lilit, die Tochter einer libanesischen Mutter und eines kanadischen Vaters, die Ich-Erzählerin, die sich auf die Spuren ihrer unbekannten, aus Armenien stammenden Großmutter Anoush begibt. Der Großvater Maroon ist mittlerweile 100 Jahre alt, lebt in einem Seniorenheim in Montréal und kann nur bedingt Auskunft über seine Frau geben, die über ihre frühen Jahre wenig erzäht hat. Aber er schwärmt von seinen Jahren in Beirut, wo er an der Libanese Rocket Society an einem libanesischen Weltraumprojekt gearbeitet hat. Lilit fliegt selbst nach Beirut und findet dort Menschen, die Anoush noch gekannt haben. Und wird beinahe Zeugin der verheerenden Expllosion im Beiruter Hafen 2020.

 

Christian Mitzenmacher - KnallkrebseChristian Mitzenmacher – Knallkrebse

Knallkrebse erzählt eine sommerleichte Freundschaftsgeschichte mit sehr ernstem Hintergrund. Der Münchner Physikstudent Tom wird in einem Programm für Geflüchtete Pate des sechzehnjährigen aus Quetta geflüchteten Farid. Die beiden werden Freunde. Zusammen mit Toms Freundin Laura bilden sie ein unzertrennliches Dreiergespann. Farid quälen aber immer wieder Erinnerungen an seine Traumatische Flucht, vor allem den Verlust des Mädchens Pari, und die Sorgen um seine in Pakistan zurückgebliebene Familie. Als Tom einen riskanten Entschluss Farids vereitelt, gerät er in eine psychische Krise. Psychologisch genau und immer wieder auch die eigene Perspektive als Erzähler überdenkend, ist Knallkrebse aber auch ein Sommerbuch mit vielen Dialogen, leicht und amüsant.

 

Niklas Maak – Durch Manhattan

2017 erschienen und deshalb sicher ein wenig in die Jahre gekommen, ist Durch Manhattan für mich aber beste Reiseliteratur und Stadt-Erzählung. Der Journalist  Niklas Maak und und die Künstlerin Leanne Shapton wandern zwei Tage von der Südspitze Manhattans bis zur Nordspitze der Insel an der 220. Straße. Ohne feste Route, mit sehr viel Gespür für zufällige Begegnungen und Besonderheiten auf der Strecke, ohne jedes touristisches Interesse  entsteht ein so ungewöhnliches wie faszinierendes Bild von New York. Habe ich sehr gern gelesen.

 

Anne Applebaum - Die Achse der AutokratenAnne Applebaum – Die Achse der Autokraten

Die Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2024 hat eine kluge Analyse darüber geschrieben, wie Demokratien systematisch ausgehöhlt, diffamiert und geschwächt werden und wie sich zu diesem Zweck die diversesten Autokratien zu fluiden Zweckbündnissen zusammenschließen. Eine bedrückende Analyse, die aber auch Auswege und Methoden aufzeigt, wie sich demokratische Gesellschaften gegen diese dem eigenen Machterhalt dienenden autokrtischen Bestrebungen widersetzen können. Wichtiges Buch!

 

Annett Gröschner - Schwebende LastenAnnett Gröschner – Schwebende Lasten

Ein ganzes Leben erzählt in einem so lakonischen wie berührenden Ton. Es ist die Geschichte der Floristin und später Kranfahrerin Hanna Krause aus Magdeburg, die im Kaiserreich geboren, zwei Weltkriege, zwei Demokratien, zwei Revolutionen und zwei Diktaturen erlebt und sechs Kinder geboren hat, von denen nur vier erwachsen wurden. Kein leichtes Leben, aber in all seiner Individualität doch so typisch für eine bestimmte Frauengeneration – millionenfach so ähnlich gelebt und doch weitgehend ungesehen. Annett Gröschners gibt denen ein Gesicht, die zu oft unsichtbar bleiben.

 

Kerstin Holzer - Thomas Mann macht FerienKerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien

Ein sommerlich leichter, sehr unterhaltsamer Beitrag zum diesjährigen Thomas-Mann-Jubiläumsjahr. Wir folgen im sommer 1918 der siebenköpfigen Familie Mann für zwei Monate an den Tegernsee, begleiten Ruderpartien, Spaziergänge mit dem Hund Bauschan, Hamstertouren, Schreibprozesse, Gedanken und Seelennöte und erhalten einen etwas anderen Blick auf den Schriftsteller und seine Familie. Gut recherchiert und niemals voyeuristisch.

 

Patrick Modiano - Die TänzerinPatrick Modiano – Die Tänzerin

Ein weiteres Mosaiksteinchen im großen Lebensbuch des Nobelpreisträgers Patrick Modiano trägt Die Tänzerin bei. Wir folgen wieder den Erinnerungen des Erzählers an frühere Jahre in Paris, rätselhafte Menschen, die er einst gekannt hat und die im Nebel verschwunden sind. Straßen, Cafés, Bars – es sind die dunkel, geheimnisvollen Stimmungen, die auch im neuesten, sehr schmalen Roman – vielleicht eher eine Erzählung – des Franzosen präsent sind.

 

Susanne Kaiser - Riot GirlSusanne Kaiser – Riot girl

Eine neue Ermittlerin aus München, der Beginn einer neuen Krimireihe mit der Forensikerin Obalski. Unter dem Hashtag Riotgirl kündigen Unbekannte Aktionen gegen das Patriarchat an, sollten nicht bestimmte Männer, die Gewalt gegen Mädchen ausüben endlich strafverfolgt werden und die entsprechenden Behörden endlich tätig werden.

Eine Brücke haben sie bereits zum Einstürzen gebracht und kündigen weitere Aktionen an. Obalski wird als verdeckte Ermittlerin ins Jugendamt eingschleust, wo sie Verbindung zu Mädchen aufnimmt, die eine merkwürdige Narbe tragen und auf unterschiedliche Weise Gewalt ausgesetzt sind. Auch in die soziale Medien, in denen sich die Gruppe der „Influenzas“ mit dem Hashtag Smash the patriarchy! organisiert, dringt sie ein. Bald wird ein Toter aus der Isar gezogen und von #riotgirl ein Ultimatum verkündet. Mich hat weder die Geschichte dieses feministischen Krimis – so wichtig das Augenmerk auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen und die oft praktizierte Untätigkeit der Behörden und der Polizei sind – noch die Sprache, die sich einer mehr oder weniger  – ich mag das nicht endgültig zu beurteilen, mich nervte es aber – authentischen Jugendsprache und vieler Begriffe aus den sozialen Medien bedient, so richtig überzeugt.

 

Ayelet Gundar-Goshen - Ungebetene GästeAyelet Gundar-Goshen – Ungebetene Gäste

Ayelet Gundar-Goshen taucht auch in ihrem neuen Roman tief in die menschlichen Abgründe ihrer Protagonist:innen hinein. Ein tragischer Unfall – der einjährige Sohn von Naomi wirft in einem unbeobachteten Augenblick den Hammer des arabischen Handwerkers über den Balkon und dieser trifft einen zufällig vorbeigehenden Passanten tödlich – zeigt nicht nur die gesellschaftlichen Verwerfungen in Israel, die Unterschiede in den Lebensbedingungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis, zwischen Arm und Reich, sondern auch die tiefsitzenden Ängste und Vorurteile zwischen den Bevölkerungsgruppen, die Auswirkungen des Schweigens, von Schuld, Scham und Rache. Außerdem wirft es einen Blick auf Mutter- und Partnerschaft.

 

velickovic-nachtgästeNenad Velickovic – Nachtgäste

Diesen Roman aus dem belagerten Sarajevo der 1990er Jahre, der 1995 erstmalig erschien, habe ich nach 2/3 leider abgebrochen. Ich bin mit der Erzählweise, der für mich nicht stimmigen naiv-distanzierten Perspektive der jugendlichen Maja und dem merkwürdigen Humor nicht warmgeworden. Schade. Die Stimmen zum Roman waren sehr positiv und der Inhalt mit der in einem Keller des Museums Schutz suchenden, bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft vielversprechend. Hat aber leider nicht gepasst.

 

Ursula Knoll - ZuckerUrsula Knoll – Zucker

Ein Roman auf auf verschiedenen Zeitebenen und mit vier verschiedenen Protagonistinnen und einem Geist, in dem Zucker eine Rolle spielt: um 1828 hat die ehemalige Sklavin Mary Prince mit ihrer Autobiografie, in der sie über ihr Leben auf den Zuckerrohrplantagen auf Bermuda berichtet, in London großen Erfolg; um 1848 erleben die Arbeiterin in einer Zuckerfabrik Dita und ihre spätere „Herrin“ Mathilde die Deutsche Revolution und den Siegeszug der einheimischen Zuckerrübe gegen das importierte Zuckerrohr; 1997 bis heute begleiten wir Paula, die u.a. an einer mit Zucker betriebenen Batterie arbeitet. Kunstvoll verwoben, voller spannender Fakten über das heutzutage umstrittene „weiße Gold“, humorvoll und unterhaltsam. Toller zweiter Roman von Usch Knoll.

 

Tan Twan Eng - Das Haus der TürenTan Twan Eng – Das Haus der Türen

Nicht mit auf dem Beitragsbild, da gerade noch beendet, ist Das Haus der Türen das Monatshighlight eines starken Lesemonats. Ein ganz wunderbar erzählter Roman.

1921: der weltberühmte Schriftsteller William Somerset Maugham ist mit seinem Sekretär und Geliebten Gerald in Penang/Malaysia zu Gast und findet bei seiner Gastgeberin Leslie Inspirationen zu neuen Geschichten. Macht sofort Lust, wieder einmal zu Maughams Erzählungen zu greifen.

 

 

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Patrick Modiano – Die Tänzerin https://literaturreich.de/2025/06/30/patrick-modiano-die-taenzerin/ https://literaturreich.de/2025/06/30/patrick-modiano-die-taenzerin/#respond Mon, 30 Jun 2025 18:23:48 +0000 https://literaturreich.de/?p=20337 1991 erschien ein Büchlein – Cathérine, die kleine Tänzerin, gewohnt zauberhaft bebildert von Jean-Jacques Sempé -, das vielleicht eine Art Vorläuferin des aktuellen Werks von Patrick Modiano war. Wie alle Werke des Literaturnobelpreisträgers ist es… Mehr

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1991 erschien ein Büchlein – Cathérine, die kleine Tänzerin, gewohnt zauberhaft bebildert von Jean-Jacques Sempé -, das vielleicht eine Art Vorläuferin des aktuellen Werks von Patrick Modiano war. Wie alle Werke des Literaturnobelpreisträgers ist es sehr schmal. Die Tänzerin nun mag man mit seinen knapp 93 Seiten kaum mehr Roman nennen. Und doch enthält es die ganze Modiano-Welt.
Es ist eine trüb beleuchtete Welt, meist in die 1950er oder 1960er Jahre zurückführend, fast immer in Paris beheimatet und bevölkert mit „gewissen“, oft geheimnisvollen oder gar zwielichtigen Gestalten, die teilweise von anderen Werken Modianos bekannt sind. Es ist die Jugend der jeweiligen Erzähler und die des Autors, in die die Texte rückblickend eintauchen. Der Erinnerungsstrom wird stets von einer Begegnung, einem Gegenstand, einem Brief ausgelöst. So auch in Die Tänzerin.

„(…)die gleichen Situationen, die gleichen Schritte, die gleichen Gesten wiederholen sich über die Zeit hinweg. Und sie sind nicht verloren, sondern auf alle Ewigkeit eingeschrieben in die Trottoirs, Mauern und Bahnhofhallen dieser Stadt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen.“

Begegnung in Paris

An einer Ampel steht der Erzähler plötzlich einem „alten Bekannten“ gegenüber, der zunächst aber leugnet, dieser ehemalige Kneipenbesitzer Serge Verzini zu sein, der ihm in seiner Jugend ein Mansardenzimmer vermietet hatte und über den er die Bekanntschaft mit der Tänzerin machte. Was die beiden verband, wird nie so wirklich deutlich, vielleicht eine Freundschaft, vielleicht auch eine Liebesbeziehung. Er kümmert sich zumindest häufig um ihren Sohn Pierre, bringt und holt ihn zur und von der Schule, geht mit ihm ins Kino, passt auch mal nachts auf ihn auf, wenn die Mutter Auftritte hat. Es gibt aber auch noch Hovine, der den Haushalt der Tänzerin zu führen scheint und für Pierre sorgt. Es sind wie immer bei Modiano flüchtige Identitäten, geisterhafte Schatten, die das Romanpersonal stellen. Die Erinnerungen liegen 60 Jahre zurück, sind diffus geworden, unzuverlässig.

„Die Luft war mild, fast sommerlich, und doch scheint mir, es war November. Und ich bin überzeugt, die Bäume hatten noch ihre Blätter.“

Unzuverlässig wie der Erzähler. Manchmal behauptet er, sich an gar nichts mehr erinnern zu können, dann sprudelt er komplexe Namen und Adressen hervor, beides auch charakteristisch für die Texte von Patrick Modiano. Die Vergangenheit verschwimmt, aber die Details stechen überdeutlich hervor. Überhaupt, was heißt schon Vergangenheit. In Die Tänzerin macht der Erzähler, der hier sicher mit dem Autor in eins gesetzt werden kann, deutlich, was er von Vergangenheit hält:

„Ich dachte, die Erinnerung an sie käme zu mir, wie das Licht von einem seit tausend Jahren erloschenen Stern, nach den Worten eines Dichters. Nein. Es gab keine Vergangenheit, keinen erloschenen Stern und keine Lichtjahre, die uns für immer voneinander trennen, es gab nur diese ewige Gegenwart.“

Lebensbuch

Der angehende Dichter, der ein wenig ziellos durch Paris treibt, die Tänzerin, die Unterricht bei dem realen Balletttänzer Boris Kniasoff (1900-1975) nimmt, um durch Disziplin und Ordnung Struktur in ihr Leben zu bringen und die bis zum Ende namenlos bleibt, und der kleine, einsame Pierre – Patrick Modiano und seine unglückliche Kindheit, seine Jugend in Paris kann man vielleicht in allen dreien durchschimmern sehen. Auch Die Tänzerin ist ein Mosaiksteinchen im großen Lebensbuch von Modiano, das von seinen mittlerweile vierzig Büchern gebildet wird. Melancholisch, leicht, knapp und tänzerisch schwebend und uneindeutig. Neu ist vielleicht, dass sich der Erzähler aus einer konkret benannten Gegenwart, der Post-Covid-Zeit von 2022/23 zurückerinnert und das touristische Paris kritisch beäugt.

„Wir lebten seit drei Jahren in so schwierigen Zeiten, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Und die Welt um mich herum hatte sich derart schnell verändert, dass ich mich in ihr als Fremder fühlte.“

In diesem Jahr feiert Patrick Modiano seinen 80. Geburtstag. Sein literarisches Werk zählt für mich zu den faszinierendsten überhaupt. Es braucht, glaube ich, einen Zugang, den man nicht erzwingen und nicht erklären kann. Hat man ihn gefunden, taucht man mit jedem der schmalen Bände ein wenig ein in diese „ewige Gegenwart“.

Unterwegs nach Chevreuse und viele weitere Links zu Modiano-Besprechungen

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Patrick Modiano - Die Tänzerin.

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Patrick Modiano – Die Tänzerin
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag März 2025, Hardcover, 96 Seiten, 20,00 €

 

 

 

 

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Matthias Lohre – Teufels Bruder – Kurz vorgestellt https://literaturreich.de/2025/06/29/__trashed-3/ https://literaturreich.de/2025/06/29/__trashed-3/#comments Sun, 29 Jun 2025 08:52:13 +0000 https://literaturreich.de/?p=20353 Matthias Lohre erzählt in Teufels Bruder vom Jahr 1896 – Die Brüder Thomas und Heinrich Mann stehen noch ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Thomas ist gerade volljährig geworden und lebt wie sein vier Jahre… Mehr

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Matthias Lohre erzählt in Teufels Bruder vom Jahr 1896 – Die Brüder Thomas und Heinrich Mann stehen noch ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Thomas ist gerade volljährig geworden und lebt wie sein vier Jahre älterer Bruder von den eher dürftigen Zinserträgen des väterlichen Vermögens, das der Vater, Senator Thomas Johann Heinrich Mann, vor seinem Tod 1891 unter die Verwaltung eines Vormunds gestellt hat. Dieser steht den journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen der Brüder skeptisch gegenüber. So ist für diese die Notwendigkeit, Geld zu verdienen stets Hindernis für die angestrebte literarische Karriere und das freie Autorenleben. Der zielstrebigere Heinrich hat bereits einige literarische Erfolge und ist kurzzeitig Herausgeber der nationalchauvinistischer Monatsschrift „Das zwanzigste Jahrhundert“, für die auch Thomas Beiträge schreibt. Eine Anstellung beim satirischen Magazin Simplicissimus reizt diesen hingegen wenig. Lieber möchte er seinen Italien-Aufenthalt mit Heinrich verlängern.

Venedig, Rom, Neapel und Palestrina

Venedig, Rom, Neapel und Palestrina stehen auf dem Reiseplan. Man versucht Vorschüsse für Novellenbände zu erhalten und Erzählungen zu verkaufen, so recht will das nicht gelingen. Während Heinrich eine Affäre mit einer italienischen Schauspielerin beginnt, trifft Thomas einen faszinierenden 15-Jährigen, dem er hinterherreist und den er obsessiv verfolgt, – und entdeckt die Liebe zu Hunden. Der Grundstein so manches Werks der Brüder scheint hier gelegt worden zu sein. Nicht zuletzt der 1901 erscheinende Roman „Buddenbrooks“.

Spekulationen Thomas sei während des Italienaufenthalts einem Strichjungen begegnet und möglicherweise in ein Verbrechen verwickelt gewesen, webt Matthias Lohre in eine atmosphärisch stimmige Handlung, die an den „Tod in Venedig“ erinnert und auch stark von der schwierigen Beziehung der beiden Brüder bestimmt wird. Thomas bewundert den älteren und erfolgreicheren Heinrich, ist von dessen Lebenswandel aber auch abgestoßen. Heinrich leidet immer noch unter der Abneigung seines Vaters. Ein Verhältnis in Hassliebe und Konkurrenz der so gegensätzlichen, von Lohre einfühlsam und psychologisch interessant dargestellt. Zudem lassen sich viele Anspielungen, Bezüge und indirekte Zitate finden, was Spaß macht. Kurz vor seinem Tod hat Thomas Mann wohl geäußert, er sei bei jener Italienreise dem leibhaftigen Teufel begegnet. Eine Begegnung, die ihn zu seinem „Doktor Faustus“ inspiriert habe und in der Lohres Roman kulminiert. Teufels Bruder ist sicher eine der gelungensten, originellsten und lesenswertesten Neuerscheinungen im Thomas-Mann-Jubiläumsjahr.

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Matthias Lohre - Teufels Bruder.

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Matthias Lohre – Teufels Bruder 
Piper Januar 2025, 544 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 25,00

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Charline Effah – Die Frauen von Bidi Bidi https://literaturreich.de/2025/06/26/charline-effah-die-frauen-von-bidi-bidi/ https://literaturreich.de/2025/06/26/charline-effah-die-frauen-von-bidi-bidi/#respond Thu, 26 Jun 2025 08:44:47 +0000 https://literaturreich.de/?p=20332 Das Camp Bidi Bidi in der Provinz Yumbe im Nordwesten Ugandas gilt als die zweitgrößte Siedlung für Geflüchtete weltweit. Bis zu 270.000 Menschen finden hier Zuflucht, die meisten davon sind seit 2016 vor dem Bürgerkrieg… Mehr

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Das Camp Bidi Bidi in der Provinz Yumbe im Nordwesten Ugandas gilt als die zweitgrößte Siedlung für Geflüchtete weltweit. Bis zu 270.000 Menschen finden hier Zuflucht, die meisten davon sind seit 2016 vor dem Bürgerkrieg im Südsudan geflohen. Eine erste Station, aber lange noch keine sichere Bleibe, zumal nicht für Frauen und Mädchen. Das macht die in Gabun geborene und nun in Paris lebende Autorin Charline Effah in ihrem Roman Die Frauen von Bidi Bidi deutlich.

„Dies ist die Geschichte von Kriegen,
die Frauen zugrunde richten.
Denn bewaffnete wie intime Kriege werden
am weiblichen Körper ausgetragen.
Jenen Frauen, die fallen, und jenen, die sich wieder
aufrichten, in der Hoffnung auf ihre Heilung.“

Das stellt sie ihrem Roman voran. Sie erzählt darin von Minga, einer Afrikanerin, die in Paris aufgewachsen ist. Ihre Eltern leben dort im 18. Arrondissement. Der Vater, ein Maler, schlägt seine Frau Joséphine immer wieder, fühlt sich von ihr nicht als Mann akzeptiert, meint, Frauen seien undankbar und „Männer verdienten etwas mehr Anerkennung dafür, sie aus der Schande der Ehelosigkeit befreit zu haben.“

„Unter seine Ratlosigkeit mischte sich die Verachtung eines Mannes, der sich in einer Gesellschaft, die sich zu schnell gewandelt hatte, verloren fühlte.“

Flucht nach Bidi Bidi

Irgendwann wird es der Krankenschwester Josephine zu viel und sie verlässt Mann und kleine Tochter, um im Geflüchtetenlager Bidi Bidi zu arbeiten. Aus der zunächst begrenzt geplanten Zeit werden vierzig Jahre. Joséphine kehrt nicht zurück. Der Vater ist am Boden zerstört, lässt seine Tochter reumütige Briefe schreiben, fleht, dass die Mutter zurückkommt. Vergebens. Warum sie ihn verlassen hat, begreift er immer noch nicht.

Nach dem Tod des Vaters entdeckt Minga, dass ihr die Mutter regelmäßig geschrieben und über ihr Leben in Bidi Bidi erzählt hat. Sie hat diese sehnsüchtig erwarteten Briefe nie erhalten, die Spur der Mutter in Uganda hat sich seitdem längst verloren. Nun beschließt sie, nach Afrika zu fliegen und nach ihrer Mutter zu suchen.

Es sind die Frauen, die sie in Bidi Bidi trifft, die Charline Effah so plastisch und ambivalent beschreibt, dass man sie als Leser:in nicht vergisst. Veronika, die mit Mose, dem Vorsteher von Village 10, die einzige sympathische Männerfigur zum Mann hat. Er versteht seine eigenen Geschlechtsgenossen nicht, die ihre Frauen mit roher Gewalt unterdrücken und auch andere Frauen bedrohen. Er versucht, den Bewohnerinnen so gut es geht zu helfen, aber auch er stößt da oft an seine Grenzen. Und die sind auch der Autorin bewusst.

„Die Bewohner von Bidi Bidi seien solche Besuche gewohnt und hätten genug von den Journalisten, Schriftstellern und politischen Vertretern, die kommen, um sie nach ihrem Elend auszufragen. Denn trotz der Proteste in den Reihen der Menschenrechtsaktivisten, der Schlagzeilen der feministischen Presse, der Petitionen, die Unterstützer über soziale Netzwerke verbreiten (…) kommt man nicht umhin, zu fragen: Und was dann?“

Alleinstehende Frauen und Mädchen als Freiwild

Alleinstehende Frauen und Mädchen sind oft Freiwild, werden missbraucht, sind ihres Lebens nicht sicher, so wie Jane Kanyingo, die mit ihrem kleinen Sohn Jonathan in Bidi Bidi lebt. Oder Rose Akech, deren Mann Guerillakämpfer ist, die auf der Flucht ihre beiden Zwillingsbabys verlor und deren schreckliches Ende zu Beginn schon angedeutet, aber erst allmählich enthüllt wird.

Die Frauen von Bidi Bidi ist auch ein Buch über weibliche Solidarität, allerdings ohne das Lagerleben zu romantisieren.

„Die gemeinsamen Tragödien machten die Menschen nicht solidarischer. Ein tief sitzender Hass auf die Anderen schürte Neid, Feindseligkeiten und Kämpfe. Die gemeinsamen Tragödien mündeten nicht in Geschwisterlichkeit. Im Gegenteil. Durch das Zusammenleben im Lager traten die Feindseligkeiten, von denen es unter einer Schicht zurückgehaltener Wut, verdrängter Sehnsüchte, entrissener Worte und trüber Horizonte nur so wimmelte, offen zutage.“

Es ist eine Binsenwahrheit, aber sie wird deshalb nicht weniger bedrückend: Frauen und Kinder leiden unter den weltweiten Konflikten und Kriegen am meisten. Die Körper von Frauen werden bedroht, geschändet, vernichtet. Und solange es Männer sind, die diese Kriege führen, wird sich das wohl nicht ändern. Aber es muss dagegen angekämpft, angeschrieben werden. So wie das Mingas Mutter Joséphine getan hat. Und wie das Charline Effah in ihrem so aktuellen wie spannenden Buch tut.

Minga wird ihre Mutter nicht finden. Aber sie kehrt verändert zurück.

„Minga, „Frau“ in der Muttersprache meiner Mutter. Ich spürte all die Frauen in mir und wollte ihnen weder entkommen noch versuchen, sie zu verdrängen. Dann trat ich nach draußen in die Stadt. Die Straßen von Paris waren voller Menschen, die ich nicht sehen, Menschen, die ich nicht hören konnte. Denn in mir hallten nur die Stimmen der Frauen von Bidi Bidi.“

 

Beitragsbild Bidi Bidi by Frenciscobcn, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Charline Effah  - Die Frauen aus Bidi Bidi.

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Charline Effah – Die Frauen von Bidi Bidi
Aus dem Französischen von Ela zum Winkel
Orlanda März 2025, gebunden, 224 Seiten, € 23,00

 

 

 

 

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Michèle Yves Pauty – Familienkörper – Kurz vorgestellt https://literaturreich.de/2025/06/23/michele-yves-pauty-familienkoerper-kurz-vorgestellt/ https://literaturreich.de/2025/06/23/michele-yves-pauty-familienkoerper-kurz-vorgestellt/#comments Mon, 23 Jun 2025 09:10:12 +0000 https://literaturreich.de/?p=20015 Die Autorin und Fotografin Michèle Yves Pauty beweist in ihrem Debütroman Familienkörper, dass man Familiengeschichte auch ganz anders als gewohnt schreiben kann. In ihrem Text fasst sie die Familie als zusammenhängender Körper. Die Mitglieder sind… Mehr

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Die Autorin und Fotografin Michèle Yves Pauty beweist in ihrem Debütroman Familienkörper, dass man Familiengeschichte auch ganz anders als gewohnt schreiben kann. In ihrem Text fasst sie die Familie als zusammenhängender Körper. Die Mitglieder sind ineinander verwoben, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur durch ihre Beziehungen zueinander, sondern auch durch das, was in den Familien vererbt wird. Vererbt mit Stolz oder Scham, unbewusst oder absichtsvoll, für alle deutlich oder ganz unbemerkt. Das sind Verhaltensweisen, Ansichten, Haltungen, in die machtvoll äußere Umstände wie Herkunft, Klasse, Bildung und Geschlecht hineinspielen, aber auch ganz greifbare körperliche Dinge, wie Aussehen, Körpermerkmale oder auch Krankheiten bzw. Veranlagungen dazu.

Gerade auch um letztere geht es der Autorin in ihrer Geschichte über drei Frauengenerationen. Die Ich-Erzählerin wächst in den 1980er Jahren mit ihrer Schwester in Innsbruck in Tirol auf. Man wohnt dort im ehemaligen olympischen Dorf, später zieht die Familie aus der Stadt hinaus an den Rand. Das Familiengefüge ist durch die Generationen hindurch nicht unproblematisch. Enttäuschungen, Entbehrungen prägen sich in den „Familienkörper“ ein. Unglückliche Ehen, lieblose, überforderte Mütter, versagende Väter.

„Wie geht es sich um mit den Vätern, die Schattenfugen in die Kindheit setzen? Warum haben wir es Normalität genannt, wenn sie Blut aus den Müttern schlagen?“

Medical Gaslighting

Auch Krankheiten werden vererbt. Die Frauen des Familienkörpers leiden u.a. an Hashimoto-Tyreoditis (einer autoimmunbedingten Zerstörung der Schilddrüse) und Unterleibsproblemen. Die Medizin behandelt weibliche Beschwerden anders als männliche, nimmt sie oft nicht ernst, tut sie als psychisch bedingt ab. Das wird in den letzten Jahren immer deutlicher. Man spricht von „medical gaslighting“. Auch das prägt sich in den Familienkörper ein.

Michèle Yves Pauty erzählt in Fragmenten, zersplittert ihre Erzählung in kaleidoskopartigen, unchronologisch erzählten Episoden und verwebt zeitgeschichtliche Informationen, zum Beispiel zum Reaktorunglück von Tschernobyl hinein. Ganz langsam setzt sich daraus ein Bild von Familie und der sie umgebenden Welt zusammen. Das macht es beim Lesen nicht unbedingt einfach. Ich mochte aber den zarten, tastenden, poetischen Erzählton und habe mich gern mitnehmen lassen. Verloren gegangen bin ich nie, aber am Ende mit dem dringenden Wunsch angekommen, das Ganze noch einmal zu lesen. Mich nochmals in diesen toll erzählten Familienkörper zu begeben.

 

Michéle Yves Pauty - Familienkörperx.

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Michèle Yves Pauty – Familienkörper
Haymon März 2025, 208 Seiten, gebunden, 23,90 €

 

 

 

 

 

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Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter https://literaturreich.de/2025/06/20/simon-stranger-museum-der-moerder-und-lebensretter/ https://literaturreich.de/2025/06/20/simon-stranger-museum-der-moerder-und-lebensretter/#respond Fri, 20 Jun 2025 08:58:02 +0000 https://literaturreich.de/?p=20361 2019, Norwegen war Gastland der Frankfurter Buchmesse und es erschienen ungewohnt viele norwegische Bücher in deutscher Übersetzung, las ich Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger. Ich hatte den Autor auf der Messe kurz treffen… Mehr

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2019, Norwegen war Gastland der Frankfurter Buchmesse und es erschienen ungewohnt viele norwegische Bücher in deutscher Übersetzung, las ich Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger. Ich hatte den Autor auf der Messe kurz treffen dürfen und war sehr fasziniert von der persönlichen Geschichte, die er da vorstellte. In Form einer Enzyklopädie präsentierte er die Familiengeschichte seiner Frau Rikke während und kurz nach der deutschen Besatzungszeit 1940-45. Die Familie hat jüdische Wurzeln und musste nach Schweden fliehen, um zu überleben. Nach der Rückkehr lebten sie – zuerst unwissend – in der Folterzentrale eines der übelsten Kollaborateure Norwegens. In seinem neuen Roman Museum der Mörder und Lebensretter erzählt Simon Stranger davon unabhängig ein weiteres Kapitel der düsteren Vergangenheit Norwegens der Besatzungsjahre. Und auch dafür fand er wieder eine familiäre Grundlage.

Bei Recherchearbeiten zu der Familiengeschichte seiner Frau stieß der Autor auf eine ganz unglaubliche Geschichte: Die beiden norwegischen Fluchthelfer, die die Großmutter seiner Frau, Ellen Glott, und ihre Familie 1942 sicher und ohne Lohn über die Grenze nach Schweden brachten (und dies wohl unzählige Male zuvor und danach ebenso), töteten kurz davor ein jüdisches Ehepaar, das sie begleiten sollten, und versenkten ihre Leichen in einem See. Erst Monate später trieben die mit Steinen beschwerten Leichen an die Wasseroberfläche und wurden entdeckt. Auch die Täter wurden identifiziert, verhaftet und angeklagt. Nach dem Krieg wurden die beiden Täter allerdings freigesprochen. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? Und wie dazu, dass aus zigfachen Lebensrettern, Mitgliedern des norwegischen Widerstandes, die oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens arbeiteten, brutale Mörder eines älteren Ehepaars werden konnten?

Ein Museum der Erinnerungen

Simon Stranger baut auch seinen neuen Roman auf eine ganz besondere Weise auf. War es bei Vergesst unsere Namen nicht die enzyklopädische Ordnung der Stichworte von A-Z, bilden die einzelnen Kapitel dieses Mal die Räume eines Museums nach. In ihnen sind Museumsobjekte wie Zeitungsartikel, persönliche Gegenstände, Gerichtsakten, Fotos angeordnet, an denen entlang er die Geschichte der Flucht von Ellen parallel zur Geschichte des Ehepaars Rakel und Jacob Feldmann und ihrer Ermordung erzählt. Wie in einer literarischen Reportage verfolgen wir auch die Spurensuche des Autors, seine Recherchen, seine Zweifel, seine Mutmaßungen. Natürlich kann er nicht wissen, was die Beteiligten damals gedacht, gefühlt, gesagt haben. Er füllt dies mit Fiktion.

Die Geschichte, die er erzählt, ist spannend wie ein Krimi und führt anschaulich die Zerrissenheit Norwegens während der deutschen Besatzung vor Augen. Unter Ministerpräsident Vidkun Quisling von der Nasjonal Samling wurden die (vergleichweise sehr wenigen) norwegischen Juden und Jüdinnen verfolgt, an die Deutschen ausgeliefert und deportiert. Wenn ihnen nicht die Flucht nach Schweden gelang, so wie der Familie von Simon Strangers Ehefrau. Und auch eine passende Anekdote aus seiner eigenen Familie erzählt der Autor. Eine der Quellen, die er für seine Romane studiert hat, das üble Propagandawerk „Der Untermensch“ (Umennesket), wurde von der Druckerei seines Urgroßvaters Sigurd Wahl gedruckt. Nicht zuletzt hinterfragt Stranger sich und seine Nachforschungen immer wieder selbst.

„Wer wäre ich während des Krieges gewesen, der ich als Jugendlicher so aufgeschlossen war, so offen und empfänglich für große Ideen? Hätte ich zu jenen gehört, die sich von den Strömungen dieser Zeit mitreißen ließen?“

Formal, inhaltlich und stilistisch überzeugt Simon Stranger mit seinem Museum der Mörder und Lebensretter, das mit einer Vielzahl von Schwarz-Weiß-Fotos ergänzt wird, und erhält von mir eine klare Leseempfehlung.

 

Beitragsbild: Syltefjord CC0 via digitaltmuseum.org

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Simon Stranger - Museum der Mörder und Lebensretter.

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Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter
Übersetzt von Thorsten Alms
Hardcover, 368 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

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Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe https://literaturreich.de/2025/06/18/hannes-koehler-zehn-bilder-einer-liebe/ https://literaturreich.de/2025/06/18/hannes-koehler-zehn-bilder-einer-liebe/#respond Wed, 18 Jun 2025 08:32:31 +0000 https://literaturreich.de/?p=20325 Einen zeitgemäßen, authentischen Liebesroman, ohne aufgeblasene Gefühle, langweiliges Gefühlswirrwarr oder Überproblematisierungen und ohne Kitsch und misslungene Sexszenen – gibt es das überhaupt? Kaum, dachte ich und meide deshalb dieses Genre mittlerweile weitgehend. Hannes Köhler hat… Mehr

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Einen zeitgemäßen, authentischen Liebesroman, ohne aufgeblasene Gefühle, langweiliges Gefühlswirrwarr oder Überproblematisierungen und ohne Kitsch und misslungene Sexszenen – gibt es das überhaupt? Kaum, dachte ich und meide deshalb dieses Genre mittlerweile weitgehend. Hannes Köhler hat mit Zehn Bilder einer Liebe tatsächlich die Quadratur des Kreises geschafft und einen Roman über eine Liebe geschrieben, den ich nicht nur äußerst gern gelesen habe, sondern der mir auch im Nachgang noch sehr nah ist.

Zehn Bilder, zehn Szenen und Momentaufnahmen der Liebe von Luisa und David, die im Jahr 2023 und gleich mit einem „Fehlschlag“ beginnen. Dieser findet in einer Kinderwunschpraxis statt, und was da fehlgeschlagen ist, ist Davids Samenspende. Luisa hat sich – eher widerwillig – sie hat bereits aus einer früheren Beziehung Tochter Ronya – einer Fertilitätsbehandlung und Insemination unterzogen. Ein teures und nervenzehrendes Verfahren. Aber David wünscht sich, obwohl er die siebenjährige Ronya mittlerweile liebt wie eine eigene Tochter und die Beziehung zu ihr eng und liebevoll ist, ein weiteres Kind. Sein Traum von einer Familie ist der einer „Bande“ und resultiert vielleicht aus seinem Einzelkind-Dasein. Er sehnt sich nach einer festen, sicheren, gerne auch chaotisch-trubeligen Gemeinschaft. Eine Sehnsucht, die die eigentlich glückliche und harmonische Patchworkfamilie vor eine Zerreißprobe stellt.

Unerfüllter Kinderwunsch

Der zunehmende Druck des unerfüllten Kinderwunsches addiert sich zu den Herausforderungen des Alltags, dem Leben als Familie, der Berufstätigkeit beider. Luisa ist in ihrem Job als Küchenchefin stark eingebunden, David hat nach der Aufgabe seines Jura-Studiums mit Freunden eine Bootswerkstatt übernommen, restauriert nun Schiffe und hat offensichtlich seinen Traumberuf gefunden. Es läuft gut bei den beiden, wäre da nicht Davids unbändiger Sehnsucht nach einem weiteren Kind.

Von dieser Gegenwartebene schweifen die „Bilder“ immer wieder in die Vergangenheit, zunächst zu Luisa und Davids Kennenlernen 2012 auf der griechischen Insel Milos. Die Begegnung in einer Strandbar blieb damals folgenlos, zu weit waren die beiden voneinander entfernt. David war 19 und verbrachte einen letzten Urlaub mit seinen Eltern, Luisa war 30 und bereits verheiratet mit Holger.

Sieben Jahre später treffen sich Luisa und David zufällig in Berlin wieder. Sie hat sich zwischenzeitlich von Holger getrennt, hat keine große Lust auf eine neue feste Beziehung. Zu enttäuscht ist sie von Holgers mangelndem Einsatz als Vater. Dabei hatte er sie dazu überredet, dieses Kind, Ronya, zu bekommen. David muss erst allmählich ihre Bindungsangst überwinden, schafft das, auch durch seine große Nähe zu Ronya.

Zehn Szenen einer Beziehung

Hannes Köhler wählt für seine zehn Bilder einer Liebe neben dem Kennenlernen und der Wiederbegegnung den Moment des Zusammenziehens, den Unfalltod von Davids Eltern und die Corona-Pandemie, in der Luisas Mutter Marta verstirbt. Dazwischen wird immer wieder in die Gegenwartebene des Jahres 2023 geblendet. Sowohl Luisa als auch David erhalten für jedes Bild eine eigene personale Perspektive. Diese Perspektiven verschieben sich manchmal ein wenig gegeneinander, wiederholen sich aber nicht. Umklammert werden sie von Szenen eines erneuten gemeinsamen Aufenthalts auf Milos. Das klingt nach einer komplizierten Konstruktion, liest sich aber völlig organisch und schlüssig. Gerade diese Formung des Textes ist eine der vielen Stärken des Romans.

Eine weitere Stärke sind die authentischen, durchaus ambivalenten Charaktere: die spontane, etwas chaotische Luisa ist mit ihrer alleinerziehenden, geschiedenen Mutter Marta, einer überzeugten DDR-Bürgerin, ebendort aufgewachsen. Auch nach Martas Tod, hat sie die Stimme ihrer pragmatischen Mutter im Ohr. Die beiden hatten ein Verhältnis mit so viel Nähe wie Distanz. David hingegen ist sehr behütet in Westdeutschland aufgewachsen.
Einfühlsam und ungeschönt beschreibt Hannes Köhler, wie die beiden zueinander finden, zusammenwachsen, ihre Autonomie verteidigen. Ihm gelingen glaubhafte Szenen eines Lebens als Familie, wobei ihm alternative Modelle so nah sind wie Davids Traum von einer „Familien-Bande“. Die Herausforderungen, die der Alltag an eine Beziehung stellt, und die Kraft, die es braucht, um diese zu bewahren, schildert er so einfühlsam wie unsentimental. Mit Zehn Bildern einer Liebe hat Hannes Köhler auch mich Liebesroman-Verächterin völlig überzeugt.

 

Beitragsbild von Gertrud K. (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

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Hannes Köhler - Zehn Bilder einer Liebe.

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Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe
Frankfurter Verlagsanstalt März 2025, Hardcover, 224 Seiten, € 24,00

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Alan Murrin – Coast Road https://literaturreich.de/2025/06/15/alan-murrin-coast-road/ https://literaturreich.de/2025/06/15/alan-murrin-coast-road/#comments Sun, 15 Jun 2025 08:38:54 +0000 https://literaturreich.de/?p=20329 1994, ein kleine Gemeinde im irischen County Donegal, im Norden des Landes. Colette Crowley kehrt nach einer gescheiterten Flucht aus der provinziellen Enge und Kontrolle zurück nach Ardglas, in dem sie Mann und drei Söhne… Mehr

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1994, ein kleine Gemeinde im irischen County Donegal, im Norden des Landes. Colette Crowley kehrt nach einer gescheiterten Flucht aus der provinziellen Enge und Kontrolle zurück nach Ardglas, in dem sie Mann und drei Söhne zurückgelassen hatte. Mit einem verheirateten Mann lebte sie eine Zeitlang in Dublin zusammen und versuchte als Dichterin und Schriftstellerin Fuß zu fassen. Die Beziehung zerbrach und der berufliche Erfolg blieb aus. Alan Murrin erzählt in seinem sehr gelungenen Debütroman Coast Road, für den er bei den Irish Book Awards 2024 als „Newcomer of the year“ ausgezeichnet wurde, wie schwer Colette diese Rückkehr nicht nur von ihrem Ex-Mann Shaun gemacht wird.

Es ist kaum zu glauben, dass Scheidungen in Irland bis 1996 verboten waren. Erst im November 1995 erhielt ein Referendum für deren Legalisierung eine hauchdünne Mehrheit von weniger als 1 Prozent und wurde dann am 17. Juni 1996 umgesetzt. Auch heute noch sind die Regeln für eine Scheidung in Irland besonders streng. Colette konnte sich also von ihrem Mann nicht scheiden lassen, ihr Fortgehen galt als skandalös, wurde streng verurteilt und sorgt in der Kleinstadt für reichlich bösartigen Klatsch. Shaun, der mittlerweile eine neue Partnerin hat, verbietet ihr erfolgreich jeglichen Umgang mit ihren Kindern. Besonders für den kleinen Carl ist das sehr schwer, während der pubertierende Barry gegen die Mutter rebelliert. Um trotzdem in ihrer Nähe zu sein, mietet sich Colette im etwas maroden Sommercottage von Donal Mullen ein und verdient sich Geld mit Schreibworkshops.

Patriarchat, Provinz und Katholizismus

Damit gehört sie durch Bildung und finanzielle Mittel schon zu den privilegierteren Frauen. Andere, wie Donal Mullens Frau Dolores, können an eine Trennung von ihren Männern schon aus ökonomischen Gründen gar nicht denken. Dabei leiden auch sie unter dem rohen Chauvinismus eines kaum infrage gestellten Patriarchats in der katholischen Provinz. Hier haben die Männer uneingeschränkt das Sagen, es herrschen verbreitet Misogynie und Gewalt. Donal Mullen geht ständig fremd, seine Frau ist währenddessen bereits das vierte Mal kurz hintereinander schwanger. Und er hat schon ein Auge auf die neue Mieterin geworfen, die in ihrer Einsamkeit und Isolation unbegreiflicherweise eine Affäre mit ihm anfängt. Und auch zunehmend ihren Alkoholkonsum steigert.

Auch Izzy Keaveneys Ehe mit dem herrschsüchtigen Lokalpolitiker James ist unglücklich. Sie fühlt sich vernachlässigt, eingeengt, kontrolliert. Halt findet sie in der Kirche und bei Pater Brian, der als einzige männliche Gestalt in Coast Road von Alan Murrin sympathisch gezeichnet wird. Durch ihre Teilnahme an Colettes Schreibworkshop kommen die beiden sich näher und freunden sich an. Schließlich hilft Izzy Colette sogar, heimlich ihren kleinen Sohn Carl zu treffen. Was leider nicht lange unentdeckt bleibt.

Dialogreich, empathisch und humorvoll

In einer Prosa mit viel Dialoganteil, empathisch und humorvoll, entwickelt Alan Murrin in Coast Road drei weibliche, durchaus ambivalente Charaktere. Sie sind Opfer der Männer und mit ihrer teils bösartigen Klatschsucht, ihrem Neid und ihrer fehlenden Solidarität zugleich auch in unterschiedlichem Ausmaß Täterinnen. Klassenunterschiede und Bildungsunterschiede spielen dabei eine Rolle. Provinzielle Enge, Trostlosigkeit, soziale und kirchliche Kontrolle, die gerade erst verebbenden militärischen Konflikte im Norden der Insel – alles trägt zu einem Klima der Gewalt und der Verrohung bei. Man kennt das aus vielen irischen Romanen. Den Blick hier auf die besondere Situation der Frauen zu legen und dabei einen zwar im Grundton traurigen, aber nicht schweren, sondern durchaus stellenweise heiteren Roman zu schreiben, der mit seinen gut geschriebenen Dialogen und Perspektivwechseln unterhält, ist dem Autor perfekt gelungen. Das Ende kulminiert in einer Katastrophe und weist trotzdem hoffnungsvoll in die Zukunft.

Besonders schön gestaltet finde ich auch Einband und Schutzumschlag, die sich gegenseitig ergänzen. Eine Empfehlung!

 

Beitragsbild via pxhere

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Alan Murrin - Coast Road.

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Alan Murrin – Coast Road
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
dtv Februar 2025, gebunden, 384 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

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