LiteraturReich https://literaturreich.de/ Ein Literaturblog Mon, 17 Feb 2025 17:28:08 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.7.2 https://literaturreich.de/wp-content/uploads/2017/03/cropped-screenshot-05-03-2017-16_17_25-2-32x32.png LiteraturReich https://literaturreich.de/ 32 32 164610390 Jessica Knoll – Bright young women https://literaturreich.de/2025/02/15/jessica-knoll-bright-young-women/ https://literaturreich.de/2025/02/15/jessica-knoll-bright-young-women/#respond Sat, 15 Feb 2025 13:09:35 +0000 https://literaturreich.de/?p=19827 Wir kennen das von etlichen True Crime-Geschichten und blutigen Thrillern: ein genialischer, fast charismatischer Killer tötet serienweise vorzugsweise junge, hübsche Frauen, die vor ihrem Tod entsetzlich leiden müssen. Und auch wenn es meistens am Ende… Mehr

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Wir kennen das von etlichen True Crime-Geschichten und blutigen Thrillern: ein genialischer, fast charismatischer Killer tötet serienweise vorzugsweise junge, hübsche Frauen, die vor ihrem Tod entsetzlich leiden müssen. Und auch wenn es meistens am Ende zur Ergreifung des Täters kommt, wird dieser doch oft genug mystifiziert und fasziniert Leser- und Zuschauer:innen auf die eine oder andere Weise. Auf jeden Fall liegt oft genug der Fokus auf ihm als Täter. Man denke da beispielsweise an den Killer in „Das Schweigen der Lämmer“. Tatsächlich soll der Serienmörder, der in Bright young women, dem an einen realen Fall angelehnten Roman von Jessica Knoll wütet, Thomas Harris, der die Romanvorlage zum Film schrieb, als Inspiration für seinen Killer „Buffalo Bill“ gedient haben.

Einen ganz anderen Weg geht die US-amerikanische Bestsellerautorin. Mit einer spürbaren Wut schreibt sie gegen diese Verklärung eines Mannes an, der zwischen 1974 und 1978 mindestens 30 junge Frauen (Schätzungen gehen von bis zu 100 Opfern aus) vergewaltigt, getötet und oftmals zerstückelt hat. Ein Mann, der von den Medien und unbegreiflicherweise auch vielen Frauen als „verdammt gutaussehend“, sehr intelligent, charmant und charismatisch nahezu verehrt wurde und wird, der etliche Bücher bevölkert, dem ein Film mit Starbesetzung und eine Netflix-Serie gewidmet wurde. Und der in der Zeitung als „bright young student“ bezeichnet wurde. Vielleicht bezieht sich der Titel des Buchs trotzig und wütend darauf.

Im Mittelpunkt die Opfer

Denn Jessica Knoll will von dieser Mystifizierung weg. Sie erwähnt nicht einmal den Namen des Killers, nennt ihn stets den „Angeklagten“ und auch ich will den Namen nicht nennen (man findet ihn bei Bedarf sehr schnell heraus). Denn der Fokus soll nicht schon wieder auf einem seelisch verkrüppelten, grausamen, misogynen weißen Mann liegen, sondern auf seinen Opfern, die oft genug „bright young women“ waren, vor denen eine vielversprechende Zukunft lag. So auch auf den zwei getöteten Studentinnen, die „der Angeklagte“ in einem Studentinnen-Verbindungshaus in Tallahassee überfiel.

Die Leiterin dieses Hauses, die Jurastudentin Pamela, „Pam-Perfekt“ wegen ihrer Organisiertheit und ihres Perfektionismus genannt, ist die Ich-Erzählerin des Romans. Ihre beste Freundin Denise war eines der Mordopfer. Wir begleiten Pamela nicht nur durch die nächsten Tage nach dem Überfall im Januar 1978, sondern auch bei eigenen „Ermittlungen“, während des 1979 stattfindenden Prozesses gegen den „Angeklagten“, in dem sie eine bedeutende Rolle spielen wird, da sie den Mörder als einzige gesehen hat, und in einer Rahmenhandlung im Jahr 2021, die damit beginnt, dass Pamela von einer damaligen Bekannten angeschrieben wird, die Neuigkeiten zum Fall hat.

Eine Mordserie

Schon kurz nach der Tat in Tallahassee meldet sich eine junge Frau bei Pamela, Tina Cannon. Sie war die Partnerin eines früheren Mordopfers – Ruth. Diese ist die zweite Ich-Erzählerin im Roman. Und sie wird ihn nicht überleben. Tina hat das Phantombild des „Angeklagten“ gesehen und knüpft die Verbindung zu einer Mordserie im Bundesstaat Washington im Jahr 1974. Mindestens acht junge Frauen wurden dort ermordet. Zwei davon wurden vom Lake Sammamish bei Issaquah entführt, eine davon war Ruth.

Danach verlagerte der „Angeklagte“ seine Taten zunächst nach Utah, später nach Colorado. Hinweise auf ihn aus der Bevölkerung wurden von den Behörden missachtet. Verhaftet wurde er 1975 durch einen Zufall: bei einer Verkehrskontrolle entdeckte die Polizei verdächtige Gegenstände im Wagen und vermutete einen Einbrecher. Eine Gegenüberstellung mit einer jungen Frau, die ihm gerade noch entkommen konnte, brachte ihm zunächst die Anklage wegen versuchter Entführung ein. Bei einer späteren Untersuchung seines Autos wurden Haare eines Mordopfers aus Colorado gefunden und er wurde des Mordes angeklagt. Zweimal entkam er in der Folge aus dem Gefängnis. Dieses eklatante Versagen führte schließlich zu den Morden in Tallahassee.

Misogyne Ermittlungen

Das Verhalten der Polizei war unglaublich. Misogyne, sexistische Ermittlungen, die Aussagen der jungen Frauen nicht ernst nahmen, die die lesbische Beziehung von Ruth und Tina misstrauisch beäugten und Tinas frühen Verdacht, dass die verschiedenen Morde zusammenhängen, von daher nicht berücksichtigten, Medien und eine Öffentlichkeit, die bis heute den Täter verklären, der nur ein hinterhältiger, niederträchtiger Mistkerl war, mäßig intelligent, mäßig gutaussehend, und der die anerzogene Hilfsbereitschaft und Höflichkeit junger Frauen brutal ausnutzte.

Man kann Bright young women von Jessica Knoll einiges vorwerfen. So ist der Roman relativ geschwätzig, die Erzählerin greift immer wieder aufdringlich raunend in die Zukunft voraus und auch sprachlich ist das Buch nicht unbedingt brillant. Aber die Wut und Verve, mit denen der Text den Fokus weg von den Tätern hin zu den Opfern lenkt ist beeindruckend. Die Hoffnung auf eine „neue“ Generation bewegt auch Pamela, ihre Geschichte zu erzählen.

„(…) es sind die sozialen Medien, und die Frauen auf Twitter und Instagram, die allesamt so die Schnauze voll haben (…) Es ist ein Klima, das auch meiner Seite der Geschichte einen Wert verleiht. (…) als ich zuhörte, wie diese Mädchen den höflichen Chauvinismus in dem blecheren Video auseinandernahmen, fragte ich mich, ob es nicht an der Zeit war, meinen Namen aus den Fußnoten zu befreien und seine Lügengeschichten zu entlarven.“

Diese Selbstermächtigung im Namen der Bright young women ist ein großes Verdienst dieses zudem noch spannenden Romans von Jessica Knoll. Gerade heute, wo etliche Kräfte versuchen, das Rad in so vielen Bereichen wieder zurückzudrehen.

 

Beitragsbild: Tribune press photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

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Jessica Knoll – Bright young women
Übersetzt von Jasmin Humburg
Eichborn Oktober 2024, Paperback, 464 Seiten, € 18,00

 

 

 

 

 

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J Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine https://literaturreich.de/2025/02/12/courtney-sullivan-die-frauen-von-maine/ https://literaturreich.de/2025/02/12/courtney-sullivan-die-frauen-von-maine/#respond Wed, 12 Feb 2025 10:00:44 +0000 https://literaturreich.de/?p=19798 Ein altes lila Haus auf einer Klippe mit atemberaubender Sicht auf die Küste vor Maine. Lake Grove. Schon als Teenager, als sie es vom Hummerboot, auf dem sie gejobbt hatte, entdeckte, zog es Jane Flanagan… Mehr

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Ein altes lila Haus auf einer Klippe mit atemberaubender Sicht auf die Küste vor Maine. Lake Grove. Schon als Teenager, als sie es vom Hummerboot, auf dem sie gejobbt hatte, entdeckte, zog es Jane Flanagan magisch an, zum Lesen, Schule schwänzen, Träumen. Manchmal zusammen mit ihrer besten Freundin Allison, später mit Freund und späterem Ehemann David. Nun lässt J. Courtney Sullivan ihre Protagonistin in Die Frauen von Maine nach einer persönlichen Katastrophe in ihr Elternhaus in der kleinen Küstenstadt Awadapquit (fiktiv, erinnert aber angeblich sehr an Ogunquit) zurückkehren, um mit ihrer Schwester das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Mutter zu verkaufen. Und es zieht sie erneut zu dem ehemals verlassenen Haus.

Jane, die eher introvertiert und sehr diszipliniert scheint, hat ein großes Problem. Ein Alkoholproblem. Schon ihre Mutter war Alkoholikerin, die Schwester Holly trinkt und auch wenn Jane denkt, sie hätte die Sache im Griff, zumindest im von ihr sehr geliebten Job, ist ihr unlängst ein schwerer Fauxpas geschehen. Die Schlesinger Bibliothek in Harvard, in der sie arbeitet, beschäftigt sich mit der Geschichte der Frauen in Amerika. Jane recherchiert, sammelt Zeugnisse des Lebens und Schaffens von Frauen, plant Ausstellungen.

„All die Sorge ließ vermuten, dass es sich um ein neues Problem handelt, dabei war der allergrößte Teil weiblichen Schreibens – ob Liebesbriefe oder Tagebücher – schon immer vernichtet worden. Verbrannt von den Autorinnen oder ihren Kindern, weggeworfen, verlorengegangen.“

Eine willkommene Flucht

Auf einer Feier mit Sponsoren der Library hat sie sich nun völlig betrunken und mit einem Gast angebändelt. Für die konservativen Unterstützer ein Skandal. Jane wird freigestellt. Und auch ihre Ehe mit David ist gefährdet. Auf Janes Wunsch trennen sich die beiden auf Zeit.

Für Jane, die sich aus dem unterprivilegierten Milieu mit einer alkoholkranken, alleinerziehenden Mutter zum Studium an der Wesleyan Privatuniversität und in Yale hochgearbeitet hat, die mit nun 38 ihr Leben mit David in Boston und ihre Arbeit liebt, bedeutet das eine Katastrophe. Da bietet das Entrümpeln des Elternhauses zusammen mit ihrer Schwester Holly und deren Sohn Jason eine willkommene Flucht. Ihre Freundin Allison führt mittlerweile mit ihrem Mann ein B&B im von den Touristen gern besuchten Küstenstädtchen. Außerdem macht Jane die Bekanntschaft mit der neuen Besitzerin des „lila Hauses“, das schon bald nicht mehr lila ist, denn die reiche Geneviève modernisiert es von Grund auf und beauftragt Jane, die Geschichte des Hauses zu recherchieren und für sie aufzuschreiben.

In einer Art Prolog erfahren die Leser:innen, dass Geneviève, um Platz für einen Infinitypool zu schaffen, eine alte Grabstätte auf dem Grundstück beseitigen ließ. Nun erscheinen ihrem Sohn Benjamin Geister. Der Spiritismus, der Geisterglaube bekommt im Buch eine wichtige Rolle: „Rückführungen“ mit einem Medium, Botschaften aus dem Jenseits, Tote, die nicht ruhen können. Mir wurde es hier manchmal zu abstrus, auch wenn die Passagen dazu dienen zu Geschichten von früheren Bewohnerinnen des Hauses zu führen.

Frauengeschichten – Geschichte von Frauen

Erbaut wurde es 1846 vom Kapitän Samuel Littleton, der ein Heim für seine geliebte Frau Hannah schaffen wollte, während er viele Jahre auf See verbrachte. Eines Tages zerschellte sein Schiff unmittelbar vor der Küste, alle Bewohner, auch Hannah, mussten hilflos zuschauen. Neben der Geschichte von Hannah und Samuel, erzählt J. Courtney Sullivan auch von anderen Frauen in Maine, die mit dem Haus in Verbindung standen. Beispielsweise von Eliza, dem Dienstmädchen, die aus einer Shaker-Gemeinde stammte. Oder von Marilyn, die in Lake Grove ihre Tochter verlor. Die Geschichte geht aber auch ganz weit zurück ins 17. Jahrhundert, wo der Ehemann der jungen Kanti vom Stamm der Abenaki von britischen Reisenden nach London entführt wurde. Diese Geschichten stehen manchmal ein wenig unvermittelt nebeneinander, so als ob die Autorin sie nur braucht, um ein neues Thema abzudecken. In sich selbst sind sie aber alle interessant.

Es geht darin um Imperialismus und Kolonialismus, um die Unterdrückung indigener Völker und den Raub ihrer Kulturgüter, um Feminismus und Frauenleben. Es geht natürlich um Alkoholismus und seine Folgen auf Familien. Ein wenig zu ausführlich und bejahend wird von Spiritismus und ein merkwürdiges Frauencamp erzählt. Es geht um Verlust und weibliche Resilienz, um Freundschaft und Solidarität. Auch wenn mir manche Themen nicht so zusagten und der ganze Roman nicht wirklich organisch verbunden wirkt, habe ich Die Frauen von Maine doch größtenteils gern gelesen. J. Courtney Sullivan kann sehr atmosphärisch schreiben. Dennoch gibt es meiner Meinung nach bessere Bücher von ihr, vor allem Sommer in Maine und All die Jahre sind und bleiben absolute Lieblingsbücher von mir. J. Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine

„Wir tragen ungeborene Kinder in uns, und wenn wir sie zur Welt bringen, drohen die Männer, ohnmächtig zu werden. Deswegen sind sie so besessen von äußerlichen Erfolgsmerkmalen. Und vom Krieg! Töten, um einen Bruchteil der Macht zu spüren, die wir haben, indem wir Leben geben, Das muss man den Männern lassen: Es ist ihnen gelungen, uns davon zu überzeugen, dass das, was Frauen Macht verleiht, im Grunde Schwäche ist. Mutterschaft ist der radikalste Akt, den es gibt, und wir haben sie auf süßen Tapioka-Pudding reduziert. Gibt es etwas Zahnloseres, weniger Sichtbares als eine Mutter in unserer westlichen Kultur?“

 

Beitragsbild: Siameselover, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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J. Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine
Aus dem Amerikanischen von: Henriette Zeltner-Shane und Monika Köpfer
Klett-Cotta September 2024, 496 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 26,00

 

 

 

 

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Lektüre Januar 2025 https://literaturreich.de/2025/02/08/lektuere-januar-2025/ https://literaturreich.de/2025/02/08/lektuere-januar-2025/#comments Sat, 08 Feb 2025 09:08:02 +0000 https://literaturreich.de/?p=19707 Schon wieder ist ein Monat des neuen Jahres vergangen. Die Neuerscheinungen des Frühjahrs drängen auf die Lesestapel, letzte Must-Reads des vergangenen Jahres liegen noch bereit, etliche bisher nicht gelesene Bücher der vergangenen Jahre bitten um… Mehr

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Schon wieder ist ein Monat des neuen Jahres vergangen. Die Neuerscheinungen des Frühjahrs drängen auf die Lesestapel, letzte Must-Reads des vergangenen Jahres liegen noch bereit, etliche bisher nicht gelesene Bücher der vergangenen Jahre bitten um Aufmerksamkeit. Alles wie immer. Bevor ich mich aber meiner Lektüre im Januar dieses gerade gestateten Jahres 2025 widmen möchte, noch ein paar gute Vorsätze.

Ja, ich weiß. Gute Vorsätze haben die herausstechende Eigenschaft, meist nicht eingehalten zu werden. Und in der Regel fasse ich auch keine. Ich habe aber das Gefühl, als müsste sich hier auf dem Blog etwas ändern. Ein neues Theme etwa, vielleicht wieder mehr thematisch orientierte Beiträge, vor allem aber wieder mehr Interaktion mit den vielen tollen Blogs, denen ich folge und mit den Leser:innen meines Blogs. Der Blog ist immer noch das Herzstücks meiner Beschäftigung mit Literatur, meines Leselebens. Und doch sind viele Aktivitäten zu Instagram ausgewandert. Schneller, visueller und vor allem mit deutlich mehr Feedback, aber auch in weiten Teilen oberflächlicher und oft so effektheischend ist diese Plattform, die ich sehr lieben gelernt habe. Wie viele Buchmenschen habe ich über Instagram kennengelernt, wie viele tolle Erlebnisse hat mir der Kontakt und der Austausch dort gebracht.

Ich möchte aber gern wieder hier auf dem Blog präsenter sein, mehr kommentieren, noch mehr Inhalte liefern. Mal schauen, wie ich in Zukunft dafür Zeit finden kann. Meinen Facebook-Kanal habe ich auch ziemlich vernachlässigt, auch dort wäre ich gern wieder häufiger. Mal sehen.

Was bleibt, sind meine unabhängigen, sorgfältigen Buchbesprechungen, die euch hoffentlich ein wenig Orientierung geben im oft so unübersichtlichen Markt der Literaturneuerscheinungen. Und natürlich meine Liebe und Leidenschaft für gute Bücher. In diesem Sinn freue ich mich, wenn ihr mich auch dieses Lesejahr 2025 hier begleiten mögt. Ich wünsche euch alles Liebe und Gute!

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Moshe Zimmermann - Niemals Frieden?Moshe Zimmermann – Niemals Frieden? Israel am Scheideweg

Niemals Frieden? wurde nach der Katastrophe des 7. Oktober 2023, als bei dem brutalen Terrorangriff der Hamas im Süden Israels etwa 1.200 Menschen getötet und 250 Geiseln entführt, gefoltert und vergewaltigt wurden, von denen heute viele nicht mehr leben, geschrieben. Auch wenn nun glücklicherweise wieder etwas Bewegung in die Verhandlungen zwischen Israel und der Terrororganisation gekommen ist und es wieder zu Geisel-/Gefangenenaustauschen kommt, ist der Krieg noch lange nicht beendet und geistern neuerdings merkwürdige Ideen zur Zukunft des Gaza-Streifens durch die Medien. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist noch lange nicht beigelegt. Die Wiederbelebung eines jüdischen Urtraumas, gegen das der Staat Israel einst gegründet wurde, hat die Menschen tief erschüttert. Die Menschen in Gaza leiden zutiefst. Der liberale Historiker Moshe Zimmermann ist eine Stimme, die sich immer wieder für eine Zwei-Staaten-Lösung starkgemacht hat und auf eine nachhaltige Lösung drängt.

In seinem klugen und hellsichtigen Buch beleuchtet er die Geschichte des Konflikts, die Faktoren, die ihn immer wieder anschüren und mögliche Lösungsansätze. Und das auf eine sowohl universelle als auch ganz persönliche Weise. Gewidmet hat er es seinen Enkeln. Und verhehlt auch nicht den Pessimismus, den er angesichts der aktuellen Lage oft empfindet. Sieht er doch das Lebenswerk seiner Generation liberaler Israelis, die für Frieden in Nahost gekämpft haben, akut gefährdet.

„Denk ich an meine Enkel in der Nacht…“

stellt er als Motto voran. Es ist Heinrich Heine, den er als Mottogeber wählt. Sein Buch ist für ein deutsches Publikum auf Deutsch geschrieben – Zimmermann war Leiter des Zentrums für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist auch stark europäisch und humanistisch geprägt. Er benennt klar die Hamas als die Schuldigen der aktuellen Katastrophe, beklagt aber auch ein „Versagen des Zionismus“, jenes Emanzipationsprojekts Theodor Herzls, der die Palästinafrage ignoriert habe, klagt sowohl die militante Siedlerbewegung und die Anhänger eines „Groß-Israels“ an, den Konflikt stets geschürt zu haben, als auch die rechte Regierung Netanjahus, das israelische Volk in Geiselhaft einer „Kakistrokratie“ – einer Herrschaft der Schlechtesten – zu nehmen. Das Buch ist auch eine Anklageschrift gegen die israelische Politik der letzten Jahrzehnte. Die Abkehr von der Siedlungspolitik, aber auch vom Islamismus, Neuordnung der Gaza-Politik und Hinwendung zu einer Zwei-Staaten-Lösung mit internationaler Unterstützung – das sind die Lösungsansätze, die er sieht. Seine Frage Niemals Frieden? beantwortet er nur vorsichtig optimistisch. Aber eine andere Wahl haben weder Israel noch Palästina.

 

geliebte-mutter-canim-annem-cigdem-akyolCigdem Akyol – Geliebte Mutter

Meryem und ihre Mutter Aynur haben ein schwieriges Verhältnis. Aynur stammt aus einer gutsituierten, gebildeten alevitischen Familie in Istanbul, wird nach dem Tod ihres Vaters aber mit einem ungebildeten, sunnitischen Mann aus einem ostanatolischen Dorf zwangsverheiratet und folgt ihm nach Deutschland. Eine unglückliche, gewaltvolle Ehe im trostlosen Herne folgt, bald kommen zwei Kinder, Meryem und Ada. Aynur wird hart, auch zu ihren Kindern. Mit Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven arbeitend, gelingt der Sachbuchautorin und Journalistin Çiğdem Akyol mit Geliebte Mutter ein berührender und sehr relevanter Debütroman mit komplexen, ambivalenten Figuren, der gut geschrieben und aufgebaut ist, so dass man ihn äußerst gerne liest. Sie nähert sich darin den Konflikten zwischen den Generationen in Migrantenfamilien und zeichnet darin ein so schonungsloses wie zärtliches Bild der Eltern.

 

Daniel Gräfe - Wir waren KometenDaniel Gräfe – Wir waren Kometen

Als Lukas Luba das erste Mal begegnet, ist diese schon reichlich desillusioniert. Als im Dezember 1989 in Rumänien die Diktatur des Nicolae Ceaușescu endet, packt die sehr junge Frau ihre Koffer und verlässt ihre ungliebte Heimat Hals über Kopf gen Westen. In Berlin lässt Daniel Gräfe seine beiden Protagonist:innen das erste Mal aufeinandertreffen.
Die beiden werden ein Paar, aber als Luba das gemeinsame Leben in Italien plant und Lukas zeitgleich ein Angebot der Werbeagentur bekommt, in die Niederlassung in Stuttgart zu wechseln, müssen sie sich entscheiden. Es kommt zur Trennung.
Aber Lukas kann Luba nicht vergessen und fährt ihr irgendwann hinterher. Es folgt ein Roadtrip nach Rumänien mit die stimmungsvollen Beschreibungen links und rechts des Wegrandes und Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen.

 

monika-zeiner-villa-sternbaldMonika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre

Ein erstes Lesehighlights war für mich Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre von Monika Zeiner. Ihr „Jahrhundertroman“ – die Geschichte der fränkischen Unternehmerfamilie Finck reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart – spielt subtil auf den Jubilar des Jahres Thomas Mann und seine Buddenbrooks, aber auch auf den Zauberberg an, erzählt von preußischer Pflicht und deutschem Mitläufertum, von Schuld und Verdrängung. Und das mit einem so wunderbaren Witz, dass das Lesen zum Vergnügen wird.

 

sullivan-die-frauen-von-maineJ. Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine

Nach einer persönlichen Katastrophe kehrt Jane in ihr Elternhaus in der kleinen Küstenstadt Awadapquit zurück, um mit ihrer Schwester das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Mutter zu verkaufen. Jane, die eher introvertiert und sehr diszipliniert scheint, hat ein großes Problem. Ein Alkoholproblem. Schon ihre Mutter war Alkoholikerin, die Schwester Holly trinkt und auch wenn Jane denkt, sie hätte die Sache im Griff, ist ihr unlängst ein schwerer Fauxpas geschehen, der sie die geliebte Arbeit in der Schlesinger Bibliothek in Harvard und vermutlich auch die Ehe gekostet hat.

Begegnungen im Ort, Erinnerungen und ihre Arbeit an der Geschichte der Frauen in Amerika führen sie zu vergangenen Geschichten, zu einer jungen Indigenen ins 17. Jahrhundert, zur Kaptänswitwe Helen im 19. Jahrhundert und in die 1970er Jahre. Im Zentrum steht oft das alte Haus auf den Klippen. In den Geschichten geht es um Imperialismus und Kolonialismus, um die Unterdrückung indigener Völker und den Raub ihrer Kulturgüter, um Feminismus und Frauenleben, um Alkoholismus und seine Folgen auf Familien, um Verlust und weibliche Resilienz, um Freundschaft und Solidarität. Für meinen Geschmack ein wenig zuviel Spiritismus und die Geschichten weden icht wirklich organisch verbunden. Trotzdem schön zu lesen, aber es gibt meiner Meinung nach bessere Bücher von Sullivan, vor allem Sommer in Maine und All die Jahre sind und bleiben absolute Lieblingsbücher von mir.

 

Peter Kurzeck - Frankfurt Paris FrankfurtPeter Kurzeck – Frankfurt Paris Frankfurt

Als Peter Kurzeck im November 2013 verstarb, war gerade mal der fünfte von geplanten zwölf Teilen seiner großen autobiografischen Romanreihe Das alte Jahrhundert erschienen. Vorabend heißt der dicke Wälzer und Kurzeck stand damit 2011 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Dieser über 1000seitige Roman erzählt in einer großen Rückblende vom mittelhessischen Staufenberg der 1950er und 60er Jahre, in dem die Familie Kurzeck nach ihrer Vertreibung aus dem Sudetenland wohnte. Ausgangspunkt für alle Bände sind aber die Jahre 1983 und 1984, kurz vor bzw. nach der Trennung von Freundin Sibylle, der Mutter seiner Tochter Carina. Von dort schweift die Erinnerung aber immer wieder auch nach Südfrankreich, wo Kurzeck lange Zeit in Uzès lebte, und im jüngst erschienenen Band nach Paris, wohin sie (u.a.) im Herbst 1977 reisten. Hintergrund ist hier unweigerlich der „deutsche Herbst“, da Kurzeck selbst immer wieder ins Fadenkreuz der Terroristenfahndung geriet und Freunde von ihm direkt involviert waren.

Frankfurt Paris Frankfurt ist wie die letzten drei erschienen Bände aus dem Nachlass von Rudi Deuble herausgegeben worden und sollte nach Kurzecks Plänen Band 10 bilden. Durch akribische Vorarbeiten des Autors war dies möglich. Zeitlich ist er als erster der Reihe entstanden und bildet nun den Abschluss des Projekts. Peter Kurzecks Stil ist ein ganz besonderer, eigenwilliger, stark dem mündlichen Vortrag angenähert. Über seine mündlich erzählten Hörbücher habe ich Kurzeck auch zunächst kennen und lieben gelernt (bei Spotify stehen zum Beispiel Ein Sommer, der bleibt oder Da fährt mein Zug zur Verfügung). Mit kurzen sehr einfachen, zum Teil auch nur unvollständigen Sätzen, oft ohne Verb oder Subjekt oder mit einer bloßen Aneinanderreihung von Substantiven entsteht ein ganz eigener, typischer „Kurzeck“-Sound.

Zu erwähnen ist vielleicht, dass nicht nur Kurzecks Werk Das alte Jahrhundert betitelt ist, sondern dass der Autor auch einer des alten Jahrhunderts ist. Er benutzt völlig unbeschwert (und ohne diskriminierende Absicht) die Z- und N-Wörter, die heute nicht mehr verwendet werden (sollten). Daran dürfen sich Leser:innen nicht stoßen, wenn sie Freude an der Lektüre haben wollen.

 

Volker Kutscher - RathVolker Kutscher – Rath

Die historische Krimiserie um Gereon Rath ist mit dem zehnten und letzten Band nun Geschichte. Eine absolute Erfolgsgeschichte. Die Idee ihres Verfassers Volker Kutscher, anhand von Krimihandlungen die Entwicklung Deutschlands von der Weimarer Republik (1929) bis zur Reichspogromnacht (1938) zu illustrieren war genial, die Umsetzung absolut gelungen und zur Zeit ist das Ganze so aktuell wie nie zuvor. Die langsame Zersetzung einer (wenn auch schwachen) Demokratie zu einer menschenverachtenden, faschistischen Diktatur sollte Mahnung und Erinnerung sein. Dass die Serie einfach auch gut geschrieben, äußerst stimmungsvoll und unterhaltsam ist, kommt hinzu. Mit der aus ihr entwickelten Fernsehserie „Babylon Berlin“ hat sie (zum Glück) wenig gemeinsam. Intelligent und gut recherchiert ist sie und ein wenig traurig ist das Leserinnenherz nun schon, dass die Zeit mit ihr nun vorbei ist.

Der Autor hat verraten, dass noch ein kleines von Kat Menschik illustriertes Bändchen erscheinen wird und zudem eine Kurzgeschichtensammlung aus dem Rath-Kosmos. Ich bin gespannt. Aber nun gilt es von Berlin Abschied zu nehmen (fällt angesichts der nun folgenden Jahren in der Reichshauptstadt nicht so wirklich schwer) und von Gereon und Charlotte Rath, von Fritze Thormann und Wilhelm Böhm und all den anderen Charakteren, die Kutscher seit 2007 geschrieben hat. Das Ende von Rath ist so offen, dass es auf jeden Fall eine Fortsetzung geben könnte. Die hat Volker Kutscher aber ausdrücklich ausgeschlossen. So bleibt den Leser:innen nur, sich den Fortgang selbst auszudenken. Und nochmal mit dem Nassen Fisch von vorne zu beginnen). Tipp: Die älteren Rath-Krimis sind alle auf Spotify verfügbar.

 

Hanne Ørstavik - bleib bei mirHanne Ørstavik – bleib bei mir

Die zarten, tastenden, autobiografisch gefärbten Romane von Hanne Ørstavik habe ich seit dem Gastland-Auftritt Norwegens zur Frankfurter Buchmesse 2019 lieben gelernt, so z.B. Ti amo oder Roman. Milano. In ihrem neuesten schmalen Buch erzählt die Erzählerin über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes, den wir in den vorigen Romanen miterlebten. Sie hat eine neue Beziehng zum Handwerker M, der deutlich jünger ist und aus völlig anderem Milieu als sie stammt. Die Beziehung ist problematisch.

Ørstavik erzählt sie in der Ich-Form und als Roman-im-Roman mit einem Alter-Ego, der Schriftstellerin Judith. Sie scheint die zeitweilige Distanzierung zu brauchen und erzählt so auch von ihrem Schreibprozess. Wieder ist die Angst, die von der Kindheit und der schwierigen Beziehung zu den Eltern herrührt, den Gewalterfahrungen und dem steten Gefühl, nicht zu genügen, nicht gesehen zu werden präsent. Auch und vor allem im Verhältnis zu M., das intensiv, aber auch gewaltvoll und unsicher ist. Die Offenheit mit der Ørstavik davon erzählt ist beeindruckend und auch ein wenig verstörend. Die Erzählerin unterwirft sich der Beziehung zu M. und macht sich unnötig klein – wie sie es aus ihrer Kindheit gegenüber dem Vater gewohnt ist. Auch von Problemen mit Alkohol ist die Rede. Ich konnte bei diesem Buch nicht ganz so vorbehaltlos eintauchen wie in die vergangenen. Eine Leseempfehlung ist es trotzdem.

 

 

 

 

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Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre https://literaturreich.de/2025/02/02/monika-zeiner-villa-sternbald/ https://literaturreich.de/2025/02/02/monika-zeiner-villa-sternbald/#respond Sun, 02 Feb 2025 09:51:00 +0000 https://literaturreich.de/?p=19785 Das Jahr 2024 habe ich mit einem Roman begonnen, der mich total begeistert hat und der dennoch bei den Nominierungen zu den „großen“ deutschen Buchpreisen völlig leer ausging. Absolut unverständlich, da Unsereins von Inger-Maria Mahlke… Mehr

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Das Jahr 2024 habe ich mit einem Roman begonnen, der mich total begeistert hat und der dennoch bei den Nominierungen zu den „großen“ deutschen Buchpreisen völlig leer ausging. Absolut unverständlich, da Unsereins von Inger-Maria Mahlke wirklich von überragender Qualität war – klug, witzig, anspielungsreich, formal perfekt. Und auch 2025 habe ich mit einem Roman gestartet, der bisher noch nirgends nominiert war, obwohl er von ebenso großer Kunstfertigkeit ist – Monika Zeiner mit Villa Sternbald.

Auch sonst haben die beiden Romane etwas gemeinsam: sie erweisen dem Jubiläumsschriftsteller dieses Jahres, Thomas Mann, auf spielerische Weise ihre Referenz.

„Weil wir den Zufall nicht ertragen, neigen wir zu Religionen und anderen Verschwörungstheorien.“

So zeichnet Villa Sternbald anhand der Unternehmerfamilie Finck ein großartiges Gesellschaftspanorama vom Deutschen Kaiserreich bis in die Gegenwart, ähnlich wie die Buddenbrooks. Ausgangspunkt ist hier der 103. Geburtstag des Familienpatriarchen Henry Finck, zu dem dessen Enkel Nikolas, der so etwas wie das schwarze Schaf der Familie ist, nach langer Zeit mal wieder heim in die großbürgerliche Villa im fiktiven fränkischen Ort Gründlach in der Nähe von Nürnberg kehrt.

Die Columba-Schulbank

Dort hat sich der Schreiner Ferry Finck einst aus sogenannten kleinen Verhältnissen hochgearbeitet. In seiner Dampfschreinerei fertigt er die Columba-Schulbank, die auf der internationalen Erfinderausstellung in Paris reüssiert und bald nicht nur in Deutschland die Schulen erobert. Die Starrheit der Sitzkonstruktion entsprach dem damaligen Erziehungsverständnis, dass die „Wildheit“ der Kinder gebrochen und durch Haltung ersetzt werden sollte. Schwarze Pädagogik und Erbsünde lassen grüßen. Die Pflichterfüllung als oberstes Erziehungsideal. Dazu die „lutherische Innerlichkeit“,

„erklärt allerdings nicht nur den Hang zu Reflexion, Grüberlei und Weltfremdheit, der ja irgendwie sympathisch ist, sondern auch die Neigung zu Untertanengeist und Duckmäusertun.“

Über die Geschichte der Schulmöbelfabrik Finck wird von Monika Zeiner in Villa Sternbald auch ein Stück Ideengeschichte und eine kleine Kulturgeschichte des Sitzens eingefügt.

Schulbank
Dennis Schäffer, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Dem Erziehungsideal der damaligen Zeit muss sich auch Ferrys Sohn Jean beugen. Der verträumte, weiche Junge, der am liebsten Insektenforscher geworden wäre, muss sich dem strengen Regiment von Vater und Schule unterwerfen. Und durchs „Stahlbad“ des Ersten Weltkriegs gehen. Vom Vater wird der zu Depressionen neigende Jean nie richtig ernst genommen, er ist ihm viel zu „weibisch“. Tüchtiger erweist sich da der Enkel Henry. Dieser erkennt die Zeichen der Zeit und ergreift in den 1930er Jahren die Gelegenheit, als die befreundete jüdische Familie Stern das Land verlassen muss und kauft deren Büromöbelfabrik günstig auf. Der Grundstein eines großen Vermögens ist damit gelegt, zumal die Steins aus ihrem Exil in Frankreich nicht zurückkehren, sondern deportiert und schließlich in den Konzentrationslagern ermordet werden.

Das Schweigen

Über diese dunkle Vergangenheit der Schulmöbelfabriken wird nie geredet.

„Ich kann nicht behaupten, dass meine Familie geschwiegen hätte. Es wurde, im Gegenteil, ununterbrochen geredet, und vielleicht reden sie so viel, damit sie keine Fragen beantworten müssen.“

Erst Enkel Nikolas erfährt davon. Dessen Vater, der passenderweise im Roman keinen Namen erhält und weite Passagen einfach verschläft, bekommt kaum eine Kontur. Die Mutter kümmert sich weitestgehend nur um sich selbst und ihr Klavierspiel, Bruder Sebastian wiederum ist nur an seiner Karriere interessiert, vernachlässigt die eigene Familie.

„Während meine Familie also bereits 1945 schlagartig vergessen hatte, dass sie einige Jahre vorher aus Versehen eine Möbelfabrik arisiert und obendrein noch einen Blüthner-Flügel geschenkt bekommen hatte, hatte man später natürlich auch vergessen, mir davon zu erzählen (…)“

Das schwarze Schaf

Nikolas fühlt sich schon als Kind ungeliebt, unglücklich. Als Jugendlicher überlebt er einen Selbstmordversuch nur knapp. Als Drehbuchschreiber fürs Fernsehen hat er sich nicht nur räumlich von seiner Familie abgewandt. Beruflich läuft es aber im Moment auch nicht so gut. Und von seiner Frau Ele hat er sich unlängst getrennt. Aus dem Besuch zum Geburtstag des Großvaters wird schließlich ein ganzes Jahr in der Villa Sternbald. Ein Jahr, in dem er sich recht ziellos treiben lässt, aber auch Nachforschungen zur Familiengeschichte betreibt, die deren dunkle Vergangenheit offenbaren, während ein Wissenschaftler vor Ort die große Schulmöbelfabrik-Jubiläumsveranstaltung vorbereitet und Unternehmensberater die Firma fürs nächste Jahrtausend fit zu machen gedenken.

„Vielleicht wäre Himmlers Research Institute mit der richtigen Beratung ja noch erfolgreicher gewesen, aber der Seniorberater war damals noch nicht geboren, das Unternehmen, für das er arbeitet, hatte noch keine Dependance in Deutschland und konnte daher den Russlandfeldzug der Wehrmacht auch nicht umstrukturieren und optimieren, dachte ich. Vielleicht wäre sonst die Wehrmacht teamfähiger und effizienter gewesen.“

Blüthner Flügel
Solobratscher, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Ein Sympathieträger ist Nikolas nicht gerade. Monika Zeiner gestaltet ihre Figuren alle sehr wohltuend ambivalent. So ist auch Großvater Henry nicht nur der skrupellose Profiteur der Nazi-Zeit, sondern wird als sich den Stern-Kindern stets unterlegen Fühlender (begabter, schöner, reicher, weltgewandter)gezeichnet, der die Gelegenheit ergreift, ohne recht zu ahnen, was sich daraus entwickeln würde.

Literarische Referenzen

Neben dem Motiv der Unternehmerfamilie, ihrem Auf- und Abstieg, das natürlich besonders an Thomas Manns Buddenbrooks erinnert, ist dieser viel länger als geplante Aufenthalt von Nikolas in der Villa Sternbald eine Reminiszenz an dessen Roman Zauberberg. Auch hier bleibt ja der Protagonist Hans Castorp statt drei Wochen sieben Jahre im Sanatorium. Daneben findet man in der Villa Sternbald auch die vielen literarischen Referenzen, die endlosen Dialoge und das Schweifen durch die Zeit, die auch den Zauberberg auszeichnen. Großvater Henry wird auch immer wieder „der Zauberer“ genannt. Der Name der den Titel des Romans gebenden Villa wiederum spielt auf Ludwig Tiecks Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ an, der vom Schüler des Nürnberger Malers Albrecht Dürer berichtet. Und der Untertitel „Die Unschärfe der Jahre“ findet sich darin wieder, dass Monika Zeiner die Zeitebenen und Perspektiven in Villa Sternbald oft verschwimmen lässt.

„Dass ich nicht sagen kann, so oder so ist es gewesen. Dass ich zwar sagen kann, es ist gewesen, aber ich kann nicht sagen, wie es genau gewesen ist, weil die Wahrheit ungenau und veränderlich ist, je nachdem, mit welchem Auge und aus welcher Perspektive ich sie betrachte.“

Formaler Aufbau

Ich-Erzähler ist Nikolas, aber der Text wechselt immer wieder zu den anderen Familienmitgliedern und von der Gegenwart seines aktuellen Besuchs in die verschiedenen Vergangenheitsebenen. Trotz der epischen Breite ist die Erzählweise aber eher anekdotisch. Im Verlauf des Textes kommt auch immer mehr etwas Schwebendes, Irreales, „Unscharfes“ zum Tragen. Wie der von Beginn an durch das Buch geisternde Gärtner Sanftleben, der so unsterblich scheint wie manche Geisteshaltungen, schon zu Henrys Kinderzeiten tätig und an dessen 103. Geburtstag so emsig wie eh und je.

Das ist alles ganz großartig gemacht und gipfelt in der großartigen, geistreich sprühenden Schilderung einer Silvesternacht. Voller Anspielungen, mit viel Witz und Ironie und sorgfältiger Recherche. Sechs Seiten Quellenangaben verweisen darauf und erklären vielleicht, warum Monika Zeiner nach ihrem Debüt „Die Ordnung der Sterne über Como“ zwölf Jahre in dieses zweite Buch investierte. Es hat sich gelohnt. Völlig unverständlich wäre, wenn dieser große Roman über deutsche (Geistes)Geschichte, über Erziehung und Kindheit, über Opportunismus und Schuld, über Erinnerung und Schweigen weiterhin ohne Auszeichnung bleiben würde.

„Die Globalisierung und der liberale Markt seien die Friedensversicherung überhaupt.  Im Grunde habe schon Nietzsche gewusst, dass der Nationalismus sich überholt habe.

Der Nationalismus sei immer dann am stärksten gewesen, wenn er sich historisch am offensichtlichsten überlebt habe, sage ich. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.“

 

Beitragsbild: Villa Clason, Bonn CC0

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Monika Zeiner – Villa Sternbald
dtv September 2024, 672 Seiten, gebunden, € 28,00

 

 

 

 

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Han Kang – Unmöglicher Abschied https://literaturreich.de/2025/01/30/han-kang-unmoeglicher-abschied/ https://literaturreich.de/2025/01/30/han-kang-unmoeglicher-abschied/#respond Thu, 30 Jan 2025 09:36:19 +0000 https://literaturreich.de/?p=19696 In diesem Jahr wurde der Literaturnobelpreis an die gesellschaftskritische südkoreanische Autorin Han Kang verliehen, die seit dem Booker Prize 2016 für ihren Roman Die Vegetarierin auch in Deutschland vielbeachtet ist. Ich muss zugeben, dass ich… Mehr

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In diesem Jahr wurde der Literaturnobelpreis an die gesellschaftskritische südkoreanische Autorin Han Kang verliehen, die seit dem Booker Prize 2016 für ihren Roman Die Vegetarierin auch in Deutschland vielbeachtet ist. Ich muss zugeben, dass ich mit diesem schmalen Roman, der gegen das in Südkoreas Patriarchat vorherrschende Frauenbild anschreibt, nicht recht warm geworden bin. Deshalb habe ich mich dem aktuellen Roman von Han Kang, der gerade auf Deutsch erscheint und Unmöglicher Abschied als Titel trägt, vorsichtig genähert. Nachdem Die Vegetarierin schon vor einer Weile in den offenen Bücherschrank weitergezogen ist, wollte ich nun doch wissen, was den Reiz ihres Schreibens ausmacht.

Zu Beginn steht ein Traum. Ein Traum, den die Protagonistin Gyeongha mit der Autorin teilt. Es ist ein Bild tausender dunkler Baumstämme, die eine weite Schneefläche bedecken und die Inspiration für den Roman waren. In Gyeonghas Traum befinden sich unter ihnen Gräber, die von einer heranrollenden Flut bedroht werden. Gyeongha versucht vergeblich, die Gebeine zu retten. Sie hatte diesen Traum zum ersten Mal im Sommer 2014, „zwei Monate nachdem ich ein Buch über das Massaker in jener Stadt veröffentlicht hatte.“

Wer ein wenig über Han Kangs Werk weiß, findet die Parallele, denn die Autorin selbst hat in diesem Jahr ihren Roman Menschenwerk in Korea veröffentlicht, in dem sie über ein Massaker in ihrer Heimatstadt Gwangju, das im Mai 1980 stattfand, schrieb. Damals gingen bei einer studentischen Demonstration gegen die herrschende Militärdiktatur und das verhängte Kriegsrecht Soldaten mit brutaler Gewalt vor. Der anschließende Aufstand von Studenten, Arbeitern und Bürgern wurde durch ein regelrechtes Massaker niedergeschlagen, das bis zu 2000 Todesopfer forderte.

Der Traum

Der Traum von den Baumstämmen  und Alpträume verfolgen Geyongha seitdem immer wieder. Wir begegnen ihr vier Jahre später, laut eigenem Bekunden hat sie „keine Familie mehr“, lebt allein in Seoul und hat einige nicht näher beschriebene Verluste erlitten. Eine tiefe Depression, die sie zwei Monate niederstreckte und beinahe zum Suizid getrieben hätte, ist knapp vorbei, als sie eine SMS ihrer Freundin Inseon erreicht, in der diese sie bittet, in ein Krankenhaus zu kommen. Bei einem Unfall hat sie sich zwei Finger abgetrennt und liegt nun in dieser Spezialklinik in Seoul. Sie bittet die Freundin, ihren Vogel, den sie in ihrem Haus auf der Insel Jeju zurückgelassen hat, zu versorgen.

Inseon ist eine Fotografin und Dokumentarfilmerin, mit der Gyeongha einst eine Installation zu ihrem Baumstamm-Traum geplant hatte. Durch die Demenzerkrankung ihrer Mutter wieder in ihr Elternhaus im kleinen Bergdorf auf Jeju zurückgekehrt, ist die Freundin dort auch nach deren Tod hängengeblieben und arbeitet als Schreinerin in ihrer kleinen Werkstatt.

Der Schneesturm

Der Zeitpunkt für die Reise ist denkbar ungünstig. Es ist Dezember und ein schwerer Schneesturm angekündigt. Gyeongha erwischt den letzten Flug nach Jeju, aber dort ist der Busverkehr stark eingeschränkt. Die Fahrt vom Flughafen zum kleinen Dorf in den Bergen und die Wanderung durch den Schneesturm zum abgelegenen Haus Inseons nehmen fast 100 Seiten ein und sind ein Höhepunkt des Buchs. Han Kang arbeitet stark mit Motiven und Symbolen. Der Schnee ist eines davon. Er knüpft an den Traum von den Baumstämmen und an die Alpträume vom Gwangju-Massaker an. Denn Jeju ist nicht nur eine südkoreanische Ferieninsel.

Hier fand auch im April 1948 das erste einer Reihe von Massakern gegen vermeintlich linksgerichtete Rebellen statt. Es forderte mehr als 30.000 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 300.000, löschte ganze Dörfer aus und wurde mit großer Brutalität ausgeführt. Auch Inseons Familie hatte etliche Tote zu beklagen, ihre Mutter war Zeitzeugin. Immer wieder werden Recherchen dazu, die Inseon für einen ihrer Filme durchgeführt hat, in die Geschichte eingeblendet.

Leichtigkeit und Schwere

Ein weiteres Motiv neben dem Schnee ist der Gegensatz von Leichtigkeit und der Schwere der Gewalt, die hier auf Jeju verübt wurde. Die Leichtigkeit von Schneeflocken oder der – ebenfalls weißen – Vögel von Inseon werden immer wieder thematisiert. Als Gyeongha auf dem Weg zu Inseons Haus in der heraufziehenden Dunkelheit ausrutscht, ihr Handy verliert und im Schnee liegen bleibt, beginnt die von Anfang an leicht schwebende, zunehmend entrückte Stimmung immer surrealer zu werden. Die Realitäten, Orte, Zeiten und Personen verschwimmen. Es ist bald nicht mehr klar, ob Gyeongha in der Kälte beginnt zu halluzinieren, ob sie es ins Haus der Freundin schafft, ob der Vogel lebt oder bereits tot ist. Ja sogar der Unfall Inseons erscheint plötzlich nur als eine Möglichkeit. Oder erscheint sie Gyeongha als Geist, als Erscheinung?

Intensiv, in schlichter, poetischer Sprache, die manchmal ein klein wenig ins Pathetische kippt, erzählt Han Kang in Unmöglicher Abschied von einer zarten Freundschaft, von unfassbarer Grausamkeit, von kleinen weißen Papageien und einer magischen Winterreise. Wieder öffnet sie ein dunkles, lange verdrängtes Kapitel südkoreanischer Geschichte, wie bereits in Menschenwerk. Für mich war das Buch eine poetische Entdeckung. Ich freue mich, auch weitere ihrer Werke kennenzulernen.

 

Beitragsbild by Christopher Boese  (CC BY-NC 2.0) via flickr

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Han Kang – Unmöglicher Abschied
Übersetzer:in: Ki-Hyang Lee
Aufbau Verlag Dezember 2024, Hardcover, 315 Seiten, € 24,00

 

 

 

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Daniel Gräfe – Wir waren Kometen https://literaturreich.de/2025/01/25/daniel-graefe-wir-waren-kometen/ https://literaturreich.de/2025/01/25/daniel-graefe-wir-waren-kometen/#comments Sat, 25 Jan 2025 09:05:08 +0000 https://literaturreich.de/?p=19694 Als Lukas Luba das erste Mal begegnet, ist diese schon reichlich desillusioniert. Als im Dezember 1989 in Rumänien die Diktatur des Nicolae Ceaușescu endet, packt die sehr junge Frau ihre Koffer und verlässt ihre Heimat… Mehr

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Als Lukas Luba das erste Mal begegnet, ist diese schon reichlich desillusioniert. Als im Dezember 1989 in Rumänien die Diktatur des Nicolae Ceaușescu endet, packt die sehr junge Frau ihre Koffer und verlässt ihre Heimat Hals über Kopf gen Westen. Schon als Kind opponierte sie gegen den Zwang des Regimes in der Schule, auch gegen die regimetreuen Eltern. Die deswegen erhaltenen Strafen traumatisierten sie nachhaltig. Ihr Hass auf das Land legt sich auch in Berlin nicht, obwohl sie hier auch die Negativseiten des Westens zu spüren bekommt und die Stadt doch einigermaßen entfernt von ihrem idealisierten Traumland Italien ist. Das begonnene Studium an der Hochschule der Künste kann sich die begabte Zeichnerin bald nicht mehr leisten und muss sich mit anderen Jobs über Wasser halten. In einer Nobelboutique wird sie völlig grundlos des Ladendiebstahls verdächtigt. Hier lässt Daniel Gräfe seine beiden Protagonist:innen in Wir waren Kometen das erste Mal aufeinandertreffen.

Lukas sieht die junge Frau durchs Schaufenster und ist gleich fasziniert, verteidigt sie gegenüber dem Ladendetektiv. Die schöne Luba ist mit ihrer Spontaneität, Energie und Angriffslust so ganz anders als der überlegte, oft unentschlossene Lukas, der sich mit ihr gleich viel lebendiger und leichter fühlt. Die beiden verbringen intensive gemeinsame Tage, Luba zieht bei Lukas ein. Dieser ist an einer Journalistenkarriere zunächst einmal gescheitert, arbeitet nun mehr oder weniger zufrieden in einer Werbeagentur. Doch Luba ist mit dem Leben in Berlin nicht zufrieden. Sie träumt von Italien, idealisiert es weiterhin. Die Beziehung der beiden ist nicht einfach. Sie sind sehr verschieden und Luba steckt fest in ihrer Wut, ihrer obsessiven Sehnsucht nach Italien, ihren alten Traumata.

Trennung

Als Luba das gemeinsame Leben in Italien plant und Lukas zeitgleich ein Angebot der Werbeagentur bekommt, in die Niederlassung in Stuttgart zu wechseln, müssen sie sich entscheiden. Es kommt zur Trennung. Als sich Luba aber nach längerer Zeit wieder bei Lukas meldet, fährt er nach Berlin. Doch Luba ist nach Rumänien verschwunden, hat nur ihre Tagebücher bei der Freundin Radka zurückgelassen. Lukas beschließt, sie zu suchen.

Es folgt ein Roadtrip mit Lukas altem Ford Fiesta, der reichlich überstürzt erscheint – würde er so spontan wirklich alles hinter sich lassen, so unvorbereitet aufbrechen und so derart chaotisch durchs Land fahren? -, aber ganz hervorragend erzählt ist. Die beiden britischen Backpackerinnen Lilly und Daisy sind die ersten Reisegefährtinnen, verlassen Lukas aber nach einem Tag kurz vor Wien, um auf ein besseres Gefährt zu wechseln. Liviu ist ihr Nachfolger. Der Rumäne arbeitet auf dem Bau und pendelt alle zwei Wochen in die Heimat. Mitten in Rumänien verlässt er Lukas – seine Mutter muss ins Krankenhaus. Lukas muss nun alleine weiter. Mitten in der öden Oltenia, der Kleinen Walachei, ohne Landkarte, das Handy ist auch leer, irrt er durch die „rumänische Sahara“. Er stellt sich da leider oft selten dämlich an.

Die sehr schönen, stimmigen Landschaftsbeschreibungen, generell der feinfühlige, leichte Schreibstil macht das aber vergessen. Der Bauer Bogdan setzt Lukas in einen passenden Zug und endlich erreicht er auch Giurgiu im Donaudelta, Lubas Heimatort.

Ich bin keine große Freundin von Liebesromanen und auch in Wir waren Kometen sind mir die Gefühle manchmal ein wenig zu „groß“ gewesen. Aber der frische, atmosphärische Stil und vor allem die schönen Beschreibungen links und rechts des Wegrandes und die Begegnungen mit den Menschen machen das Buch zu einer tollen Roadnovel und gleichzeitig zu einem Einblick in ein Land, das vielen noch unbekannt ist – so auch mir.

Beitragsbild: John Vermette, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Daniel Gräfe - Wir waren Kometen.

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Daniel Gräfe – Wir waren Kometen
danubebooks Juli 2024, 248 Seiten, 24,00 EUR

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Çiğdem Akyol – Geliebte Mutter https://literaturreich.de/2025/01/20/cigdem-akyol-geliebte-mutter/ https://literaturreich.de/2025/01/20/cigdem-akyol-geliebte-mutter/#respond Mon, 20 Jan 2025 15:10:30 +0000 https://literaturreich.de/?p=19699 Aktuell werden viele Romane veröffentlicht, in denen sich die zweite oder dritte Einwanderergeneration mit ihren Eltern und Großeltern auseinandersetzt. Zentral ist dabei meist die Mischung aus kritischem, schonungslosem Blick und einer großen Zärtlichkeit und Zuneigung,… Mehr

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Aktuell werden viele Romane veröffentlicht, in denen sich die zweite oder dritte Einwanderergeneration mit ihren Eltern und Großeltern auseinandersetzt. Zentral ist dabei meist die Mischung aus kritischem, schonungslosem Blick und einer großen Zärtlichkeit und Zuneigung, dem Bestreben zu verstehen. Die Romane von Dinçer Güçyeter, Necati Öziri und Deniz Utlu sind hervorragende Beispiele dafür, wie dies literarisch sehr gelungen geschehen kann. Nun hat die Journalistin und Sachbuchautorin Çiğdem Akyol mit Canım Annem Geliebte Mutter ein weiteres sehr empfehlenswertes Buch über eine deutsch-türkische Familie geschrieben.

Meryem ist die Protagonistin, die manchmal in der Ich-, manchmal in der personalen Perspektive im Zentrum steht. Ihre Mutter Aynur, die sie in einigen Passagen mit dem „Du“ direkt anspricht, ist eine der komplexen, ambivalenten Figuren, die Çiğdem Akyol in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit entwickelt. Sie stammt aus einer gutsituierten, gebildeten alevitischen Familie in Istanbul. Das bewahrt sie aber nicht vor einem Schicksal, das viele Frauen in streng patriarchalen Gesellschaften erleiden. Nachdem ihr Vater verstorben ist, übernimmt ihr älterer Bruder den Familienvorsitz und verheiratet sie gegen den Willen der Mutter und vor allem gegen ihren eigenen erbitterten Widerstand mit einem ungebildeten, sunnitischen Mann aus einem ostanatolischen Dorf. Beeinflusst von seiner Frau, will er seine Schwester einfach los sein.

Fremdes Leben in Deutschland

Alvin brennt für die schöne Aynur, eine Frau, die sich der mittellose Mann, der in Deutschland ein sehr prekäres Gastarbeiterleben führt, nie hat erträumen können. Statt eines bequemen Lebens in Almanya wartet eine mit dem Bruder geteilte, heruntergekommene Wohnung im trostlosen Herne auf die junge Frau. Statt Liebe und Respekt, ungezügelte Leidenschaft (die Alvin für Liebe hält) und Gewalt. Aynur fügt sich in die Zwangsehe, bald kommen zwei Kinder, Meryem und Ada. Doch mit Alvin geht es bergab. Er wird arbeitslos und spielsüchtig. Aynur muss allein für die Familie aufkommen, wird von ihrem Mann immer wieder geschlagen.

Dass ein solches Schicksal Wunden reißt, ist verständlich. Aynur wird hart, auch zu ihren Kindern. Schwere Arbeit, wenig Anerkennung in der deutschen Gesellschaft – das ist ein Leben, das viele Frauen und Männer der ersten Einwanderergeneration teilen. Meryem und ihre Autorin Çiğdem Akyol wollen verstehen, wie das die Menschen geprägt hat.

„Wie wurde sie zu so einer Frau? Schon früh, dafür gibt es Gründe – und das ist die Geschichte.“

heißt es deshalb schon gleich zu Beginn der Geschichte.

Geliebte Mutter

Es ist nicht so, dass Meryem der Mutter ihr hartes, oft lieblos erscheinendes Verhalten gänzlich verzeiht, aber sie erkennt im Gegensatz zu ihrem unversöhnlichen Bruder Ada an, wie sehr Aynur kämpfen und arbeiten musste, damit ihre Kinder es besser haben können, studieren, und vor allem frei von den patriarchalen Zwängen, unter denen sie so sehr zu leiden hatte, leben können.

Mit Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven arbeitend, gelingt Çiğdem Akyol mit Geliebte Mutter Canım Annem ein berührender und sehr relevanter Debütroman, der gut geschrieben und aufgebaut ist, so dass man ihn äußerst gerne liest.

 

Eine weitere Besprechung findet ihr bei Lust auf Lesen

Beitragsbild via pexels

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.Çiğdem Akyol – Canım Annem Geliebte Mutter
Steidl Verlag Oktober 2024, 240 Seiten, Leineneinband, € 24.00

 

 

 

 

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Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen https://literaturreich.de/2025/01/16/joachim-meyerhoff-man-kann-auch-in-die-hoehe-fallen/ https://literaturreich.de/2025/01/16/joachim-meyerhoff-man-kann-auch-in-die-hoehe-fallen/#respond Thu, 16 Jan 2025 09:59:07 +0000 https://literaturreich.de/?p=19687 Der ehemalige Burgschauspieler Joachim Meyerhoff ist schon seit geraumer Zeit in der Welt der Autoren angekommen. Sein ursprünglich als Bühnenprogramm konzipiertes autobiografisches Werk „Alle Toten fliegen hoch“ wird seit 2011 sehr erfolgreich in Buchform veröffentlicht.… Mehr

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Der ehemalige Burgschauspieler Joachim Meyerhoff ist schon seit geraumer Zeit in der Welt der Autoren angekommen. Sein ursprünglich als Bühnenprogramm konzipiertes autobiografisches Werk „Alle Toten fliegen hoch“ wird seit 2011 sehr erfolgreich in Buchform veröffentlicht. Amerika (über sein Austauschjahr in Amerika und den frühen Tod des Bruders), Wann wird es wieder so wie es nie war (über die Kindheit als Sohn des Leiters der Psychiatrie Schleswig), Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (über die Ausbildung zum Schauspieler und das Leben bei den exzentrischen Großeltern in München) sind All-Time-Favorites für mich. Allerdings bereits in Die Zweisamkeit der Einzelgänger begann der Zauber der Bücher für mich zu schwinden. Zuviel Selbstbespiegelung und einige fast gehässige Anekdoten über verflossene Beziehungen statt der Selbstironie und der immer auch liebevollen, spöttischen Blicke auf die Familie haben mir ein wenig den Spaß daran genommen. Auch der Nachfolgeband über seinen 2018 erlittenen Schlaganfall (Hamster im hinteren Stromgebiet) konnte mich aufgrund seiner – wenn auch verständlichen – Larmoyanz nicht überzeugen. Zum Glück findet Joachim Meyerhoff im nun sechsten Band Man kann auch in die Höhe fallen wieder zu seiner alten Stärke als begnadeter Erzähler zurück.

Flucht aus Berlin

Es ist die Geschichte seines Rückzugs aus dem stressigen Berlin in die ländliche Idylle zu seiner 86-jährigen, extrem rüstigen Mutter. Nach dem 2018 mit nur 51 Jahren erlittenen Schlaganfall wollte Meyerhoff einen Neuanfang wagen und zog 2019 mit Partnerin und Sohn von Wien nach Berlin, wechselte vom Burgtheater an die Berliner Schaubühne. Doch diese Veränderung tat ihm offensichtlich nicht gut. Er berichtet von Wut- und Tränenausbrüchen, Gereiztheit und Larmoyanz, Überforderung durch das laute, hektische, „aggressive“ Berlin. Irgendwann erkennt er, dass es so nicht weitergeht, er seine Familie belastet. Er fasst den Entschluss, sich für eine Weile aufs Land und zu seiner Mutter zurückzuziehen.

Es werden schließlich zehn Wochen daraus. Er werkelt auf dem großen Anwesen seiner Mutter, badet mit ihr in der nahegelegenen Ostsee oder im grundstückseigenen Teich, ist Zaungast, wenn die Damen vom Chor kommen, schreibt ein wenig am neuen Text. Wie von Joachim Meyerhoff bekannt, erzählt er herrlich lustig, anekdotenreich und selbstironisch von zahlreichen Alltagsabsurditäten und schweift immer wieder zurück zu Szenen aus der Kindheit, Jugend, der Schauspielzeit in denen er alles andere als den „Held“ darstellt. Dabei ist wieder bewundernswert, wie selbstironisch und auch selbstkritisch, wie offen und direkt er von sich und seiner Familie berichtet. Auch die Verstorbenen – gemäß dem Motto „Alle Toten fliegen hoch – bleiben stets präsent.

Mutter

„Mutter isst“, „Mutter taucht“, „Mutter heilt“, „Mutter backt“ sind die Kapitel überschrieben. Man kann auch in die Höhe fallen ist ein Mutter-Buch. Eines der hemmungslosen Überhöhung der Mutter, die in einer Szene als „Bond-Girl“ den Ostsee-Fluten entsteigt. Das ist liebevoll-bewundernd, aber doch hoffentlich auch ein wenig ironisch gemeint. Diese Mutter mit ihrem fast manischen Aktivitätsdrang und Schaffenswillen, die mit ihrem Aufsitzmäher über das Riesengrundstück brettert, stets splitternackt baden geht, auch mal während des Saunagangs die Sense schärft und backblechweise Kuchen backt, finde ich persönlich einfach nur anstrengend.

Ich weiß, dass zahlreiche Rezensent:innen fast schockverliebt in sie sind, aber da gibt es doch so einige Ecken und Kanten, die ich nicht wirklich belächeln kann (beispielsweise die drei acht- bis zwölfjährigen Söhne an einer Straße für über eine Stunde einfach „auszusetzen“, weil ihr etwas nicht passte, oder ihre völlig rücksichtslose Fahrweise „wie eine gesengte Sau“). Aber Überspitzung ist Meyerhoffs Stilmittel in all seinen autofiktionalen Romanen. Und was tatsächlich 1:1 stimmt ist nicht wirklich wichtig. Er erzählt mitreißend und wahnsinnig unterhaltsam und hat dazu noch ein beeindruckendes Sprachgespür. Was will das Leser:innenherz mehr?

 

Beitragsbild: by Joe Shoe (CC BY-ND 2.0) via Flickr

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Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallenVerlag:
Kiepenheuer&Witsch November 2024, gebunden, 368 Seiten, € 26,00

 

 

 

 

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Ulrike Draesner – zu lieben https://literaturreich.de/2025/01/11/ulrike-draesner-zu-lieben/ https://literaturreich.de/2025/01/11/ulrike-draesner-zu-lieben/#respond Sat, 11 Jan 2025 21:14:22 +0000 https://literaturreich.de/?p=19645 Kann man zu lieben lernen? Was bedeutet es überhaupt, zu lieben – das beleuchtet die Autorin Ulrike Draesner anhand der Adoption eines Kindes, ihres Kindes. Nach mehreren Fehlgeburten und unzähligen Versuchen, schwanger zu werden sind… Mehr

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Kann man zu lieben lernen? Was bedeutet es überhaupt, zu lieben – das beleuchtet die Autorin Ulrike Draesner anhand der Adoption eines Kindes, ihres Kindes. Nach mehreren Fehlgeburten und unzähligen Versuchen, schwanger zu werden sind die Ich-Erzählerin, die durchaus mit der Autorin gleichgesetzt werden kann, und ihr Mann Hunter schon jenseits der Vierzig. Zu alt für das deutsche Adoptionssystem. Für solche Fälle gibt es Vereine, die Auslandsadoptionen vermitteln. Die Wahl fällt auf Sri Lanka und die Zeit des Wartens und der bürokratische Hindernisse beginnt.

Dann kommt er tatsächlich, der Anruf aus Colombo: In einem Kinderheim der Mutter-Teresa-Schwestern lebt ein kleines Mädchen, 3 Jahre alt und mit Namen Mary, das für die Adoption in Frage kommt. Die Ich-Erzählerin und Hunter fliegen nach Sri Lanka. Vier Wochen des Kennenlernens und sich aneinander Gewöhnens liegen vor ihnen, denn die Behörden lassen vor ihrer Genehmigung prüfen, ob Eltern und Kind auch miteinander harmonieren. Vier Wochen, um eine Art Bonding herzustellen, von dem immer gesagt wird, die prägenden Momente wären die direkt nach der Geburt.

Zwei Welten

Hier treffen nun die beiden Weißen ohne jegliche singhalesische Sprachkenntnisse auf ein kleines willensstarkes, trotziges Mädchen, das seit seiner Geburt mit seiner damals erst zwölfjährigen Mutter in diesem Heim lebt, vordergründig versorgt – mit Nahrung, Kleidung, Sauberkeit -, aber gezwungenermaßen emotional vernachlässigt. Wie kann man seine Fremdheit, Angst, Scheu, Ablehnung überwinden? Fünf sri-lankische Familien müssen bereits die Adoption abgelehnt haben, bevor ein Kind für eine Auslandsadoption in Frage kommt. Mary ist kein einfaches Kind. Sie verweigert jede Nähe und Berührung ihrer potentiellen Adoptiveltern ab.

Wie gelingt es, diese Distanz zu überwinden? Wie lernt man, zu lieben – oft musste ich, so abgenudelt es erscheinen mag, an den kleinen Prinz von Antoine de Saint-Exupéry denken. „Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt … (…aber)du musst sehr geduldig sein“ sagt der Fuchs. Und diese Geduld braucht es auch für Mary. Es gibt Fortschritte und Rückschritte und es ist bewundernswert, wieviel Raum die zukünftige Adoptivmutter ihrer „future daughter“ lässt, damit auch manches Mal fast verzweifelt, aber durchhält, bis es nach diesen vier Wochen tatsächlich zur Adoption kommt. Nach jeder Menge Bürokratie, Ämtern, Behörden.

In Berlin stößt die kleine Familie auf weitere Schwierigkeiten. Das Mädchen kommt aus einer ganz anderen Kultur, kennt keine Löffel, keine Schuhe, keine Unterhosen. Und die Umgebung beäugt die Mutter und ihr so ganz anders aussehendes Kind misstrauisch. Die Ehe mit Hunter bekommt Risse, scheitert letztendlich.

Beeindruckende Offenheit

Ulrike Draesner erzählt in zu lieben beeindruckend offen. Roman steht als Gattungsbezeichnung auf dem Cover, denn es ist kein Roman, es ist wahr, aber es ist natürlich rekonstruiert, erinnert, nach-erzählt und damit schon wieder ein Stück weit Fiktion. Der Text ist in sehr kurze Abschnitte geteilt, die meistenteils chronologisch fortschreiten, aber auch assoziativ springen können, und durch in anderen Schriftarten abgesetzte Passagen der Reflexionsebene unterbrochen werden. Begriffe werden durchgestrichen, weil sie manchmal nicht passen, die Suche danach aber sichtbar gemacht werden soll. Emotionalität und Empathie werden durch Ironie und Analyse ergänzt. Die Autorin ist sich der Situation – Weißes privilegiertes Paar „holt“ sich ein Kind aus einem ehemalig kolonialisierten Land – sehr bewusst, hinterfragt das auch, weiß, dass hier ein Machtgefälle besteht. Sie sieht auch die furchtbaren patriarchalen Strukturen, die dazu führen, dass es für eine zwölfjährige Mutter nur die Zuflucht in ein solches Mutter-Kind-Heim gibt. Dass es überhaupt zwölfjährige Mütter gibt.

Mehr als fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen. Mutter und Tochter haben zu lieben gelernt. Davon erzählt dieses so einnehmende, zärtliche und offene Buch über Elternschaft und Mutterliebe, über Kinderwunsch und dessen Erfüllung. Über eine Beziehung, die keiner anderen gleicht. Wunderbar!

 

Über den dritten Teil der „Nebelkindertrilogie“ von Ulrike Draesner könnt ihr hier lesen:

Ulrike Draesner – Die Verwandelten

 

 

Beitragsbild: © [imaghitasia]/12ERF.COM

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Ulrike Draesner – zu lieben
Penguin September 2024, 352 Seiten, gebunden, € 24,00

 

 

 

 

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Lektüre Dezember 2024 https://literaturreich.de/2025/01/08/lektuere-dezember-2024/ https://literaturreich.de/2025/01/08/lektuere-dezember-2024/#respond Wed, 08 Jan 2025 12:58:38 +0000 https://literaturreich.de/?p=19577 Meine Lektüre im Dezember 2024 war vielseitig, überaschend und überwiegend sehr gut. Aus zeittechnischen Gründen habe ich dieses Mal viele Kurzrezensionen verfasst, die hier in der Zusammenfassung des Lesemonats zum ersten Mal erscheinen. Beispielsweise Francesca… Mehr

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Meine Lektüre im Dezember 2024 war vielseitig, überaschend und überwiegend sehr gut. Aus zeittechnischen Gründen habe ich dieses Mal viele Kurzrezensionen verfasst, die hier in der Zusammenfassung des Lesemonats zum ersten Mal erscheinen. Beispielsweise Francesca Melandri – Kalte Füße, Leyla Bektas – Wie meine Familie das Sprechen lernte, José Luís Peixoto – Mittagessen am Sonntag und Ubah Cristina Ali Farah – Der Kommandant des Flusses. Mit Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück habe ich auch ein Backlist-Buch aus 2023 besprochen – ebenfalls hier zum ersten Mal erschienen.

Langsam trudeln auch die ersten Frühjahrs-Novitäten ein. Ich freue mich auf ein spannendes Lesejahr 2025. Wenn ihr nochmal in die Neuerscheinungen hineinschnuppern möchtet, könnt ihr das gerne im entsprechenden Beitrag tun.

Nun wünsche ich euch ein gutes, friedvolles, gesundes Neues Jahr mit immer der richtigen Lektüre. Schön, dass ihr hier immer wieder vorbeischaut, das freut mich wirklich sehr. Ich hoffe, das bleibt auch 2025 so. Bleibt hoffnungsvoll!

 

"</aFrancesca Melandri – Kalte Füße

Die italienische Geschichte, im Besonderen die Zeit des Faschismus, ist immer wieder Thema in den Büchern der Autorin Francesca Melandri. Kalte Füße nun ist kein Roman, sondern eine literarische Befragung des 2012 verstorbenen Vaters und eine essayistische Begleitung des Ukrainekriegs. Melandri verbindet darin ihre Familiengeschichte, ein sehr emotionales Porträt ihres Vaters Franco Melandri, einen historischen Rückblick und eine Art Tagebuch zum aktuellen russischen Angriffskrieg. Dieser hat Melandri sehr erschüttert, besonders als sie erkannte, dass die aktuellen Kriegsschauplätze fast dieselben sind wie im Winter 1942/1943, als ihr Vater als Kommandeur einer schlecht ausgerüsteten Brigade der italienischen Alpini den „Rückzug aus Russland“ mitmachte, bei dem nur einer von zehn Soldaten überlebte und der in Italien einen ähnlich mythischen Status wie beispielsweise Stalingrad für Deutschland besitzt.

Worauf Melandri immer wieder pocht ist, dass es ein Rückzug aus der Ukraine war, das bereits da diese immer wieder verleugnet und mit Russland gleichgesetzt wurde. In Melandris Familie waren die Kriegsgeschichten des Vaters präsent, er selbst hat zwei Bücher darüber geschrieben, die mit kurzen Auszüge vor jeden Kapitel zitiert werden. In einem Interview, das Francesca Melandri mit einem Widerstandkämpfer von damals führte, bezeichnete dieser ihren Vater als „anständigen Faschisten“. Das irritiert die Autorin sehr. Sie recherchiert und verfasst dieser Buch als eine Art Befragung ihres geliebten Vaters, spricht ihn häufig als „Papa“ direkt an, überprüft seine Narrative und entlarvt sie als Narrative der italienischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die es sich im Opfermythos bequem gemacht hat, ihren Faschismus nie wirklich aufgearbeitet hat und sich jetzt dem rechten Populismus hingibt.

„Aber vielleicht ist Faschismus mehr als alles andere eine Art aufgeblasene Feigheit; ist protzige Eitelkeit, verbunden mit einem untrüglichen Gespür dafür, woher der Wind weht; vielleicht ist er banale Verherrlichung des Konformismus, vergiftet, zu sozialer Kälte verkommener Selbsterhaltungstrieb; Amoral im Dienste des Eigeninteresses oder höchstens im Interesse der eigenen Leute.“

Francesca Melandri ist wütend. Über den Umgang mit der Vergangenheit, darüber, dass man keine Lehren daraus gezogen hat, über die „Feigheit“ im Umgang mit der Ukraine, über eine westeuropäische Gesellschaft, die dieser zu wenig Unterstützung zukommen lässt, die „kalte Füße“ bekommt (wie damals konkret die aus der Ukraine flüchtenden Alpini). Das ist schonungslos, anklagend, sehr emotional. Sehr viele kluge Gedanken, sehr viel historisch Interessantes, aber auch einige Redundanzen. Auf jeden Fall lesenswert. Oder auch hörenswert in der Hörbuchfassung mit Nina Kunzendorf (im Moment noch in der ARD-Mediathek verfügbar).

 

leyla-bektas-wie-meine-familie-das-sprechen-lernteLeyla Bektas – Wie meine Familie das Sprechen lernte

In alevitischen Familien galt lange Zeit ein Schweigegebot. Auch aus Selbstschutz wurde über die Zugehörigkeit zu dieser Glaubensrichtung geschwiegen. Denn schon immer war sie Verfolgungen und Unterdrückungen, nicht selten auch Pogromen ausgesetzt. So beispielsweise 1937/38 in der Kurdenregion Dersim unter Atatürk, 1978 in Maras und 1993 bei einem Brandanschlag auf ein alevitisches Festival in Sivas.

Auch in Alevs Familie wird nicht darüber gesprochen, dass ihr Vater Mithat aus einer alevitischen Familie stammt. Bereits 1978 folgte er seinem älteren Bruder Hüsnü nach Köln und gründete dort wie dieser mit einer deutschen Frau eine Familie. Bruder Cem wiederum blieb wie die Schwester Sevim in der Türkei und führt dort mit seiner Frau Selen ein äußerst erfolgreiches Textilunternehmen, mit dem sie sehr reich wurde. Viele Urlaube verbringt Alev mit ihrer Familie im Luxus des Onkels. Abgesehen von diesen Familienbesuchen hat Alev wenig Berührung mit der Türkei und den Aleviten. Sie wurde völlig säkular erzogen, beherrscht auch die Sprache nicht. Auch Mutter Magda zieht es nicht besonders in Mithats Heimat. Ein wenig fühlt Alev sich dennoch „zwischen zwei Welten“.

Der Roman von Leyla Bektas beginnt 2017. Alev ist Ende Zwanzig und ihr Onkel Cem liegt im Koma. Er wird sterben. Sein Diabetes wurde von ihm falsch behandelt, er leidet aber auch an den Folgen eines Gefängnisaufenthalts. Der erfolgreiche Alevit war anscheinend zu erfolgreich und wurde wegen seiner Steuerrückforderungen 2010 kurzerhand verhaftet. Türkische Geschichte ist neben der Familienerzählung das zweite große Thema im Roman. In vielen – gut nachvollziehbaren – Zeitsprüngen bewegt sich der Text vom Jahr 2017 aus zurück ins Jahr 1978 und dann chronologisch fortschreitend bis sich die Zeitebenen nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wieder treffen. Köln, Istanbul, Ankara und Hacıbektaş sind die wichtigsten Handlungsorte. Die Fülle an Figuren kann man am besten mit dem Stammbaum am Ende des Textes im Blick behalten. Wie meine Familie das Sprechen lernten ist ein äußerst aufschlussreicher, gut erzählter und komplex konstruierter Roman, der sich zu lesen sehr lohnt.

 

Mittagessen am Sonntag - José Luís PeixotoJosé Luís Peixoto – Mittagessen am Sonntag

Mittagessen am Sonntag ist die in Romanform gegossene Biografie eines der reichsten Unternehmer Portugals, des 2023 verstorbenen Rui Nabeiro. Es spielt um den 90. Geburtstag Ruis und wurde passend dazu 2021 veröffentlicht. Mich hätte interessiert, ob es ein Auftragswerk zu diesem Datum war oder warum José Luís Peixoto gerade Nabeiro für seine literarische Biografie ausgewählt hat. Ein Nachwort o.ä. wäre da sehr hilfreich gewesen. Aber das Buch besteht auch ohne diese Information.

In zwei Perspektiven, die sich eng vermischen, wird über den anstehenden Geburtstag und die Feierlichkeiten erzählt und in die Kindheit, Jugend, die Liebesgeschichte zu seiner Frau Alice und die Familiengeschichte zurück geblendet. Die Ich-Perspektive nimmt Gedanken und Gefühle in den Blick, die Erzählstimme berichtet über die Umstände, erzählt auch portugiesische Geschichte. Spanischer Bürgerkrieg, die koloniale Vergangenheit, die Nelkenrevolution und die nachfolgende Demokratisierung sind dabei Schwerpunkte. Die Entwicklung aus einfachen Verhältnissen – der Vater war Chauffeur eines Doktors, die Mutter betrieb eine kleine Fleischerei – zum Besitzer einer der führenden Kaffeeröstereien, die in viele weitere Bereiche expandierte, wird geschildert. Nabeiros Bedeutung für seinen Heimatort Campo Maior im Alentejo, nahe der spanischen Extremadura, woher auch Peixoto stammt, wird deutlich.

Eindrücklicher als die biografischen Details war für mich allerdings die Annäherung an das hohe Alter des Porträtierten. Selten habe ich eine so dichte, komplexe und berührende Darstellung dieses Lebensabschnitts gelesen. Die Gedanken gehen manchmal drunter und drüber, springen vom einen zum anderen, ruhen dann wieder in genauen Beobachtungen und Wahrnehmungen des Hier und Jetzt, wandern dann weit zurück in mehr oder weniger ferne Erinnerungen. Es war ein reiches, ein gutes Leben, an das Nabeiro zurückdenkt. Wehmut erfasst ihn angesichts der vielen verlorenen Menschen, aber auch Glück und Zufriedenheit, weil er die letzten Lebensjahre an der Seite seiner geliebten Frau verbringen darf. Bitterkeit schleicht sich nur ganz selten ein, Melancholie und Wehmut schon. Das Mittagessen am Sonntag ist beglückender Ankerpunkt. Ich mochte den Ton des Romans sehr. Für mich ist es nach Galveias das zweite sehr empfehlenswerte Buch des portugiesischen Autors.

„Es war ein sonniger Sonntag, bis in die entlegensten Winkel erhellt. Senhor Rui war neunzig Jahre alt und alle hatten ebenso ein Alter. Im Angesicht der Zeit wie auch im Angesicht des Universums war es ein unvergesslicher Sonnatag. Der Tisch erwartete sie, sämtliche Plätze mit großer Sorgfalt gedeckt, ein vollkommener und vollendeter Tisch.“

 

Ubah Cristina Ali Farah – Der Kommandant des Flusses

Die eigene koloniale Geschichte ist den Italienern ähnlich fern und fremd wie lange den Deutschen. Beide Länder scheinen fast überrascht, wenn man sie mit ihrer kolonialen Vergangenheit konfrontiert. Lange Zeit hat man sie mehr oder weniger erfolgreich verdrängt. Eritrea, Libyen, Äthiopien und Somalia waren einst italienische Kolonien. Francesca Melandri hat 2018 einen auch in Deutschland sehr erfolgreichen Roman über diese Vergangenheit anhand von Eritrea und Äthiopien geschrieben. Und bereits 2014 erschien Der Kommandant des Flusses von der 1973 als Tochter eines somalischen Vaters und einer italienischen Mutter in Verona geborenen Ubah Cristina Ali Farah im Original. Seinen Titel hat der Roman von einer alten somalischen Legende. Darin litt das Land durch Wassermangel an einer großen Hungersnot. Die Bauern konnten das Wasser im Fluss nicht nutzen, da dort gefährliche Krokodile lebten. Aus diesem Grund wurde ein Kommandant ernannt, der mit den Tieren verhandeln sollte, damit wieder Ernten möglich wurden.

Zu Beginn begegnen wir dem jugendlichen Protagonisten Yabar im Krankenhaus Fataebenefratelli auf der römischen Tiberinsel, wo er mit einer schweren Augenverletzung, die seine Erblindung bedeuten könnte, liegt. Wie es zu dieser Verletzung gekommen ist, bleibt bis zum Ende unklar und bildet einen der Spannungsbögen. Fortan wird auf verschiedenen Zeitebenen von Yabars Kindheit und Jugend erzählt, so dass man einen Coming of age-Roman in der Hand hält. Wie seine Autorin ist Yabar in Mogadischu aufgewachsen und kurz vor Ausbruch des somalischen Bürgerkriegs 1991 mit seiner Mutter Zarah nach Rom gegangen. Anfangs begleitete sie auch der Vater, dieser ging aber zurück, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Ein Bürgerkrieg, der neben der islamistischen al-Shabaab Miliz vor allem durch Clanrivalitäten bestimmt ist und bis heute andauert.

Der ruhelose, rebellische Yabar ist anders als seine Wahlschwester Sissi, mit deren Mutter, der Bibliothekarin Rosa, Zarah eine tiefe Freundschaft verbindet, ein Schulverweigerer. Anders als Sissi, die wegen ihres italienischen Vaters sehr hellhäutig ist, fühlt sich Yabar wegen seiner Hautfarbe in der römischen Gesellschaft nicht integriert, provoiert, eckt an. Zur Strafe schickt ihn seine Mutter zu Verwandten nach London. Aber auch dort findet er weder zu einer eigenen Identität noch zu Akzeptanz. Fragen zu seinem im Bürgerkrieg verschollenen Vater, die ihm die Familie nicht beantworten will, quälen ihn. Welche Rolle spielte dieser beim Tod des jüngeren Bruders Zahras?

Italiens Kolonialismus, der somalische Bürgerkrieg, Alltagsrassismus in Italien und die afrikanische Diaspora in Rom – Ubah Cristina Ali Farah verwebt das alles zu einem lesenswerten Coming of age-Roman.

 

 

Stefanie de Velasco – Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft

In der kleinen, feinen Reihe „Briefe an die kommende Generation“ im kleinen, feinen Kjona Verlag hat die Autorin Stefanie de Velasco einen 70seitigen Essay in Form eines Briefes an ein ungeborenes Kind geschrieben. Ungeboren, da vor vierzehn Jahren von der Autorin abgetrieben. Stella, so nennt sie dieses Kind, das nun in einem Alter wäre, in dem Stefanie de Velasco sich selbst von ihrer Familie und den Zeugen Jehovas, denen diese angehört, lossagte. Und in einem Alter, in dem sich viele Teilnehmer:innen der Friday for Future Klimaproteste befinden.

2019 erschien de Velascos Roman über ihre Befreiung aus der Glaubensgemeinschaft Kein Teil der Welt. Es war für die Autorin zugleich eine Zeit, in der sie sich verstärkt mit der Klimakrise beschäftigte. Im November begann sie mit einem Streik in Berlin, bei der sie vor der Akademie der Künste als „German writer on climate strike“ auftrat. Es gab wenig Resonanz, man kann einige Notate unter Klimastreiklogbuch noch auf der Seite ihres Verlags (Kiepenheuer&Witsch) nachlesen.

Ein neues Projekt sollte Aufmerksamkeit für den Klimaschutz schaffen, kollidierte schließlich aber mit der Corona-Pandemie, aber auch an den eigenen Ressourcen und der Sinnhaftigkeit: mit einem zum kleinen Wohnmobil umgebauten Fahrrad sollte es entlang des Elbe-Lübeck-Kanals gehen. Nach drei Wochen musste sie das Projekt als gescheitert betrachten. Statt Frustration und Hoffnungslosigkeit erfasst die Autorin danach aber ein großes Gefühl der Zuversicht, das sie in ihrem Essay an die Lesenden weitergeben will. Das Prinzip der radikalen Hoffnung, die sich klarmacht, dass es keine Rückkehr in „alte Zeiten“ geben kann und die durch diese Erkenntnis ins Handeln, in die Aktion gerät, die eine gute, lebenswerte, neue Zukunft erschaffen kann.

Die Passagen über ihre eigenen (manchmal sonderbaren) Projekte sind meiner Meinung trotz der Kürze des Buchs zu lang geraten, ihre Schlussfolgerungen, dass es keinen Sinn macht, eine Rückkehr in alte Verhältnisse (sei es stetes Wachstum, fossile Ressourcen, alte Friedensordnungen) unter völlig veränderten Rahmenbedingungen anzustreben, sondern dass man eine lebenswerte, friedliche Zukunft neu gestalten muss, sind nicht unbedingt bahnbrechend, aber sollten mehr Gehör finden. Deshalb lesenswert.

„Das Schreiben oder das mündliche Erzählen (…)(die) in der Lage sind, uns zu trösten, zum Lachen zu bringen, zu lieben und uns in fremde Welten und Menschen hineinzuversetzen, lässt mich wieder an das Schöne im Menschen glauben (…) Schreiben ist für mich radikale Hoffnung.“

 

"</aAnne Rabe – Die Möglichkeit von Glück

Anne Rabe hat mit ihrem Debütroman eine Familiengeschichte aus der Nachwende-Zeit geschrieben, die einiges an Aufmerksamkeit erhalten hat und für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert war. Sie verwebt darin kunstvoll verschiedene Erzählebenen. Da ist einmal die Gegenwartsebene von Ich-Erzählerin Stine Bahrlow. Die ist Mutter zweier Kinder, von Klara und Kurt, die sie so ganz anders erziehen möchte als ihre Eltern das mit ihr und ihrem kleinen Bruder Tim getan haben.

„Was ist Gewalt, denkst du? Und warum wirkt sie so lange nach? Warum vergisst du sie nicht einfach?“

Die Mutter war streng, strafend, oft prügelnd und manchmal direkt grausam zu ihren Kindern. Der Vater bot keinen Schutz, war schwach, aber auch hart. Beide waren eingefleischte SED-Anhänger und haben auch nach dem Mauerfall der DDR nachgetrauert. Inwiefern das System der DDR und die noch fortdauernden Prägungen aus der NS-Zeit, die dort nie aufgearbeitet wurden, die Gewalt auch in Familien getragen hat, ist eine Frage, die das Buch umkreist. Warum herrschte in so vielen Familien Schweigen, Kälte und Lieblosigkeit?

„Wir haben uns an das Schweigen um uns herum gewöhnt und an die Geschichten, die wir nicht verstanden haben. Wir wussten, wann wir besser nicht nachfragten, auch wenn hinten und vorne nichts stimmte.“

 

„Dieses System ist in die Menschen gekrochen, hat sie geformt und unser Miteinander deformiert.“

Es gab strukturelle Gewalt in Gesellschaft und Schule – Kinder (und Bürger) haben zu funktionieren -, Umerziehungslager für Unbequeme und nach der Wende die „Baseballschlägerjahre“, in denen vor allem rechtsgerichtete Jugendliche gegen Andersdenkende oder -seiende vorgegangen sind. Inwieweit prägt das die Menschen? Und welche Auswirkungen hat das auf die Gesellschaft bis heute? Schonungslos schaut Stine stellvertretend auf ihre Familiengeschichte, auch auf Großmutter Eva und den Großvater Paul, den sie als lieben Opa in Erinnerung hat, der aber gleichzeitig DDR-Funktionär war und seine Tochter, Stines Mutter, äußerst streng erzog.

„Nichts davon ist meine Schuld. Ich fühle mich dennoch schuldig, sodass ich mich noch nie hineingetraut habe in das dunkle Herz der DDR. Ich bin jedes Mal vorher abgebogen.“

Stines Erinnerungen und ihr Abarbeiten an der Mutter, die immer noch gegen sie intrigiert, bilden einen Teil des Textes. Sie werden immer wieder durch essayistische Passagen, Schilderungen ihrer Recherchearbeit zur Familie und durch kursiv gesetzte Abschnitte in der Du-Perspektive ergänzt. So entsteht eine ziemlich schonungslose, komplexe Familiengeschichte, die sicher einiges an autobiografischem Hintergrund besitzt, aber auch eine soziologische Gesellschaftsanalyse. Das ist hochpolitisch und hat vor allem in Ostdeutschland einiges an Unmut ausgelöst. Ich finde, es ist einer der gelungensten Familienromane der letzten Zeit. Durch das zumindest hoffnungsvolle Ende ist es auch eine Emanzipationsgeschichte, mit der Anne Rabe zeigt, das es die Möglichkeit von Glück immer und trotzdem gibt.

 

Maxim Leo, Kat Menschik - Junge aus West-BerlinMaxim Leo – Junge aus West-Berlin

Band 18 der Lieblingsbuchreihe von Kat Menschik und von dieser illustriert

2016 erschien der erste Band dieser bildschönen kleinen Reihe (Franz Kafkas Ein Landarzt) und ich weiß noch wie wir ein oder zwei Jahre später bei der LitBlogCon – die damals noch von verschiedenen Verlagen in Köln veranstaltete wurde – vom Galiani Verlag einen kleinen Einblick in die aufwändige Fertigung dieser kleinen Kunstwerke erhalten haben. Seitdem sind die verschiedensten Texte erschienen: Klassiker wie Djamila von Tschingis Aitmatow, Unentdecktes wie die Erzählungen von Asta Nielsen oder Anthologien wie Die Puppe im Grase. Oder aber die herrlichen Begleitbändchen zu Volker Kutschers Rath-Reihe. Die Texte waren mal eher Beiwerk, mal großartig.

Maxim Leos Liebesgeschichte zwischen Marc aus Westberlin und Nele aus Ostberlin, die glaubt, der von den „Ostlern“ wegen seiner coolen Klamotten, begehrten Platten und Bücher bewunderte Marc wäre „drüben“ ein bekannter Musikmanager, ist eher Beiwerk zu den in dunklen Grau- und strahlenden Pinktönen gehaltenen Illustrationen. Es ist das Jahr 1989 und wir ahnen, dass Marcs „Ruhm“ und seine Schwindeleien bald aufgedeckt werden könnten. Weshalb er nach dem Mauerfall seine regelmäßigen Besuche auf der anderen Seite abrupt beendet. Vergessen können sich die Beiden aber nicht.

Ich fand die Geschichte recht seicht, insgesamt nicht sehr überzeugend. Ganz nett zu lesen, mehr aber nicht. Gestört hat mich die zur Zeit so trendige Ostalgie, die im Buch und besonders im Nachwort der Illustratorin anklingt. „Fröhlich-bunte Anarchie im grauen Schattenland diesseits der Mauer“ vermeldet denn auch der Verlag. Menschiks Illustrationen sind aber gewohnt grandios und ich freue mich wieder auf einen neuen Volker Kutscher-Text. Denn das hat der Autor verraten: auch nach Ende der Rath-Reihe wird es noch ein kleines, von Menschik illustriertes Bändchen geben.

 

 

emilienne-malfatto-die-schlangen-werden -dich-holenEmilienne Malfatto – Die Schlangen werden dich holen

Am 5. Januar 2019 wird die 62-jährige Maritza Queiroz Leiva auf der Finca El Diviso im Dschungel der kolumbianischen Sierra Nevada erschossen. Die Hintergründe der Tat bleiben im Dunkeln und werden von den öffentlichen Stellen nicht näher untersucht. In Kolumbien werden trotz Friedensabkommen der Regierungen mit den verschiedenen Guerillagruppen, nach wie vor Menschen, die den Mächtigen im Weg stehen – seien es politische Gegner, soziale oder Klimaaktivist:innen – bedroht und ermordet. Nach 50 Jahren Krieg und geschätzt bis zu einer halben Million Todesopfern, zählte man auch 2019 noch 250 Morde, 2023 lag die Zahl bei 188. Ganz gleich, ob sie sich der Drogenmafia, Kaffeebaronen, Tourismusentwicklern oder dem Bergbau entgegenstellen, engagierte Bürger leben gefährlich.

Bereits Maritzas Mann Alvaró wurde 2004 von der Guerilla ermordet. Und bereits damals wurden die Begleitumstände und Gründe niemals aufgeklärt. Sechs Kinder musste sie nun allein großziehen, engagierte sich außerdem sozial und bewirtschaftete Land in den hauptsächlich dem Kaffeeanbau dienenden Berghängen der Sierra Nevada de Santa Marta.

Die 1989 geborene Emilienne Malfatto nähert sich von verschiedenen Seiten diesem Mord. In für sie nicht ungefährlichen Recherchen spricht sie mit Angehörigen, Freunden, Nachbarn, aber auch mit Ex-Guerilleros und fährt mit dem Motorrad in das schwer zugängliche und unsichere Gebiet. Sie möchte herausbekommen, was 2019 wirklich geschah, die Hintergründe beleuchten, möglicherweise herausbekommen, wer für Maritzas Tod verantwortlich ist. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Aber auch wenn die Tat weiterhin im Dunkeln bleibt, hat Emilienne Malfatto die Ermordete Maritza Queiroz Leiva dem Vergessen, das den Verantwortlichen so entgegenkommen würde, entrissen. Schon allein deswegen ein äußerst lesenswertes Buch.

 

der-schluessel-zum-haus-tatiana-salem-levyTatiana Salem Levy – Der Schlüssel zum Haus

Als im Jahr 2022 die Leipziger Buchmesse wegen Corona zum dritten Mal abgesagt wurde, war besonders bedauerlich, dass das Gastland Portugal nicht die ihm gebührende Bühne fand. Dank der spontan organisierten Popup-Messe fanden aber dann doch zahlreiche Buchbegeisterte den Weg nach Leipzig und auch einige portugiesische Autor:inen waren mit einem spannenden Programm anwesend. Beispielsweise auf dem damals noch existierenden Blauen Sofa der Messe. Dort konnte man Carla Bessa, José Luis Peixoto, Yara Nakahanda Monteiro und eben Tatiana Salem Levy erleben. Diese hatte mit Vista chinesa gerade einen sehr beeindruckenden Roman über eine Vergewaltigung auf Deutsch veröffentlicht. Jetzt liegt, ebenfalls im Secession Verlag, eine traumhaft schöne Ausgabe ihres bereits 2007 erschienenen Romans Der Schlüssel zum Haus vor. Leider fällt mein Urteil dazu nicht ganz so begeistert wie zu Vista chinesa aus.

Es handelt sich um eine Geschichte auf drei Ebenen, die nebeneinander stehen. Da ist zunächst die Ich-Erzählerin, die anfangs wie paralysiert in ihrem Bett liegt, das Zimmer kaum verlässt. Ihr muss etwas Traumatisches geschehen sein. Der Großvater rät ihr, eine Reise zu den Wurzeln ihrer Familie zu machen, um wieder zu sich selbst zu finden. Er gibt ihr den Schlüssel zu seinem Haus in Izmir, das er viele Jahrzehnte zuvor als junger Mann verlassen hat. Nachdem ihm die Beziehung zu Rosa von deren Eltern verboten wurde, weil er sephardischer Jude ist, wanderte er nach Brasilien aus. Dort gründete er eine Familie.

Seine Tochter und ihr Mann waren dort in der kommunistischen Partei aktiv und wurden während der Militärdiktatur verfolgt, verhaftet und gefoltert, das Paar floh nach Portugal. In Lissabon kam ihre Tochter zur Welt und erst nach einer Amnestie 1979 kehren sie ach Brasilien zurück. Die biografischen Eckdaten treffen 1:1 auf die Autorin zu.

Auf der zweiten Ebene liegt die Mutter der Ich-Erzählerin im Sterben. Die Tochter muss schmerzlich Abschied nehmen. Und auf der dritten Ebene wird rückblickend auf eine toxische, schließlich gewaltvolle Beziehung zurückgeblickt. Es wird immer mehr deutlich, dass diese der Grund für das posttraumatische Verhalten der Erzählerin war. Die Geschichte dieser obsessiven, stark aufs Sexuelle konzentrierten Liebe, das Sterben der Mutter und die Reise in die Türkei verwebt Tatiana Salem Levy zu ihrem Roman. Die sexuelle Obsession, der sie sich hingibt und die sehr explizit, fast pornografisch geschildert wird, hat mich ehrlich gesagt abgestoßen. Ihre darauffolgende Paralyse ging mir deshalb nicht wirklich nah. Deutlich berührender war die von Vertreibung und Verlust der Heimat geprägte Familiengeschichte und der Tod der Mutter beschrieben. Hier zeigt die Autorin ihr ganzes Können.

 

Anne Tyler-Drei Tage im JuniAnne Tyler – Drei Tage im Juni

Anne Tyler ist eine meiner ganz großen Lieblingsautorinnen. Ihr immer sehr genauer, unbestechlicher, aber sehr menschenfreundlicher Blick auf alle ihre Protagonist:innen und ihre heitere, aber nie flache Beobachtung des Alltags sind klug und lebenserfahren. In Drei Tage im Juni schaut sie in erster Linie auf die Ich-Erzählerin Gail. Die ist Anfang sechzig und war lange Jahre als stellvertretende Schulleiterin in Baltimore tätig. Nun wird sie von der Direktorin, die selbst in Pension gehen möchte und eine Nachfolgerin sucht, recht unsanft degradiert. Mangelnde Sozialkompetenz wirft sie ihr vor. Dabei will die von ihr ausgesuchte „Neue“ lediglich ihre eigene Stellvertreterin mitbringen. Das lässt sich Gail nach all den Jahren nicht gefallen und kündigt selbst.

Dabei ist der Zeitpunkt denkbar ungünstig. Ihre einzige Tochter Debbie wird am nächsten Tag heiraten und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Und dann steht auch noch ihr Ex-Mann Max vor der Tür. Im Schlepptau eine Pflegekatze, die er nicht alleinlassen möchte, mit der er aber auch nicht wie geplant bei Debbie unterkommen kann, denn der Bräutigam Kenneth ist hochgradig allergisch auf Katzenhaare. Zähneknirschend nimmt Gail ihren schon immer sehr raumgreifenden Ex bei sich auf. In wenigen Worten schafft Anne Tyler ein feinsinniges und humorvolles Kammerspiel völlig ohne Kitsch oder Klischees. Grandios wie immer.

 

ulrike-draesner-zu-liebenUlrike Draesner – zu lieben

Kann man zu lieben lernen? Was bedeutet es überhaupt, zu lieben – das beleuchtet die Autorin Ulrike Draesner anhand der Adoption eines Kindes, ihres Kindes. Nach mehreren Fehlgeburten und unzähligen Versuchen, schwanger zu werden sind die Ich-Erzählerin, die durchaus mit der Autorin gleichgesetzt werden kann, und ihr Mann Hunter schon jenseits der Vierzig. Zu alt für das deutsche Adoptionssystem.

Für solche Fälle gibt es Vereine, die Auslandsadoptionen vermitteln. Die Wahl fällt auf Sri Lanka und die Zeit des Wartens und der bürokratische Hindernisse beginnt. In vier Wochen soll aus den beiden westlichen Menschen und der dreijährigen Mary eine Art Familie werden. Das ist harte Arbeit und hört auch in Berlin nicht auf. Es gibt Fortschritte und Rückschritte und es ist bewundernswert, wieviel Raum die zukünftige Adoptivmutter ihrer „future daughter“ lässt, damit auch manches Mal fast verzweifelt, aber durchhält. zu lieben ist ein wunderbarer Text darüber, dass Liebe auch errungen und bewahrt werden muss. Und welches Geschenk sie ist.

 

meyerhoff-man-kann-auch-in-die-hoehe-falenJoachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen

Dass der Schauspieler Joachim Meyerhoff ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, wissen wir spätestens seit 2011, als der erste Band seiner „Alle Toten fliegen hoch“-Reihe erschienen ist. Sehr sehr lustig, berührend und literarisch erzählt er darin von sich und seiner Familie. Amerika, Wann wird es endlich so wie es nie war oder Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke sind All-Time-Favorites für mich. Bereits in Die Zweisamkeit der Einzelgänger allerdings begann der Zauber der Bücher für mich zu schwinden. Zuviel Gehässiges und zuviel Selbstbespiegelung, was auch im Nachfolgeband über seinen 2018 erlittenen Schlaganfall war das nicht sehr anders. Deshalb habe ich mich über den neuen und sechsten Band mit einigen Vorbehalten gefreut.

Zum Glück findet Meyerhoff hier in der Geschichte seines Rückzugs aus dem stressigen Berlin in die ländliche Idylle auf dem Anwesen seiner 86-jährigen, extrem rüstigen Mutter zu seinem sehr lustigen, anekdotenreichen und selbstironischen Erzählen zurück. Es hat großen Spaß gemacht, ihm an die Ostsee zu folgen. Nur seine hemmungslos ausgesprochene Bewunderung für die Mutter, die doch so einige Ecken und Kanten hatte und hat, die ich nicht wirklich belächeln kann (beispielsweise die drei acht- bis zwölfjährigen Söhne an einer Straße für über eine Stunde einfach „auszusetzen“ oder ihre völlig rücksichtslose Fahrweise) irritiert mich ein wenig. Ich finde diese Frau schon beim Lesen einfach nur anstrengend. Aber wer weiß, wieviel Überspitzung dahinter steckt, Man kann auch in die Höhe fallen ist schließlich ein Roman. Und dazu noch ein vorzüglich unterhaltender.

 

Philipp Hübl – Moralspektakel

Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht

Mit diesem Buch habe ich mich ziemlich schwergetan. Dabei ist es durchaus gut und sogar unterhaltsam geschrieben und die wichtigste These des Philosophen Philipp Hübl fand ich sehr interessant. Diese lautet, dass in unserer Welt, in der Dinge wie Eigenheim, Auto, Schmuck und Reisen ihre Rolle als Statussymbole weitgehend eingebüßt haben, die Inszenierung der eigenen Moral – zumindest in den gebildeten, fortschrittlichen Kreisen – an deren Stelle getreten ist. Ein sogenanntes „Reputationsmanagement“, vorwiegend in den Sozialen Medien betrieben, sichert und steigert den eigenen Status, das eigene Prestige. Ob Genderthemen, Rassismus, Klimaschutz – alles kann instrumentalisiert werden und zur Bestätigung der eigenen Gruppenzugehörigkeit verwendet werden. Dabei gilt es, wie bei den früheren Statussymbolen, sich gegenseitig zu übertreffen, mit der Gefahr, immer fundamentaler und unnachgiebiger zu werden. Was droht, zum „Moralspektakel“ zu werden.

Für Philipp Hübl ist das reine Symbolpolitik, geht es den Akteuren gar nicht um die Moral an sich, sondern ums eigene Prestige, um Gruppenzugehörigkeit, um Kollektivismus. Dabei neigt der Autor leider zu einer gewissen unzulässigen Verallgemeinerung und Vereinfachung. Und bleibt für viele seiner Thesen wirklich überzeugende Belege schuldig. Und das obwohl das Buch vor Anmerkungen und Quellennachweisen schier überquillt. Der geneigte Leser oder die geneigte Leserin wird keine der wissenschaftlichen Quellen überprüfen wollen oder können. Viele wirken schon beim Zitat zumindest diskussionswürdig.

Beispielsweise bei dem beliebten Feinbild „Gendern“. Hübl führt an, dass es keinerlei belastbare Studien gäbe, die beweisen, das gegenderte Sprache zu mehr Sichtbarkeit von wieblichen und diversen Personen führt. Das Menschen, die mit dem Wort Pilot:in konfrontiert würden, nicht häufiger an eine Frau als an einen Mann denken würden. Dass das Gendern ein relativ neues Phänomen ist, nicht nur Sprache, sondern auch Denk- und Verhaltensweisen sich nur langsam und allmählich verändern – wird nicht berücksichtigt.

Für Philipp Hübl dagegen ist inklusive Sprache ausschließend, weil weniger gebildete Menschen nicht mitreden könnten und sich darum dagegen sperren würden. Wenig überzeugend, denn durch alle Bildungsschichten hindurch wird bestimmte „exklusive“ Sprache benutzt, man denke an viele Anglizismen in Technik, Wirtschaft, aber auch Jugendsprache. Hübl wirft der „Sprachmagie“ zudem vor, von wirklichem Handeln abzuhalten. Auch das für mich eher eine Behauptung.

Eher fragwürdig ist auch, wenn von einer „Opferhierarchie“ in der Fürsorgekultur spricht oder davon, dass eine „selektive Medienberichterstattung“ zu einer Negativverzerrung der Wirklichkeit führen würde. Dabei ist letzteres Phänomen durchaus interessant. So verbessern sich die Zustände auf der Welt – in größerem Zusammenhang und als langfristige Entwicklung gesehen – nachweislich und doch ergeben Umfragen stets das „alles immer schlechter“ wird oder zumindest negativer gesehen wird, als die tatsächliche Lage ist. Das eine auf Aufmerksamkeit gedrillte Medienlandschaft da auch ihr Scherflein zu beiträgt will ich nicht bezweifeln, aber eine „selektive Medienberichterstattung“ ist schon ein Vorwurf mit unangenhemem Beigeschmack.

Sich ausführlich mit dem Buch auseinanderzusetzen würde den Rahmen, die Zeit und meine Neigung dazu sprengen. Es gibt durchaus interessante Gedanken – gerade der, dass die geschilderte Entwicklung zur Spaltung nicht nur der Gesellschaft, sondern gerade auch der „Wohlmeinenden“ führt und von den eigentlichen Gegnern, etwa den extremen Rechten schamlos ausgenutzt wird -, die zur Diskussion anregen, aber insgesamt habe ich mich doch in weiten Teilen nicht wiederfinden können und fand die Argumentation und Beweisführung nicht wirklich überzeugend.

 

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