Mia Raben – Unter Dojczen

„Unter Dojczen“ – mit polnischer Lautschrift betitelt die 1977 geborene Journalistin Mia Raben ihren Debütroman. Unter Deutschen befindet sich die 50jährige Polin Jola schon seit vielen Jahren. Sie ist eine der vielen Pflegekräfte, ohne die die Betreuung und Pflege alter Menschen hierzulande gar nicht mehr denkbar ist. Oft ihre eigenen Familien zurücklassend, auf langen Busfahrten Richtung Osten und Westen pendelnd, häufig – wenn auch zum Glück nicht mehr ganz so oft wie in der Anfangszeit der Neunziger Jahre – unversichert, gnadenlos unterbezahlt, windigen Vermittlungsagenturen ausgeliefert und mit ausbeuterischen Verträgen in deutschen Haushalten beschäftigt, leben geschätzt bis zu 300.000 vorwiegend Frauen aus Ost- und Südosteuropa hierzulande, nicht wenige in der rechtlichen Grauzone der 24 Stunden-Pflege. Menschen, ohne die die Gesellschaft kaum mehr denkbar wäre, die aber viel zu oft übersehen werden. Und denen folgerichtig auch in der Literatur wenig Raum gegeben wird. Weiterlesen „Mia Raben – Unter Dojczen“

Theres Essmann – Dünnes Eis

Über dünnes Eis bewegt sich die fast einhundert Jahre alte Marietta schon fast ihr ganzes Leben lang. Zumindest seit sie als junge Frau auf der Flucht vor der Roten Armee über dieses gehen musste, Unzählige dabei sterben sah und ihr allergrößtes Trauma dabei schon hinter ihr lag. Verdrängung und/oder Erinnerung – dünnes Eis, in das Marietta immer wieder einbricht, wenn Träume und Bilder auf sie einstürmen. Theres Essmann schafft mit ihrem Roman Dünnes Eis ein feinfühliges, empathisches Buch über eine noch sehr lebendige alte Dame. Weiterlesen „Theres Essmann – Dünnes Eis“

Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden

Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort und sogar als eine Art Protagonist – das ist jetzt nicht unbedingt ganz neu. Bei der Lektüre von Bis wir Wald werden von Birgit Mattausch musste ich häufig an Karosh Tahas Beschreibung einer Krabbenwanderung denken. Und erst vor kurzem erschien der US-amerikanische Bestseller Kaninchenstall von Tess Gunty, der im gleichnamigen Wohnkomplex angesiedelt ist. Aberso unterschiedlich Häuser und darin lebende Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Romane. Meist sind es die eher einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die im Hochhaus wohnen, viele Migrant:innen und ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel, die die Annehmlichkeiten wie Aufzug, Ebenerdigkeit etc. zu schätzen wissen. Aber meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte. Weiterlesen „Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden“

Julie Otsuka – Solange wir schwimmen

Als Julie Otsuka 2011 ihren zweiten Roman „Buddha in the attic“ (dt. Wovon wir träumten) veröffentlichte, war die Literaturwelt einhellig begeistert. Diese kollektive Wir-Perspektive, die das Schicksal sogenannter „Picture brides“ in den USA so zart, deutlich und ungeschönt schilderte, war etwas ganz Ungewohntes. Das Buch war für den National Book Award nominiert und erhielt den PEN/Faulkner-Award. Und war auch in Deutschland in der Übersetzung von Katja Scholtz ein großer Erfolg. Auch ich war hingerissen von diesem mir bisher nicht gekannten Erzählton. Über zehn Jahre musste das Lesepublikum warten, nun hat Julie Otsuka mit Solange wir schwimmen einen neuen, ihren dritten Roman vorgelegt. Und auch dieser startet wieder mit einer kollektiven „Wir“-Perspektive. Weiterlesen „Julie Otsuka – Solange wir schwimmen“

Helga Schubert – Der heutige Tag

Derden – der, den ich liebe – nennt die Ich-Erzählerin, die unzweifelhaft Helga Schubert selbst ist, ihren pflegebedürftigen Mann. Mehr als 50 Jahre sind sie zusammen, der 96-jährige Psychologe und Maler Johannes Helm wird seit 15 Jahren von seiner nun 83-jährigen Frau zuhause auf dem Mecklenburger Land gepflegt. Der heutige Tag  ist, so der Untertitel, „ein Stundenbuch der Liebe“, ein literarisches Tagebuch, in dem Helga Schubert im abendlichen Schreiben, wenn der Pflegealltag zu Ende ist, nach eigenem Bekunden ihre Rettung findet, ihre Zuflucht. Weiterlesen „Helga Schubert – Der heutige Tag“

Grit Krüger – Tunnel

Die junge alleinerziehende Mascha Heerdmann lebt mit ihrer Tochter Tinka von Hartz IV. Auch wenn es ihre Sachbearbeiterin im Jobcenter noch vergleichsweise gut mit ihr meint, sind die Gänge dorthin erniedrigend und lästig. Doch Kürzungen der Leistungen kann sich Mascha nicht erlauben, das Geld reicht auch so kaum fürs Essen (Nudeln mit Butter, ein bisschen Toast), für den Schulausflug, den Hort. Und jetzt ist die Heizung kaputt. Wie soll sie das bezahlen? Die Armut ist im Debütroman von Grit Krüger wie ein dunkler Tunnel, in den man hineingezogen wird und an dessen Ende man kein Licht sieht. Ja noch nicht einmal das Ende ist zu erkennen. Weiterlesen „Grit Krüger – Tunnel“

Andreas Moster – Kleine Paläste

„Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden.“ Was für ein erster Satz, der sofort auf den neuen Roman von Andreas Moster, Kleine Paläste, neugierig macht. Und es ist nicht gespoilert, wenn ich verrate, dass es Lupus, sollte es wirklich seine Absicht gewesen sein, gelingt. Schon zu Beginn liegt Sylvia zerschmettert am Fuß der Treppe, die sie, über den dort liegenden Bullmastiff stolpernd, hinuntergestürzt ist, während ihr dementer Mann Carl im Wohnzimmer vor dem Fernseher im Rollstuhl sitzt. Weiterlesen „Andreas Moster – Kleine Paläste“

Margaret Laurence – Der steinerne Engel – Singular Plurality – Singulier Pluriel

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Buch jetzt! Und lies dich nach Kanada.

Bald ist es nun endlich soweit und das Literaturland Kanada ist nach dem pandemiebedingt im vergangenen Jahr nur virtuell stattgefundenen Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2021 zu Gast. Unter dem Motto Singular Plurality – Singulier Pluriel („einzigartige Pluralität“) stellt sich eine Literaturlandschaft von großer Vielfältigkeit vor, die sowohl ihre Unterschiede, als auch ihre Gemeinsamkeiten präsentieren möchte. Im Rahmen von Buch jetzt! Und lies dich nach Kanada habe ich mich auf eine kleine literarische Reise begeben, auf die ich euch gerne mitnehmen möchte. Mit Margaret Laurence und ihrem Der steinerne Engel hat mich ein Klassiker der kanadischen Literatur sehr begeistern können. Eine Entdeckung, die ich hier gerne teilen möchte.

Eine 90jährige – am Ende ihres Lebens. Das könnte eine Geschichte voller Wehmut werden, ein Roman vom Abschied, ein Rückblick auf ein erfülltes Leben oder eines voller Enttäuschungen und verpasster Chancen – melancholisch, traurig oder auch versöhnlich. Wenn, ja wenn Margaret Laurence in Der steinerne Engel nicht Hagar Shipley zur Hauptfigur gemacht hätte. Denn Hagar ist, hier passt der altmodische Ausdruck perfekt, eine richtige Kratzbürste. Weiterlesen „Margaret Laurence – Der steinerne Engel – Singular Plurality – Singulier Pluriel“

Barney Norris – Die Jahre ohne uns

2017 erschien Das Debüt des britischen Autors Barney Norris: Hier treffen sich fünf Flüsse. Mich hatte die multiperspektivische Erzählung über fünf Menschen rund um das alte Städtchen Salisbury sehr für sich eingenommen. Es war klar, dass ich den nächsten Roman des britischen Autors auch lesen möchte. Diesmal verblüfft Barney Norris seine Leser:innen mit Die Jahre ohne  nun ganz gehörig. Weiterlesen „Barney Norris – Die Jahre ohne uns“

Elizabeth Strout – Die langen Abende

„Olive, again“ – da ist sie wieder, Olive Kitteridge, die Protagonistin des 2009 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Romans von Elizabeth Strout, „Mit Blick aufs Meer“, der nun mit „Die langen Abende“ einen würdigen Nachfolger erhalten hat. Lange haben die vielen Fans von Olive Kitteridge auf diesen Nachfolgeband gewartet. Weiterlesen „Elizabeth Strout – Die langen Abende“