Ein Vater und sein achtjähriger Sohn am unteren Rand der US-amerikanischen Gesellschaft: Henry und Junior leben seit einiger Zeit in ihrem alten Truck im mittleren Westen, nachdem sie aus ihrem Trailer rausgeworfen wurden. Sie waschen sich in öffentlichen Toiletten, essen, was sie sich gerade leisten können, und das ist nicht viel. Trotzdem versucht Henry, das Leben irgendwie wieder in den Griff zu bekommen, fährt den Kleinen täglich zur Schule, versucht eine gewisse Regelmäßigkeit. Wie die Beiden sich durchschlagen und wie es überhaupt so weit hat kommen können, davon erzählt Jakob Guanzon in seinem bewegenden Debütroman Überfluss. Weiterlesen “Jakob Guanzon – Überfluss”
Schlagwort: Amerikanische Literatur
Kenneth Fearing – Die große Uhr
Kenneth Fearing. Nie gehört? Selbst eingefleischte Krimileser:innen wissen zu dem 1902 in Illinois geborenen und 1961 mit nur 59 Jahren verstorbenen Autor hierzulande wenig oder nichts zu sagen. Denn obwohl er in den USA und in anderen europäischen Ländern mit seiner Lyrik, seinen sieben Romanen und – was nicht unbeträchtlich zu seinem Lebensunterhalt beigetragen hat – seinen Geschichten für Pulp-Magazine durchaus erfolgreich war, wurde keiner seiner Texte bisher auf Deutsch veröffentlicht. Dabei ist zumindest sein vierter Thriller, Die große Uhr, ein Noir-Klassiker, taucht in vielen Bestenlisten auf, wurde zweimal verfilmt und brachte Kenneth Fearing sogar die Bewunderung von Raymond Chandler ein, der ansonsten mit Lob eher geizte. Im Elsinor Verlag ist nun endlich eine deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Jakob Vendenberg, herausgegeben von Martin Compart, der auch ein informatives Nachwort beisteuerte, erschienen. Weiterlesen “Kenneth Fearing – Die große Uhr”
Nathan Harris – Die Süße von Wasser
1865. Die Konföderierten Südstaaten sind den in der Union verbliebenen Nordstaaten von Amerika endgültig unterlegen. Die Sklaverei wird auch auf den großen Plantagen des Südens abgeschafft, Unionstruppen kontrollieren die Freilassung der Sklav:innen. Dass sich der große Konflikt, der 1861 zu einer Spaltung der Vereinigten Staaten geführt hat und die Bevölkerung ideologisch tief trennt, nach vier Jahren brutaler Kriegsführung mit geschätzt 600.000 Toten so einfach auflöst, ist unmöglich. Zu fest sind rassistische Ansichten und wirtschaftliche Abhängigkeiten von der Sklavenhaltung in der Südstaatenbevölkerung zementiert. Und was soll eigentlich mit den Millionen Freigelassenen passieren? Nathan Harris hat diesen speziellen historischen Moment für seinen 2021 auf der Longlist des Booker Prize platzierten Roman Die Süße von Wasser gewählt. Weiterlesen “Nathan Harris – Die Süße von Wasser”
Tillie Olsen – Ich steh hier und bügle
Seit einiger Zeit werden erfreulicherweise immer wieder Texte von Autorinnen veröffentlicht, die bereits vor Jahrzehnten geschrieben und meist im Original auch als Buch veröffentlicht wurden, es aber nicht zur Übersetzung ins Deutsche kam oder aber diese Übersetzung es im deutschen Buchmarkt nicht zu (bleibender) Aufmerksamkeit geschafft hat und deshalb seit langem vergriffen ist. Warum dieses Schicksal vor allem Texten aus weiblichen Händen beschieden ist, kann man nachlesen, nicht zuletzt in einem parallel zu Ich steh hier und bügle erschienenen Essayband von Tillie Olsen: Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur. Hier wird auch und vor allem auf das Fehlen wichtiger weiblicher Stimmen im Literaturkanon hingewiesen. Es vermag nicht zu verwundern, dass auch dieser Band erstmals nach seiner Veröffentlichung 1978 auf Deutsch erscheint. Weiterlesen “Tillie Olsen – Ich steh hier und bügle”
Gloria Naylor – Linden Hills
Die US-amerikanische Autorin Gloria Naylor (1950-2016) war mir bisher nicht bekannt, obwohl drei ihrer Romane, die ein Quartett rund um das Leben von afroamerikanischen Frauen in den USA bilden, bereits in den 1990er Jahren auch auf Deutsch veröffentlicht wurden. Linden Hills, der zweite Roman, den Gloria Naylor 1985 schrieb, fehlte bisher und wird nun in der Übersetzung von Angelika Kaps vom Unionsverlag veröffentlicht, der auch den ersten, mit dem National Book Award First Novel 1983 ausgezeichneten Roman, Die Frauen von Brewster Place, neu herausgegeben hat. Im nächsten Jahr soll der dritte, Mama Day, erscheinen. Weiterlesen “Gloria Naylor – Linden Hills”
Robert Jones jr. – Die Propheten
Die Propheten – wuchtig, erdig und bedeutungsschwer kommt der Debütroman von Robert Jones jr. daher, mit dem der 1951 geborene New Yorker Autor gleich auf der Shortlist des National Book Award 2021 landete. Als „Son of Baldwin“ bloggt und twittert er über Blackness und Queerness und engagiert sich für Anti-Diskriminierung. Natürlich ist der Name eine Verbeugung vor dem großen Autor James Baldwin, den er neben Toni Morrison als sein Vorbild bezeichnet. Mit Die Propheten erzählt er eine Schwarze, queere Liebesgeschichte aus der Sklaverei des 19. Jahrhunderts. Es ist für ihn das Buch, über das Morrison sagte: „Wenn es ein Buch gibt, das Sie lesen möchten, aber es noch nicht geschrieben wurde, dann müssen Sie es schreiben.“ Weiterlesen “Robert Jones jr. – Die Propheten”
Sarah M Broom – Das gelbe Haus
Am 28. August 2005 braut sich auf der extrem aufgeheizten Meeresoberfläche des Golfes von Mexiko ein verheerender Sturm zusammen und zieht Richtung New Orleans an der Küste Louisianas. Ray Nagin, der Bürgermeister der Stadt, ordnet eine Zwangsevakuierung an. Geschätzt eine Million Menschen machen sich auf völlig verstopften Straßen nach Norden auf, weg von der Küste. Die, die nicht fliehen wollen oder können, werden im Superdome der Stadt untergebracht. Am Morgen des 29. August 2005 erreicht Hurrikan Katrina New Orleans mit einer sechs Meter hohen Bugwelle und drängt sich durch ein Netz von Wasserstraßen und künstlichen Kanälen bis ins Herz der stellenweise unter Normalnull liegenden Stadt. Entlang dieser Kanäle brechen Deiche und Flutmauern, ganze Stadtteile stehen teilweise bis zu den Dachfirsten unter Wasser. 1836 Menschen sterben, Unzählige verlieren ihr Zuhause. Darunter die Familie der Autorin Sarah M Broom, die diese Ereignisse in ihr Memoir Das gelbe Haus einfließen lässt. Weiterlesen “Sarah M Broom – Das gelbe Haus”
Stewart O’Nan – Ocean State
Von Beginn an ist klar, wie Ocean State, der neueste Roman des amerikanischen Autors Stewart O’Nan enden wird:
„Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten. Sie sei verliebt gewesen, sagte meine Mutter, als wäre das eine Entschuldigung. Sie habe nicht gewusst, was sie tat.“ Weiterlesen “Stewart O’Nan – Ocean State”
Anne Tyler – Eine gemeinsame Sache
In mittlerweile 24 Romanen hat die 1941 geborene Amerikanerin Ann Tyler immer wieder leise, heitere Kammerspiele des Alltäglichen geschaffen. Vielleicht ist ihr deshalb trotz zahlreicher Nominierungen für die bedeutenden Buchpreise und dem Gewinn des Pulitzer für Atemübungen der ganz große Ruhm, zumindest hier bei uns in Deutschland, versagt geblieben. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich die Autorin recht konsequent dem literarischen Betrieb entzieht, kaum Interviews gibt, keine Lesereisen macht. Es wäre aber auf jeden Fall ein Fehler, Ann Tyler vorschnell ins Unterhaltungsfach abzuschieben, auch wenn sie sich ihre Themen im Alltag sucht, in der Familie, in Paarbeziehungen, im Durchschnittsleben, und sie immer den heiteren, den liebevollen Blick beibehält. Denn auch wenn die großen Tragödien, die Abgründe und die Politik meist, wenn überhaupt, nur am Rande aufscheinen, beinhalten ihre Bücher doch so viel Klugheit, Lebensweisheit und vor allem einen unbeirrbar scharfen Blick auf die Welt und ihre Menschen, dass man jedes davon ein wenig klüger verlässt. Außerdem ist ihr Stil so schnörkellos wie gekonnt, dass das Lesen einfach Freude macht. Von dieser Tradition weicht Anne Tyler auch in ihrem neuesten Roman Eine Gemeinsame Sache nicht ab. Weiterlesen “Anne Tyler – Eine gemeinsame Sache”
Rumaan Alam – Inmitten der Nacht
Alles beginnt zunächst recht idyllisch: eine typische New Yorker Mittelstandsfamilie ist auf dem Weg in den Sommerurlaub, weit draußen auf Long Island. Das gemietete Ferienhaus ist eigentlich eine Nummer zu teuer, aber dieses Jahr soll alles perfekt sein: Abgeschiedenheit, Pool, Luxus. Doch schon am Abend des ersten Ferientages, Inmitten der Nacht, wird diese Idylle empfindlich gestört, und doch führt uns Autor Rumaan Alam damit zunächst gehörig in die Irre. Weiterlesen “Rumaan Alam – Inmitten der Nacht”