Marc Sinan – Gleißendes Licht

Marc Sinan – Gleißendes Licht

„Er hätte ein großer Dichter des zwanzigsten Jahrhunders werden sollen, doch der Krieg kommt über die Menschen und nimmt sie sich, als stünden sie ihm genauso hilflos gegenüber wie dem Lauf der Gestirne. Dabei sind sie selbst der Krieg, und die Gestirne sind die Gestirne.“

Mit dem Gedicht eines unbekannten deutschen Grenadiers aus dem Schützengraben des Ersten Weltkriegs – aus dem Jahr 1915, jenem Jahr, in dem das osmanische Reich den Völkermord an den Armeniern verübte – beginnt der 1976 geborene Musiker und nun auch Autor Marc Sinan seinen an autobiografischen Parallelen ausgerichteten Roman Das gleißende Licht.

Wie sein Protagonist Kaan hat der Autor eine armenisch-türkische Mutter und einen deutschen Vater, ist in München aufgewachsen und ein großartiger Gitarrist und Komponist. Den ersten, fast die Hälfte des Buchs umfassenden Teil seines Buches widmet Sinan dem Heranwachsen Kaans, seinen inneren Kämpfen und der auch an familienbedingten Traumata scheiternden Beziehung zu seiner großen Jugendliebe Zizi. Um es gleich zu sagen, dieser Teil hat mich leider gar nicht angesprochen, und das liegt nur zum Teil an meiner generellen Skepsis Liebesgeschichten und aufopferungsvollen Frauengestalten gegenüber. Es dauert einfach zu lange, bis der Autor zum Kern seiner Geschichte und eben zu jenen Traumata in der Familie kommt, die auch im Klappentext angekündigt werden. Es lohnt aber unbedingt, dranzubleiben. In den Zeit- und Handlungsebenen sowie in den Orten hin und her springend, erzählt Marc Sinan dann eine große, tragische Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 20. Jahrhundert.

Eine Familie an der Schwarzmeerküste

Kaans Familie stammt aus Perşembe an der türkischen Schwarzmeerküste. Dorthin ist Kaan auch als Kind immer wieder gereist, um seine geliebte Großmutter, seine Anneanne Vahide und seinen Großvater Hüseyin zu besuchen. Was er bis zum Tod von Vahide 1999 nicht wusste, war, dass sie Armenierin war und ihre gesamte Familie im Genozid verloren hat. Das Drama ihrer Herkunft verließ sie nie.

„Als meine Mayrik mich verließ, verließ mich jede Gewissheit um die Bedingunglosigkeit des Seins.“

Bei türkischen Pflegeeltern aufgewachsen, heiratete sie den aufstrebenden Hüseyin, der von der Vertreibung und Ermordung der armenischen Bevölkerung insoweit profitierte, dass er große Haselnussplantagen aus deren Besitz günstig erwarb und sich ein großes Imperium aufbauen konnte. Dieses verlor er aber in den 1940er Jahren unrechtmäßig, die Familie lebte fortan bescheiden. Eines ihrer Kinder ist Nur, die Mutter von Kaan, die nach Deutschland ging und einen deutschen Mann heiratete. Nur bedeutet „Licht“ und dieses „heilige“ oder auch „gleißende“ Licht bildet ein sich durch das ganze Buch hindurchziehendes Motiv.

Musikalität

Die Arbeit mit Motiven, die starke Rhythmik und Melodiosität seines Textes zeigt den Musiker Sinan. Und so springt der Text, allerdings immer gut nachvollziehbar, zwischen den Jahren des Genozids, den 1940er Jahren, Kaans Kindheit in den 90ern, dem Tod Vahides 1999 und einer Gegenwartebene, die sogar in die Zukunft, den April 2023 weist, und enthüllt so Stück für Stück die Familiengeschichte und das große Schweigen über den Völkermord an den Armeniern. Das Schweigen der Täter, aber auch das der Opfer, das eine wirkliche Aufarbeitung verunmöglicht.

Hinzu kommt noch die mytische Erzählung um Tepegöz, einen Zyklop, der im Buch Dede Korkut vorkommt, einer berühmten epischen Geschichte der Oghuz-Türken. In dieser grauslichen Geschichte, die nicht nur der Großvater Kaan, sondern dieser auch seiner Tochter erzählt,  geht es vorwiegend um Rachegelüste, die Kaan auch nicht ganz fremd sind und die in der Gegenwartsebene, in der sich Kaan in der vom Goethe-Institut geführten Künstlerakademie Villa Tarabaya in Instanbul befindet, einen seltsamen Höhepunkt erreichen.

„Schreib endlich die Geschichte auf, Kaan. Schreibe, damit du sie vergessen kannst. Denn nur im Vergessen besteht die Chance zu überleben.“

Marc Sinan hat sie für Kaan aufgeschrieben. Das verrutscht manchmal, etwa wenn eine Walin die „Gesänge“ von ertränkten armenischen Kindern nachahmt. Auch Passagen wie „Die Tränen stürzen aus seiner Seele, ohne zuvor das Herz zu befragen. Aber es sind nicht seine Tränen. Es ist das Meer der ungeweinten Tränen“ hätte das Lektorat besser nicht passieren lassen.

Insgesamt ist Das gleißende Licht“ von Marc Sinan aber ein gelungenes, bewegendes Debüt.

 

Beitragsbild: Perşembe – Ordu , by Zeynel Cebeci, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Marc Sinan - Gleißendes Licht.

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Marc Sinan – Gleißendes Licht
Rowohlt Buchverlag Januar 2023, gebunden, 272 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

 

Laura Cwiertnia – Auf der Straße heißen wir anders

Aghet – der Völkermord an den Armeniern begann im April 1915, als hunderte namhafte armenische Schriftsteller und Intellektuelle aus Istanbul verschleppt wurden. Darauf folgend wurden die armenischen Soldaten aus dem Heer entlassen, später fast alle wehrfähigen Männer exekutiert und die gesamte restliche Bevölkerung, vor allem Alte, Frauen und Kinder, aus den armenischen Dörfern deportiert. Die Vertreibung der Armenier endete in Todesmärschen quer durch Anatolien oder in die syrischen Wüste: bis zu 1,5 Millionen Menschen liefen so in den Tod. Während die Türkei den Genozid immer noch leugnet, findet man mittlerweile immer häufiger Romane, die von der Enkel- und Urenkelgeneration verfasst wurden und die sich mit den Spuren, die die vor mehr als einhundert Jahren verübten Taten bei den Familien und Nachkommen hinterlassen haben, beschäftigen. 2019 etwa stand Katerina Poladjans Hier sind Löwen auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Laura Cwiertnia schreibt in ihrem Debüt Auf der Straße heißen wir anders über eine Familie mit armenischen Wurzeln. Weiterlesen „Laura Cwiertnia – Auf der Straße heißen wir anders“

Katerina Poladjan – Hier sind Löwen

Das Szenario ist nicht neu und bereits unzählige Male Ausgangspunkt und/oder Sujet von Romanen gewesen: eine nicht mehr ganz junge Frau, so um die Dreißig (wahlweise auch ein junger Mann), ist im Leben noch nicht so ganz angekommen, beruflich leicht prekär, aber gut ausgebildet, Beziehungsstatus noch nicht wirklich geklärt, genauso offen wie die Zukunftspläne, kommt an einen Punkt, der mittlerweile sogar einen Namen besitzt, die „Quarterlife-Crisis. Oft stecken irgendwelche familiären, gern verdrängten und nicht gleich offensichtlichen Probleme hinter dem Dilemma. Und oft dient eine Reise zu den familiären Wurzeln als Anstoß, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Das ist auch bei der Protagonistin von Katerina Poladjan in ihrem 2019 für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Hier sind Löwen“ so.

Das Besondere dieses Buchs liegt in der Familiengeschichte und in der Profession der Protagonistin. Weiterlesen „Katerina Poladjan – Hier sind Löwen“