Susan Choi – Vertrauensübung

Selten hat mich ein Buch so zwiegespalten zurückgelassen wie der mit dem National Book Award ausgezeichnete und nun in der Übersetzung von Tanja Handels und Katharina Martl bei Kjona erschienene Roman von Susan Choi, Vertrauensübung. Einhellige Begeisterung herrscht bei mir allerdings über die Gestaltung des Buchs. Der sich vor allem für Nachhaltigkeit in der Buchproduktion engagierende Kjona Verlag macht einige der schönsten Bücher, die derzeit im Handel sind. Trendige Veredelungen wie Lacke oder Farbschnitte werden aus Umweltschutzgründen nicht verwendet, dafür jubelt mein Bücherherz angesichts des klaren Designs, des hochwertigen, alterungsbeständigen Papiers und vor allem der Fadenheftung. Ganz große Begeisterung! Weiterlesen „Susan Choi – Vertrauensübung“

Eva Reisinger – Männer töten

Unter dem herrlich zweideutigen Titel Männer töten veröffentlicht die österreichische Journalistin und Sachbuchautorin Eva Reisinger ihren ersten Roman und wurde dafür gerade für den Österreichischen Debütpreis 2023 nominiert. Interessant ist, welche Bedeutung des Titels sich beim ersten Augenschein bei der Leserin oder dem Leser nach vorne drängt. Tatsache ist, das macht die „Triggerwarnung“ gleich zu Beginn deutlich: Hier werden Männer getötet. Dabei geht es aber eigentlich um die unerträgliche Tatsache, dass Männer Frauen töten. Immer noch, immer wieder. Und immer noch schaut die Gesellschaft viel zu oft weg, bagatellisiert und ist auch die Rechtsprechung noch nicht so sensibilisiert, diese Femizide als solche gesondert zu behandeln. Bislang haben nur zwei Länder in Europa, nämlich Zypern und Malta, beschlossen, diese Femizide als eigenständige Verbrechen anzuerkennen. Weiterlesen „Eva Reisinger – Männer töten“

Johanna Sebauer – Nincshof

„Nincs“ – ungar.: „Es gibt kein“. Nincshof – es gibt keinen Hof, kein Dorf, kein gar nichts. Zumindest nach der Legende gab es hier im äußersten östlichen Zipfel Österreichs, in der entlegensten Ecke des Burgenlandes, ganz nahe am Einser-Kanal, der an der Grenze von Österreich und Ungarn verläuft, offiziell jahrhundertelang nichts. Offiziell. Denn bevor der Einser-Kanal seit der Wende zum 20. Jahrhundert den ansonsten abflusslosen Neusiedlersee entwässerte und danach die südöstlich davon gelegenen Hanságsümpfe mehr und mehr trockengelegt wurden, lag dort der Legende nach (zumindest im vorliegenden Roman) eine von der Außenwelt unentdeckte Gemeinde, völlig autark, mit matriarchal verlaufenden Familienlinien, mit durch Holzstege über dem Moor verbundenen Pfahlbauten, versteckt im hohen Schilf. Augenzwinkernd, märchenhaft, verspielt erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman, wie einige Bewohner des (fiktiven) burgenländischen Dörfchens Nincshof diesen vermeintlich glücklichen, vergessenen Zustand wiederherstellen möchten. Weiterlesen „Johanna Sebauer – Nincshof“

Julie Otsuka – Solange wir schwimmen

Als Julie Otsuka 2011 ihren zweiten Roman „Buddha in the attic“ (dt. Wovon wir träumten) veröffentlichte, war die Literaturwelt einhellig begeistert. Diese kollektive Wir-Perspektive, die das Schicksal sogenannter „Picture brides“ in den USA so zart, deutlich und ungeschönt schilderte, war etwas ganz Ungewohntes. Das Buch war für den National Book Award nominiert und erhielt den PEN/Faulkner-Award. Und war auch in Deutschland in der Übersetzung von Katja Scholtz ein großer Erfolg. Auch ich war hingerissen von diesem mir bisher nicht gekannten Erzählton. Über zehn Jahre musste das Lesepublikum warten, nun hat Julie Otsuka mit Solange wir schwimmen einen neuen, ihren dritten Roman vorgelegt. Und auch dieser startet wieder mit einer kollektiven „Wir“-Perspektive. Weiterlesen „Julie Otsuka – Solange wir schwimmen“

Tess Gunty – Der Kaninchenstall

Der Kaninchenstall heißt in der Umgangssprache ein etwas heruntergekommener Wohnblock in Vacca Vale, Indiana, einer ihrerseits auch recht heruntergekommenen (fiktiven) Stadt mitten im US-amerikanischen Rustbelt. Dort wo schon lange die Lichter ausgegangen sind. Seit der Deindustrialisierungswelle der 1980er und 90er Jahren, als die einstigen Industriehochburgen mit ihrer Stahlproduktion sowie der Automobil- und Waffenindustrie begannen, ihre Bedeutung für die amerikanische Wirtschaft zu verlieren, steht dieser Teil der USA für Niedergang und Hoffnungslosigkeit. „Lapinière Affordable Housing Complex“ ist der hochtrabende offizielle Name des Gebäudes, benannt nach den vielen Kaninchen, die die Gegend bevölkern. Aber die Protagonisten von Tess Gunty wissen sehr wohl, dass es eigentlich nur Der Kaninchenstall ist. Weiterlesen „Tess Gunty – Der Kaninchenstall“

Penelope Mortimer – Bevor der letzte Zug fährt

In der Literaturgeschichte lohnt das Graben nach Vergessenem und Übersehenem. Gerade im letzten Jahr habe ich viele großartige deutsche Erst- und Neuübersetzungen von Autor:innen (tatsächlich überwiegend weibliche) gelesen. Sehr verdient macht sich dabei u.a. der Schweizer Dörlemann Verlag, der seine Ausgaben zudem noch besonders schön gestaltet. Meine neueste Entdeckung ist Bevor der letzte Zug fährt von Penelope Mortimer, übersetzt von Kristine Kress. (Auch großes Lob an den Verlag dafür, dass die Übersetzerin prominent auf dem Titel erwähnt wird).

Dieser 1958 erschienene Roman liegt zum ersten Mal auf Deutsch vor. Und das erstaunt angesichts der literarischen Qualität sehr. Andererseits berührt der Text Themen, von denen man zur damaligen Zeit sicher nicht unbedingt lesen wollte. Die 1918 geborene Journalistin, zeitweise Kummerkastentante für die Daily Mail und sechsfache Mutter von Kindern unterschiedlicher Väter Penelope Mortimer spricht in Bevor der letzte Zug fährt ein in der damaligen Zeit stark mit Tabus behaftetes Thema an: die ungewollte Schwangerschaft und deren Beendigung. Erst 1967 wurden Abtreibungen in England legal. Weiterlesen „Penelope Mortimer – Bevor der letzte Zug fährt“

Ayòbámi Adébáyò – Das Glück hat seine Zeit

Die 1988 in Lagos geborene Ayòbámi Adébáyò zählt zu den wichtigsten jungen Stimmen aus Afrika. Ihr Debütroman „Bleib bei mir“ war für den Women’s Prize for Fiction 2017 nominiert und wurde in zwanzig Sprachen übersetzt. Ich war von diesem Buch auch nachhaltig beeindruckt. Dennoch ist die nigerianische Autorin bei uns noch relativ unbekannt. Jetzt erscheint der zweite Roman von Ayòbámi Adébáyò in einer Übersetzung von Simone Jakob unter dem etwas unnötig kitschigen Titel Das Glück hat seine Zeit bei Piper. Weiterlesen „Ayòbámi Adébáyò – Das Glück hat seine Zeit“

Deborah Levy – Augustblau

Augustblau – August Blue, im englischen Original weitet sich der Titel des neuen Romans von Deborah Levy zu noch mehr Deutungsmöglichkeiten. Und für das literarische Werk der 1959 in Südafrika geborenen und in Großbritannien aufgewachsenen Autorin sind diese vielfältigen Deutungsebenen so wichtig wie die Musikalität ihrer Texte und ihr Anspielungsreichtum. Traurigkeit liegt im Titel, aber auch Melancholie und Sehnsucht. Weiterlesen „Deborah Levy – Augustblau“

Sarah Diehl – Die Freiheit allein zu sein – Ein Interview

Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin, Dokumentarfilmemacherin und Autorin Sarah Diehl über ihr aktuelles Buch Die Freiheit, allein zu sein

Beim diesjährigen Literaricum in Lech am Arlberg drehte sich alles um den 1813 entstandenen Roman Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Der Roman kreist um die damalige Gesellschaft, die Frauen eigentlich nur den Weg der Ehe ermöglichte, um finanziell und sozial abgesichert zu sein. Bereits in ihrem 2014 veröffentlichten Buch Die Uhr, die nicht tickt, einer Analyse über gewollte Kinderlosigkeit von Frauen, plädierte Sarah Diehl für mehr Wahlfreiheit für Frauen, ihr Leben zu gestalten. Beim Literaricum in Lech sprach Sarah Diehl mit Nicola Steiner über ihr aktuelles Buch Die Freiheit, allein zu sein über Rollenkonzepte von Frauen, die Kleinfamilie, die Schwierigkeiten, die Frauen haben, sich Räume für das Alleinsein zu erobern.
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Ali Smith – Gefährten

Die britische Autorin Ali Smith schreibt wundersame, schwebende und ungemein poetische Romane. Mit ihrem Jahreszeiten-Quartett Herbst, Winter, Frühjahr und Sommer hat sie dies mit der Schilderung ganz aktueller Vorgänge in ihrem Heimatland verbunden. „Companion-Piece“ ist nun ihr aktuellster Roman im Original betitelt. Mehrdeutig kann er damit ein „Begleitstück“ zu diesen vier Büchern sein. Im Deutschen musste sich die Übersetzerin Silvia Morawetz auf eine Bedeutung festlegen und wählte für den Text von Ali Smith den Titel Gefährten. Weiterlesen „Ali Smith – Gefährten“