Anuk Arudpragasam – Nach Norden

Es ist ein leider beinahe klassisches Szenario in unterschiedlichen Regionen der Welt. In nach der Kolonialzeit in die Unabhängigkeit gelangten Staaten brechen unterdrückte Konflikte zwischen verschiedenen ethnischen und/oder religiösen Gruppen vehement auf, beim Kampf um Macht und Vorherrschaft kommt es oft zu Konflikten, die häufig in Bürgerkriege, Massaker oder gar Völkermorde, wie 1994 in Ruanda (auch das üblich, Jahrzehnte nach Ende der kolonialen Unterdrückung) münden. Vielfach werden wie dort einstmals (vermeintlich oder real) von den Kolonialmächten bevorzugte Minderheiten im Land nun von der Bevölkerungsmehrheit diskriminiert, verfolgt oder sogar bekämpft. Zwischen 1983 und 2009 tobte ein solcher Bürgerkrieg auf Sri Lanka, dem vormaligen Ceylon, das 1948 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte. Aktuell (und immer wieder) flackert der Konflikt zwischen der singhalesischen, vorwiegend buddhistischen Bevölkerungsmehrheit und den meistenteils hinduistischen Tamilen im Norden des Landes wieder auf. Welche Wunden der Bürgerkrieg neben den geschätzt bis zu 100.000 Todesopfern geschlagen hat und wie diese auch heute noch zu spüren sind, erzählt der sri-lankische Autor Anuk Arudpragasam eindrücklich in Nach Norden.

Kindheit und Jugend in Colombo

Im Bewusstsein seines Protagonisten Krishan, dem der Autor in personaler Perspektive eng folgt, flackert der bewaffnete Konflikt in seinem Land meist nur dann auf, wenn es besonders spektakuläre Aktionen der tamilischen „Befreiungsarmee“ Tamil Tigers gibt, wie 1991 die Ermordung des ehemaligen indischen Premierministers Rajiv Gandhi oder 1993 des sri-lankischen Präsidenten Premadasa, oder Selbstmordattentate mit vielen Opfern. Oder wenn bei Vergeltungsaktionen der sri-lankischen Armee Tausende Tamilen sterben. Ansonsten lebt Krishan als Kind (wie der Autor) recht behütet im friedlichen Süden der Insel, in der Hauptstadt Colombo. Vom Norden, aus dem seine Familie stammt, hört er nur von verklärenden Verwandten, die sich oft im ausländischen Exil befinden. Bis sein Vater einem Attentat zum Opfer fällt. Als der Konflikt 2008/2009 eskaliert, befindet sich Krishan zum Studium in Neu-Dehli.Dort lernt er Anjum kennen, eine Aktivistin, deren lesbische Beziehung gerade zerbricht und die ein Verhältnis mit Krishan beginnt.

Sri Lanka
Zug nach Nuwara Eliya by Touring Club Suisse (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr
Eine Reise in den Norden

Zu Beginn von Nach Norden lässt Anuk Arudpragasam ihn eine E-Mail von Anjum, die sich bereits Jahre zuvor von ihm getrennt hat, erhalten. Erinnerungen an die nicht einfache, aber intensive Zeit mit Anjum kommen hoch, die Beziehung wird noch einmal reflektiert. Zeit dazu hat Krishan auf einer Zugreise von Colombo in den Norden Sri Lankas, in die Nähe von Jaffna. Dorthin hat sich Rani zurückgezogen, die zuvor als Pflegerin von Krishans Großmutter im Elternhaus lebte. Die seit den Kriegerlebnissen in ihrer Heimat, wo sie wie Hunderttausende tamilischer Zivilisten bei den Kämpfen zwischen die Fronten geriet und deren beide Söhne getötet wurden, schwer traumatisierte Frau, ist beim Sturz in einen Brunnen ums Leben gekommen. Da Krishans Großmutter nicht reisefähig ist, fährt er an ihrer statt zur Beerdigung. Neben seiner Erinnerungen an seine Liebe reflektiert er hier über den Bürgerkrieg und seine Folgen für Sri Lanka und beschreibt die vielfälltigen Sinneseindrücke bei seiner Reise und der traditionell hinduistischen Verbrennungszeremonie.

Krishan ist ein hochreflektierter Protagonist. Und Anuk Arudpragasam lässt ihn in Nach Norden viel Zeit für seine Erinnerungen, Gedanken und Beobachtungen. Nach Norden ist ein langsames Buch. In langen, fließenden, eleganten Sätzen, unter gänzlicher Vermeidung von direkten Dialogen verknüpft der Autor die ganz individuelle Liebes- und Entwicklungsgeschichte Krishans mit der aktuellen Geschichte Sri Lankas und nahezu philosophischen Gedanken (der Autor ist promovierter Philosoph). Dafür greift er auch auf altüberlieferte Gedichte und Geschichten zurück, die er geschickt und stimmig einflicht. Auch gesellschaftspolitisch relevante Dinge, wie beispielsweise der Umgang mit Frauen in der Öffentlichkeit werden thematisiert. Vielfältige Abschweifungen sind hier Programm.

Anuk Arudpragasam gelingt mit Nach Norden dadurch ein dichtes, stimmiges Bild einer eher seltener in der aktuellen Literatur betrachteten Weltgegend. Deswegen und wegen der von Hannes Meyer wunderbar übersetzten sprachlichen Schönheit stand das Buch 2021 völlig zu Recht auf der Shortlist zum Booker Prize.

 

Weitere Besprechungen bei Marius Buch-Haltung und Ines Letteratura

Beitragsbild via Pexels

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Anuk Arudpragasam - Nach Norden.

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Anuk Arudpragasam – Nach Norden
übersetzt aus dem Englischen von Hannes Meyer
Hanser Berlin September 2022, Fester Einband, 320 Seiten, 25,00 €

 

 

 

 

Brandon Taylor – Real Life

Ein Sommerwochenende am See. Eine Universitätsstadt irgendwo im Mittleren Westen der USA. Eine Clique von Doktoranden der Biochemie nebst Anhang, die sich treffen, um die Woche bei eins, zwei kühlen Bier ausklingen zu lassen. So idyllisch und einem Campusroman ähnlich wie das klingt, ist der Debütroman Real Life von Brandon Taylor, mit dem der 1989 geborene Autor 2020 gleich auf der Shortlist zum Booker Prize stand, keineswegs. Weiterlesen „Brandon Taylor – Real Life“

Bernardine Evaristo – Mädchen Frau etc.

Die wohl mit am meisten ersehnte, am häufigsten besprochene und höchst gelobte Neuerscheinung dieses Bücherfrühlings ist wohl „Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo. 2019 relativ unerwartet mit dem Booker Prize ausgezeichnet (neben Margaret Atwoods Die Zeuginnen), hat sich der Roman über zwölf sehr diverse (Frauen)leben nicht nur blendend verkauft und wurde zu einem Lieblingsbuch für viele Leser:innen, sondern erhielt auch durchweg begeisterte Besprechungen. Weiterlesen „Bernardine Evaristo – Mädchen Frau etc.“

Colum McCann – Apeirogon

Apeirogon – der Titel des neuen Romans von Colum McCann bezeichnet eine geometrische Figur, die eine zählbar unendliche Menge an Seiten besitzt. Dies ist aber nicht die einzige mathematische Metapher, die der Autor verwendet, so kommen verschiedene Male auch die „befreundeten Zahlen“ vor, die jeweils gleich der Summe der echten Teiler der anderen Zahl sind (z.B. 220 und 284), das Apeirogon ist aber Programm. Weiterlesen „Colum McCann – Apeirogon“

Anna Burns – Milchmann

Der geniale Anfangssatz von „Milchmann“, dem 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman von Anna Burns, lautet so:

„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“

Zugegeben, es dauert eine kleine Weile, bis man sich an die Art von Anna Burns, ihre Geschichte zu erzählen, gewöhnt hat, dann aber entwickelt der Roman einen großen Sog und am Ende bleibt man erstaunt und beglückt zurück: So kann man also auch einen Roman schreiben. Weiterlesen „Anna Burns – Milchmann“

George Saunders – Lincoln im Bardo

Welch ein aberwitziges, wildes, zärtliches, berührendes Buch! Mit seinem ersten Roman Lincoln im Bardo hat der in den USA fast Kultstatus innehabende Autor von Kurzgeschichten und Essays, George Saunders, ein absolut ungewöhnliches und kühnes Werk geschaffen, für das er 2017 sogleich den renommierten Man Booker Prize erhielt.

Es ist ein Roman ohne Erzähler. Ganz gleich ob 150 oder 166 Personen (die mitzählenden Kritiker sind sich nicht ganz einig und ich habe wieder ganz anders gezählt), ihre Zahl ist schier unüberschaubar. Und ein Großteil von ihnen ist bereits zum Zeitpunkt der Handlung tot. Weiterlesen „George Saunders – Lincoln im Bardo“

Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses

Alabama in den Zwanziger Jahren. Die Südstaaten der USA vollziehen seit 1896 eine strenge Form der Rassentrennung gemäß dem Grundsatz „Separate but equal“ (getrennt aber gleich), den das Bundesgericht legitimiert hatte. Für viele bedeutet das eine „zweite Sklaverei“ nach der Befreiung durch den Bürgerkrieg 1865. Und sie sollte andauern bis 1954. Aber auch danach änderten sich gerade in Alabama die Zustände nur zögerlich, wurde 1956 der ersten afroamerikanischen Studentin, Autherine Lucy, der Zugang zur Universität verwehrt, jeder kennt den Fall von Rosa Parks, die noch 1956 verhaftet wurde, weil sie einem weißen Fahrgast nicht ihren Sitzplatz überlassen wollte und auch heute sind die USA noch von einer wahren Gleichbehandlung aller Bürger weit entfernt. Virginia Reeves erzählt in Ein anderes Leben als dieses aus dieser Zeit. Weiterlesen „Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses“

Deborah Levy – Heiße Milch

Deborah Levy schafft von Beginn an eine sehr eindrückliche, sehr sinnliche Atmosphäre für ihren neuen Roman „Heiße Milch“, der 2016 auf der Shortlist des Man Booker Prize stand.„2015. Almería. Südspanien. August.“Sogleich entstehen Kinobilder im Kopf des Lesers, die man sich sehr gut auf großer Leinwand vorstellen kann: die flirrende Hitze, die ausgedörrte Landschaft am Fuße der Sierra Nevada, die sich kilometerlang hinziehenden Gewächshausfolien, unter denen Tomaten und anderes Gemüse heranreifen.

In diese Landschaft stellt die Autorin ein kleines Ferienhaus, in dem zwei Britinnen untergebracht sind, Mutter und erwachsene Tochter. Die Atmosphäre ist aufgeladen und ein wenig surreal. Nebenan ist eine Tauchschule, an der jeden Morgen zwei Mexikaner herumweißeln, während der cholerische Inhaber am Computer spielt und sein auf dem Dach angeketteter Hund sich die Seele aus dem Leib bellt. Weiterlesen „Deborah Levy – Heiße Milch“

Ein Abend mit Arundhati Roy

Ein Abend mit Arundhati Roy im Literaturhaus Frankfurt, Deutschlandpremiere von „Das Ministerium des äußersten Glücks“ , jenem Roman, auf den die literarische Welt zwanzig Jahre wartete. 1997 war ihr erster Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ erschienen und gleich ein Riesenerfolg geworden. Internationale Publikationsrechte für 21 Länder wurden verkauft und der renommierte Booker Prize gewonnen. Zu Recht, die Geschichte um eine christliche Familie im südindischen Kerala, die zugleich Einblick in die Politik und Gesellschaft Indiens, in das Kastenwesen und die Rolle der Frauen eröffnete, ist einer der großen Romane des ausgehenden 20. Jahrunderts. Weiterlesen „Ein Abend mit Arundhati Roy“

José Eduardo Agualusa – Eine Allgemeine Theorie des Vergessens

José Eduardo Agualusa ist ein angolanischer Schriftsteller portugiesischer Abstammung, der 1960 in Huambo (Angola) geboren wurde und in Angola, Portugal und Brasilien lebt. Bisher wurden vier seiner sehr erfolgreichen Romane auch ins Deutsche übersetzt (im A1- Verlag bzw. bei dtv erschienen). Mit der nun im C.H. Beck Verlag erschienene „Allgemeine Theorie des Vergessens“ stand José Eduardo Agualusa 2016 auf der Shortlist des Man Booker International Prize (den dann Han Kang mit „Die Vegetarierin“ gewann).

Es ist eine äußerst ungewöhnliche Geschichte, die Agualusa hier erzählt. Und sie soll auf wahren Begebenheiten beruhen. Weiterlesen „José Eduardo Agualusa – Eine Allgemeine Theorie des Vergessens“