Çiğdem Akyol – Geliebte Mutter

Aktuell werden viele Romane veröffentlicht, in denen sich die zweite oder dritte Einwanderergeneration mit ihren Eltern und Großeltern auseinandersetzt. Zentral ist dabei meist die Mischung aus kritischem, schonungslosem Blick und einer großen Zärtlichkeit und Zuneigung, dem Bestreben zu verstehen. Die Romane von Dinçer Güçyeter, Necati Öziri und Deniz Utlu sind hervorragende Beispiele dafür, wie dies literarisch sehr gelungen geschehen kann. Nun hat die Journalistin und Sachbuchautorin Çiğdem Akyol mit Canım Annem Geliebte Mutter ein weiteres sehr empfehlenswertes Buch über eine deutsch-türkische Familie geschrieben.

Meryem ist die Protagonistin, die manchmal in der Ich-, manchmal in der personalen Perspektive im Zentrum steht. Ihre Mutter Aynur, die sie in einigen Passagen mit dem „Du“ direkt anspricht, ist eine der komplexen, ambivalenten Figuren, die Çiğdem Akyol in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit entwickelt. Sie stammt aus einer gutsituierten, gebildeten alevitischen Familie in Istanbul. Das bewahrt sie aber nicht vor einem Schicksal, das viele Frauen in streng patriarchalen Gesellschaften erleiden. Nachdem ihr Vater verstorben ist, übernimmt ihr älterer Bruder den Familienvorsitz und verheiratet sie gegen den Willen der Mutter und vor allem gegen ihren eigenen erbitterten Widerstand mit einem ungebildeten, sunnitischen Mann aus einem ostanatolischen Dorf. Beeinflusst von seiner Frau, will er seine Schwester einfach los sein.

Fremdes Leben in Deutschland

Alvin brennt für die schöne Aynur, eine Frau, die sich der mittellose Mann, der in Deutschland ein sehr prekäres Gastarbeiterleben führt, nie hat erträumen können. Statt eines bequemen Lebens in Almanya wartet eine mit dem Bruder geteilte, heruntergekommene Wohnung im trostlosen Herne auf die junge Frau. Statt Liebe und Respekt, ungezügelte Leidenschaft (die Alvin für Liebe hält) und Gewalt. Aynur fügt sich in die Zwangsehe, bald kommen zwei Kinder, Meryem und Ada. Doch mit Alvin geht es bergab. Er wird arbeitslos und spielsüchtig. Aynur muss allein für die Familie aufkommen, wird von ihrem Mann immer wieder geschlagen.

Dass ein solches Schicksal Wunden reißt, ist verständlich. Aynur wird hart, auch zu ihren Kindern. Schwere Arbeit, wenig Anerkennung in der deutschen Gesellschaft – das ist ein Leben, das viele Frauen und Männer der ersten Einwanderergeneration teilen. Meryem und ihre Autorin Çiğdem Akyol wollen verstehen, wie das die Menschen geprägt hat.

„Wie wurde sie zu so einer Frau? Schon früh, dafür gibt es Gründe – und das ist die Geschichte.“

heißt es deshalb schon gleich zu Beginn der Geschichte.

Geliebte Mutter

Es ist nicht so, dass Meryem der Mutter ihr hartes, oft lieblos erscheinendes Verhalten gänzlich verzeiht, aber sie erkennt im Gegensatz zu ihrem unversöhnlichen Bruder Ada an, wie sehr Aynur kämpfen und arbeiten musste, damit ihre Kinder es besser haben können, studieren, und vor allem frei von den patriarchalen Zwängen, unter denen sie so sehr zu leiden hatte, leben können.

Mit Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven arbeitend, gelingt Çiğdem Akyol mit Geliebte Mutter Canım Annem ein berührender und sehr relevanter Debütroman, der gut geschrieben und aufgebaut ist, so dass man ihn äußerst gerne liest.

 

Eine weitere Besprechung findet ihr bei Lust auf Lesen

Beitragsbild via pexels

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.Çiğdem Akyol – Canım Annem Geliebte Mutter
Steidl Verlag Oktober 2024, 240 Seiten, Leineneinband, € 24.00

 

 

 

 

Uwe Wittstock – Marseille 1940

Nach Februar 33. Der Winter der Literatur beschäftigt sich Uwe Wittstock in seinem neuen erzählenden Sachbuch Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur mit einem weiteren Krisenjahr. Nachdem er in der typischen mosaikartigen Erzählweise die bedrohlichen Ereignisse unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme anhand verschiedener Autoren wie Joseph Roth, Alfred Döblin und Thomas Mann beleuchtet hat, verpackt er nun die tragischen Ereignisse nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 wieder in viele kleine Episoden, wieder ganz nah an den Personen, chronologisch fortschreitend, unglaublich dicht, detailliert und spannend. Quellen waren wieder vor allem Selbstzeugnisse von Schriftsteller:innen und anderen Kulturschaffenden, wie Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen und Erinnerungen. Weiterlesen „Uwe Wittstock – Marseille 1940“

Dirk Kurbjuweit – Haarmann

Die Geschichte, die Dirk Kurbjuweit in seinem Kriminalroman „Haarmann“ erzählt, ist eine ungeheuerliche und noch dazu eine wahre. Kein Wunder, dass sie seit fast einhundert Jahren eine riesige (negative) Popularität besitzt und in unzähligen Adaptionen in Theater, Kino, bildender Kunst, Musik und Literatur aufgenommen wurde. Fritz Langs berühmter Film „M-Eine Stadt sucht einen Mörder“ von 1931 ist an sie angelehnt, ebenso „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von 1973. 1995 entstand „Der Totmacher“ von Romuald Karmakar mit Götz George in der Rolle des Serienmörders Fritz Haarmann. Der österreichische Maler und Bildhauer Alfred Hrdlicka schuf einen Haarmann-Zyklus und einen Haarmann-Fries. Das Lied „Warte, warte nur ein Weilchen“ wurde ein echter Gassenhauer und existiert auch in einer etwas makabren beschwingten Jazz-Version von Hawe-Schneider. Weiterlesen „Dirk Kurbjuweit – Haarmann“

Franziska Hauser – Die Glasschwestern

Drei Schwestern, die völlig verschieden sind. Zwei davon sind Zwillinge, die dritte deutlich jünger und besitzt – im Verlauf des Buches deutet sich so etwas an – vielleicht einen anderen Vater. Ein Familiengeheimnis und dazu noch ein wenig dunkle DDR-Geschichte – leider geht das Konzept von „Die Glasschwestern“ von Franziska Hauser für mich nicht auf. Weiterlesen „Franziska Hauser – Die Glasschwestern“

Alexandra Riedel – Sonne, Mond, Zinn und Jacqueline Thör – Nenn mich einfach Igel

Zwei schmale Debütromane von deutschen Autorinnen. Die 1980 geborene Alexandra Riedel schreibt über entgangene Elternliebe und Geborgenheit in „Sonne, Mond, Zinn“. Jacqeline Thör wählt als Protagonist einen jungen Hermaphrodit. Weiterlesen „Alexandra Riedel – Sonne, Mond, Zinn und Jacqueline Thör – Nenn mich einfach Igel“

Jasmin Schreiber – Marianengraben

Paula trauert. Paula hat ihren kleinen Bruder verloren. Tim war zehn Jahre alt und ein angehender Meeresforscher, Tiefseeexperte und Wissenschaftler. Nichts liebte er mehr als Fische, Kraken und das Meer. Ausgerechnet in letzterem sollte er dann in einem Sommerurlaub den Tod finden. Paula war nicht mitgereist, ein Rockkonzert war wichtiger. Zu ihrer bodenlosen Trauer um den innig geliebten, viel jüngeren Bruder kommen deshalb Vorwürfe und Schuldgefühle. Hätte sie ihren Bruder vor dem Ertrinken bewahren können? War Tims letzter Gedanke etwa: „Paula, rette mich!“ Jasmin Schreiber lässt in ihrem Debütroman „Marianengraben“ die junge Frau ganz allmählich aus ihrem seelischen Abgrund auftauchen. Kapitel für Kapitel, aus 1100 Metern Tiefe bis an die Oberfläche. Weiterlesen „Jasmin Schreiber – Marianengraben“

Norbert Scheuer – Winterbienen

Winterbienen stammen aus der letzten im Herbst aufgezogenen Brut. Ihre Aufgabe besteht darin zu überwintern und im Frühjahr erneut mit der Brutpflege zu beginnen. Dafür futtern sie sich im Herbst einen ordentlichen Eiweißvorrat an. Im Vergleich mit ihren Sommerkolleginnen leben sie deutlich länger, nämlich neun bis zehn Monate anstatt nur 45 Tage. In diesen Monaten kontrollieren sie die Temperatur im Bienenstock und produzieren gegebenenfalls Wärme durch starke Muskelbewegungen. So schützen sie Königin und Brut vor dem Auskühlen. Nach getaner Arbeit werden sie im Frühjahr aus dem Volk ausgestoßen und/oder getötet. Was zählt, das macht Norbert Scheuer in seinem großartigen Roman „Winterbienen“ deutlich, ist allein die Aufgabe, die die einzelne Biene für ihr Volk erfüllt. Weiterlesen „Norbert Scheuer – Winterbienen“

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

2019 war ein Erfolgsjahr für die Debütantin Miku Sophie Kühmel: für ihren Roman „Kintsugi“ erhielt sie den Förderpreis der Jürgen Ponto Stiftung, den Aspekte Literaturpreis und einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. Was machte das Buch trotz recht verhaltener Kritiken im Literaturfeuilleton so attraktiv für die Juroren? Weiterlesen „Miku Sophie Kühmel – Kintsugi“

Katerina Poladjan – Hier sind Löwen

Das Szenario ist nicht neu und bereits unzählige Male Ausgangspunkt und/oder Sujet von Romanen gewesen: eine nicht mehr ganz junge Frau, so um die Dreißig (wahlweise auch ein junger Mann), ist im Leben noch nicht so ganz angekommen, beruflich leicht prekär, aber gut ausgebildet, Beziehungsstatus noch nicht wirklich geklärt, genauso offen wie die Zukunftspläne, kommt an einen Punkt, der mittlerweile sogar einen Namen besitzt, die „Quarterlife-Crisis. Oft stecken irgendwelche familiären, gern verdrängten und nicht gleich offensichtlichen Probleme hinter dem Dilemma. Und oft dient eine Reise zu den familiären Wurzeln als Anstoß, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Das ist auch bei der Protagonistin von Katerina Poladjan in ihrem 2019 für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Hier sind Löwen“ so.

Das Besondere dieses Buchs liegt in der Familiengeschichte und in der Profession der Protagonistin. Weiterlesen „Katerina Poladjan – Hier sind Löwen“