Kristine Bilkau – Halbinsel

Kristine Bilkau ist mit ihrem Roman Halbinsel die diesjährige Gewinnerin des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Mit ihrer einfühlsamen, unaufgeregten Geschichte über eine Mutter-Tochter-Beziehung erzählt sie ganz dicht an der Zeit und doch universell. Ganz große Leseempfehlung! Weiterlesen „Kristine Bilkau – Halbinsel“

Katharina Hagena – Flusslinien

Er ist wieder da, dieser besondere Ton – ruhig, entschleunigend, heiter und dennoch melancholisch -, den Katharina Hagena bereits 2008 in ihrem sehr erfolgreichen Debütroman Der Geschmack von Apfelkernen anschlug und den sie auch in ihrem vierten, nun erschienenen Buch Flusslinien beibehält. Zwei Frauen, die eine alt, die andere sehr jung und ein junger Mann stehen darin im Mittelpunkt. Das eigentliche Zentrum aber ist die Elbe. Und in den zwölf Abschnitten, die zwölf Tagen entsprechen, werden sehr viele Geschichten erzählt. Weiterlesen „Katharina Hagena – Flusslinien“

Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten

Bereits in seinem 2021 erschienenen, autobiografisch inspirierten Roman Eine Formalie in Kiew führte uns der 1986 in Kiew geborene, seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland lebende Dmitrij Kapitelman in ein in Leipzig von seinen Eltern betriebenes Geschäft, das russische Spezialitäten verkaufte. Pelmeni, Kwas, Wodka, Kaviar, gezuckerte Kondensmilch, Drei-Schweinchen-Wurst und verschiedene Weißkohlsorten, vor allem aber auch Nostalgie und Heimweh gab es in dem 1995 gegründeten und an den Folgen der Corona-Pandemie gescheiterten „Magasin“. Hier trafen sich Menschen aus der sowjetischen Diaspora, kauften Vertrautes, tauschten sich aus über Alltagsrassismus, Antisemitismus, erstarkende rechte Gewalt, aber auch einfach nur über das Leben in Deutschland, das ihre neue Heimat geworden ist und sich so offensichtlich dagegen sträubt. Weiterlesen „Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten“

Christine Wunnicke – Wachs

Historische Romane sind gern opulent, faktenreich, sinnlich und seitenstark. Es sei denn, sie stammen von Christine Wunnicke. Nicht dass ihre Romane dies alles – mit einer Ausnahme – nicht auch sind. Und doch sind die stets um ziemlich skurrile Gestalten und etwas abseitige Begebenheiten kreisenden Geschichten der 1966 geborenen Autorin ganz anders als man bei diesem Genre erwarten würde. Vor allem haben sie meist unter 200 Seiten. Und das ist auch bei dem neuesten Buch von Christine Wunnicke, Wachs betitelt und mit zunächst irritierendem, mit Zeichnungen von Passionsblumenblüten und einer Guillotine geschmücktem Cover im Berenberg Verlag erschien, nicht anders. Weiterlesen „Christine Wunnicke – Wachs“

Elisabeth Reichart – Komm über den See

Komm über den See von Elisabeth Reichart erschien bereits 1988, wurde 2001 neu aufgelegt und macht nun zum dritten Mal einen Anlauf, Leser:innen zu gewinnen – als Neuerscheinung im Salzburger Otto Müller Verlag. Erzählt wird die Geschichte von Ruth Berger, deren Mutter nach dem „Anschluss“ von Österreich Widerstand leistete und daran zerbrach. Weiterlesen „Elisabeth Reichart – Komm über den See“

Arno Frank – Ginsterburg

Ginsterburg – eine ganz durchschnittliche (fiktive) Kleinstadt in Deutschland, mit einer romantischen Altstadt, einem Provinzschlösschen am Wasser, einer englischen Parkanlage und den typischen mittelständischen Fabriken. Eine deutsche Stadt, wie sie landauf, landab existierten und von denen viele während des Bombenkriegs in den Jahren 1940 bis 1945 zerstört wurden. Ginsterburg in den Jahren 1935, 1940 und 1945 und seine Bewohner:innen stehen im neuen, gleichnamigen Roman von Arno Frank im Mittelpunkt. Den Alltag im Nationalsozialismus, die Veränderung einer Gesellschaft unter einer menschenverachtenden Diktatur, die Schritte, die zum vollständigen, auch moralischen Zusammenbruch einer Nation der „Dichter und Denker“ führte, beleuchtet der Wiesbadener Autor in seinem genau recherchierten Roman. In der Villa Clementine erzählte er im Februar über den Entstehungsprozess. Weiterlesen „Arno Frank – Ginsterburg“

Peter Kurzeck – Frankfurt Paris Frankfurt

Als Peter Kurzeck im November 2013 verstarb, war gerade mal der fünfte von geplanten zwölf Teilen seiner großen autobiografischen Romanreihe Das alte Jahrhundert im erschienen. Vorabend heißt der dicke Wälzer und Kurzeck stand damit 2011 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Dieser über 1000seitige Roman erzählt in einer großen Rückblende vom mittelhessischen Staufenberg der 1950er und 60er Jahre, in dem die Familie Kurzeck nach ihrer Vertreibung aus dem Sudetenland wohnte. Ausgangspunkt für alle Bände sind stets die Jahre 1983 und 1984, kurz vor bzw. nach der Trennung von Freundin Sibylle, der Mutter seiner Tochter Carina. Von dort schweift die Erinnerung aber immer wieder auch nach Südfrankreich, wo Peter Kurzeck lange Zeit in Uzès lebte, und im jüngst erschienenen Band Frankfurt Paris Frankfurt in die französische Hauptstadt, wohin sie (u.a.) im Herbst 1977 reisten. Weiterlesen „Peter Kurzeck – Frankfurt Paris Frankfurt“

Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre

Das Jahr 2024 habe ich mit einem Roman begonnen, der mich total begeistert hat und der dennoch bei den Nominierungen zu den „großen“ deutschen Buchpreisen völlig leer ausging. Absolut unverständlich, da Unsereins von Inger-Maria Mahlke wirklich von überragender Qualität war – klug, witzig, anspielungsreich, formal perfekt. Und auch 2025 habe ich mit einem Roman gestartet, der bisher noch nirgends nominiert war, obwohl er von ebenso großer Kunstfertigkeit ist – Monika Zeiner mit Villa Sternbald.

Auch sonst haben die beiden Romane etwas gemeinsam: sie erweisen dem Jubiläumsschriftsteller dieses Jahres, Thomas Mann, auf spielerische Weise ihre Referenz. Weiterlesen „Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“

Daniel Gräfe – Wir waren Kometen

Als Lukas Luba das erste Mal begegnet, ist diese schon reichlich desillusioniert. Als im Dezember 1989 in Rumänien die Diktatur des Nicolae Ceaușescu endet, packt die sehr junge Frau ihre Koffer und verlässt ihre Heimat Hals über Kopf gen Westen. Schon als Kind opponierte sie gegen den Zwang des Regimes in der Schule, auch gegen die regimetreuen Eltern. Die deswegen erhaltenen Strafen traumatisierten sie nachhaltig. Ihr Hass auf das Land legt sich auch in Berlin nicht, obwohl sie hier auch die Negativseiten des Westens zu spüren bekommt und die Stadt doch einigermaßen entfernt von ihrem idealisierten Traumland Italien ist. Das begonnene Studium an der Hochschule der Künste kann sich die begabte Zeichnerin bald nicht mehr leisten und muss sich mit anderen Jobs über Wasser halten. In einer Nobelboutique wird sie völlig grundlos des Ladendiebstahls verdächtigt. Hier lässt Daniel Gräfe seine beiden Protagonist:innen in Wir waren Kometen das erste Mal aufeinandertreffen.

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Çiğdem Akyol – Geliebte Mutter

Aktuell werden viele Romane veröffentlicht, in denen sich die zweite oder dritte Einwanderergeneration mit ihren Eltern und Großeltern auseinandersetzt. Zentral ist dabei meist die Mischung aus kritischem, schonungslosem Blick und einer großen Zärtlichkeit und Zuneigung, dem Bestreben zu verstehen. Die Romane von Dinçer Güçyeter, Necati Öziri und Deniz Utlu sind hervorragende Beispiele dafür, wie dies literarisch sehr gelungen geschehen kann. Nun hat die Journalistin und Sachbuchautorin Çiğdem Akyol mit Canım Annem Geliebte Mutter ein weiteres sehr empfehlenswertes Buch über eine deutsch-türkische Familie geschrieben.

Meryem ist die Protagonistin, die manchmal in der Ich-, manchmal in der personalen Perspektive im Zentrum steht. Ihre Mutter Aynur, die sie in einigen Passagen mit dem „Du“ direkt anspricht, ist eine der komplexen, ambivalenten Figuren, die Çiğdem Akyol in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit entwickelt. Sie stammt aus einer gutsituierten, gebildeten alevitischen Familie in Istanbul. Das bewahrt sie aber nicht vor einem Schicksal, das viele Frauen in streng patriarchalen Gesellschaften erleiden. Nachdem ihr Vater verstorben ist, übernimmt ihr älterer Bruder den Familienvorsitz und verheiratet sie gegen den Willen der Mutter und vor allem gegen ihren eigenen erbitterten Widerstand mit einem ungebildeten, sunnitischen Mann aus einem ostanatolischen Dorf. Beeinflusst von seiner Frau, will er seine Schwester einfach los sein.

Fremdes Leben in Deutschland

Alvin brennt für die schöne Aynur, eine Frau, die sich der mittellose Mann, der in Deutschland ein sehr prekäres Gastarbeiterleben führt, nie hat erträumen können. Statt eines bequemen Lebens in Almanya wartet eine mit dem Bruder geteilte, heruntergekommene Wohnung im trostlosen Herne auf die junge Frau. Statt Liebe und Respekt, ungezügelte Leidenschaft (die Alvin für Liebe hält) und Gewalt. Aynur fügt sich in die Zwangsehe, bald kommen zwei Kinder, Meryem und Ada. Doch mit Alvin geht es bergab. Er wird arbeitslos und spielsüchtig. Aynur muss allein für die Familie aufkommen, wird von ihrem Mann immer wieder geschlagen.

Dass ein solches Schicksal Wunden reißt, ist verständlich. Aynur wird hart, auch zu ihren Kindern. Schwere Arbeit, wenig Anerkennung in der deutschen Gesellschaft – das ist ein Leben, das viele Frauen und Männer der ersten Einwanderergeneration teilen. Meryem und ihre Autorin Çiğdem Akyol wollen verstehen, wie das die Menschen geprägt hat.

„Wie wurde sie zu so einer Frau? Schon früh, dafür gibt es Gründe – und das ist die Geschichte.“

heißt es deshalb schon gleich zu Beginn der Geschichte.

Geliebte Mutter

Es ist nicht so, dass Meryem der Mutter ihr hartes, oft lieblos erscheinendes Verhalten gänzlich verzeiht, aber sie erkennt im Gegensatz zu ihrem unversöhnlichen Bruder Ada an, wie sehr Aynur kämpfen und arbeiten musste, damit ihre Kinder es besser haben können, studieren, und vor allem frei von den patriarchalen Zwängen, unter denen sie so sehr zu leiden hatte, leben können.

Mit Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven arbeitend, gelingt Çiğdem Akyol mit Geliebte Mutter Canım Annem ein berührender und sehr relevanter Debütroman, der gut geschrieben und aufgebaut ist, so dass man ihn äußerst gerne liest.

 

Eine weitere Besprechung findet ihr bei Lust auf Lesen

Beitragsbild via pexels

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.Çiğdem Akyol – Canım Annem Geliebte Mutter
Steidl Verlag Oktober 2024, 240 Seiten, Leineneinband, € 24.00