Moussa Abadi – Die Königin und der Kalligraph

Es war einmal… Es war einmal eine Stadt, in der Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten. Nicht konfliktfrei, jeder in seinem eigenen Dunstkreis, aber doch mit einem gewissen Respekt und vor allem Toleranz vor dem anderen. Es war einmal das Damaskus der Kindheit von Moussa Abadi, 1910 dort geborener Autor des autobiografischen Werks Die Königin und der Kalligraph, und auch ein Stück weit das des 1946 geborenen Schriftstellers Rafik Schami, der zu eben jenem Werk, das gerade in der Übersetzung von Gerhard Meier bei Manesse erschienen ist, ein ausführliches Nachwort beigesteuert hat. Im Jahr 1900 lebten ca. 11.000 Juden in Damaskus. Viele wanderten 1948 oder nach dem Sechstagekrieg 1967 aus. 1992 zählte man noch 4000 Juden in der Judengasse, 2019 waren es laut Rafik Schami nur noch 12. Heute erscheint ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Religionen utopischer als je. Aber es war einmal… Weiterlesen „Moussa Abadi – Die Königin und der Kalligraph“

Isabelle Autissier – Aqua alta

Isabelle AutissierAqua alta – das jährliche Winterhochwasser begleitet Venedig schon seit seiner Gründung in der Lagune. Es kommt durch bestimmte Winde, durch die Gezeiten, niedrigen Luftdruck und weniger als man denkt durch Regen zustande. Seit 1872 wurden über 300 davon erfasst, in jüngster Zeit hat sich ihre Frequenz bedeutend erhöht. Gab es zwischen 1900 und 1910 lediglich zehn solcher Ereignisse, waren es zwischen 2001 und 2010 bereits fünfundsechzig, Tendenz steigend. Weiterlesen „Isabelle Autissier – Aqua alta“

Alice Zeniter – Machtspiele

In ihrem Roman Die Kunst zu verlieren, der 2017 in die Endauswahl für den Prix Goncourt gelangte und den Prix Goncourt des lycéens gewann, schrieb Alice Zeniter autofiktiv über ihre Familie mit französischen und algerischen Wurzeln. Es ist ein sehr bewegendes Buch über das Schicksal der sogenannten Harkis, den Algeriern, die der Kolonialmacht Frankreich nahe standen und für sie auch in den Krieg zogen. Nach der Unabhängigkeit wurden sie verfolgt und mussten zum Teil nach Frankreich fliehen. Der neue Roman Machtspiele hat nun ein völlig anderes Thema und Alice Zeniter enthüllt die ebenfalls arabischen Wurzeln ihrer Protagonistin L. nur spät und en passant. Sie haben fast keine Bedeutung mehr. Weiterlesen „Alice Zeniter – Machtspiele“

Alexandre Labruffe – Erkenntnisse eines Tankwarts

Beauvoire arbeitet als Tankwart an einer Tankstelle in der Peripherie. Flüchtige Begegnungen mit Kunden, seltene Stammgäste, ein streng begrenztes Warensortiment und der ständige Geruch nach Benzin bestimmen seinen Arbeitsalltag. Von seinem Privatleben erfährt man relativ wenig. Es gibt einen Vater, den er häufig anruft, auch wenn dieser meistens mit seinen wechselnden Frauenbekanntschaften beschäftigt ist und recht wenig Interesse an seinem Sohn bekundet. Freund Ray ist zurzeit auch nur telefonisch erreichbar, denn er lebt auf Malta und wurde gerade von seiner Frau verlassen. Die immer wieder auftretende Langeweile während der Arbeit vertreibt sich Beauvoire mit Action- und Horrorfilmen, Rauchen und genauen Beobachtungen, die Autor Alexandre Labruffe seinen Ich-Erzähler in Erkenntnisse eines Tankwarts mit den Lesenden teilen lässt. Weiterlesen „Alexandre Labruffe – Erkenntnisse eines Tankwarts“

Anne Berest – Die Postkarte

Seit über zwei Jahren steht der Roman Die Postkarte der 1979 geborenen französischen Schauspielerin und Regisseurin Anne Berest auf den Bestsellerlisten in Frankreich. 2021 war er für mehrere große Literaturpreise des Landes nominiert, u.a. auch für den Prix Goncourt. Der Skandal darum, dass ein Mitglied der Jury den Roman im Vorfeld in der Zeitung Le Monde verrissen hat und gleichzeitig mit einem der Mitbewerber liiert ist, hat dem Buch zumindest bei den Leser:innen nicht geschadet. Glücklicherweise, denn die Geschichte der eigenen Recherche der Autorin zu ihrer Familie, die weit in die dunklen Jahre der deutschen Besetzung und der Shoa führen, verdient es von vielen gelesen zu werden. Weiterlesen „Anne Berest – Die Postkarte“

Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang

Ein Reiseführer für Französisch-Indochina aus den 1920er Jahren mit einem passenden Sprachführer, der fast ausschließlich Redewendungen im Imperativ enthielt, war es nach eigenem Bekunden, der den französischen Autor Éric Vuillard zu seinem neuesten Buch, Ein ehrenhafter Abgang, inspirierte. Und wieder hat er aus Fakten und Fiktion ein für ihn so typisches Genre geschaffen, das irgendwo zwischen historischem Sachbuch und dokumentarischem Roman angesiedelt ist. Schon in seinem mit dem Prix Goncourt gekürten Buch Die Tagesordnung, in Der 14. Juli  und Der Krieg der Armen hat er diese Art der Komposition angewendet, die man vielleicht am besten als literarische Inszenierung historischer Ereignisse beschreiben kann. Dafür montiert er Fakten, die er präzise aus Dokumenten wie Briefen, Reden, Memoiren recherchiert hat, mit einer erfundenen Innen- und Gefühlswelt der beteiligten Personen. Bei aller Faktentreue entsteht daraus dann ein weniger sachliches als engagiertes Stück Literatur. Weiterlesen „Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang“

Emilienne Malfatto – Möge der Tigris um dich weinen

Möge der Tigris um dich weinen nennt die Fotografin, Journalistin und Autorin Emilienne Malfatto ihren mit knapp 90 locker bedruckten Seiten sehr kurzen, aber ungemein intensiven Roman über einen Ehrenmord im Irak. Möge der vorderasiatische Fluss Tigris, der zusammen mit dem Euphrat das legendäre, einst hochentwickelte Zweistromland Mesopotamien bildete, um all die Frauen weinen, die auch heute noch oder mit Blick auf das benachbarte Afghanistan gerade heute wieder, im 21. Jahrhundert, mit aller Gewalt Opfer der überlebten und doch so machtvollen patriarchalen Systeme werden. Weiterlesen „Emilienne Malfatto – Möge der Tigris um dich weinen“

Virginie Despentes – Liebes Arschloch

„Überraschend versöhnliche Töne“ vom weiblichen „Enfant terrible“ der französischen Buchszene hieß es verbreitet in der Literaturkritik zum neuen Roman von Virginie Despentes, Liebes Arschloch. Und tatsächlich verheißt der Titel und auch der unmittelbare Beginn des Romans eine der literarischen Provokationen, mit denen die Autorin ab 2002 viel Beachtung fand. Weiterlesen „Virginie Despentes – Liebes Arschloch“

Jean Malaquais – Planet ohne Visum

Es ist wirklich erstaunlich, welche Meisterwerke der Exilliteratur heute, achtzig Jahre später, noch neu entdeckt werden, bei denen man sich fragt, wie sie vergessen oder sogar ganz übergangen werden konnten. So wie Planet ohne Visum von Jean Malaquais, das nun, 75 Jahre nach seinem Erscheinen, endlich auf Deutsch veröffentlicht wird. Der Edition Nautilus und vor allem seiner Übersetzerin Nadine Püschel sei Dank! Weiterlesen „Jean Malaquais – Planet ohne Visum“

Mohamed Mbougar Sarr – Die geheimste Erinnerung der Menschen

Diese Besprechung von Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr ist vielleicht die subjektivste Rezension, die ich je geschrieben habe. Ich meide sonst zu viele „für mich“, „ich finde/denke“, „meiner Meinung nach“. Aber was schreiben über einen von seinen Leser:innen fast durchweg geliebten und bewunderten Roman, in dessen Besprechungen am häufigsten die Worte „groß“, „überwältigend“ und „funkelnd“ zu finden sind und der von Anlage und Themen (Kolonialismus, Migration, Literatur(betrieb), eine Kontinente umspannende Suche) her eigentlich genau passen müsste – und der mich dennoch als Ganzes kaum erreicht hat. Weiterlesen „Mohamed Mbougar Sarr – Die geheimste Erinnerung der Menschen“