Christine Wunnicke – Wachs

Historische Romane sind gern opulent, faktenreich, sinnlich und seitenstark. Es sei denn, sie stammen von Christine Wunnicke. Nicht dass ihre Romane dies alles – mit einer Ausnahme – nicht auch sind. Und doch sind die stets um ziemlich skurrile Gestalten und etwas abseitige Begebenheiten kreisenden Geschichten der 1966 geborenen Autorin ganz anders als man bei diesem Genre erwarten würde. Vor allem haben sie meist unter 200 Seiten. Und das ist auch bei dem neuesten Buch von Christine Wunnicke, Wachs betitelt und mit zunächst irritierendem, mit Zeichnungen von Passionsblumenblüten und einer Guillotine geschmücktem Cover im Berenberg Verlag erschien, nicht anders.

Wachs erzählt von zwei Frauen, die historisch verbürgt und sogar einigermaßen berühmt sind. Es handelt sich einmal um Marie Marguerite Bihéron, die von 1719 bis 1795 in Paris lebte und einer zu damaligen Zeiten gänzlich ungewöhnlichen Profession nachging. Einer für Frauen sehr ungewöhnlichen Betätigung. Zwar wurden schon seit der Antike Obduktionen durchgeführt, aber erst mit der Aufklärung und ihrem Drang nach Wissen und der damit verbundenen Lockerung religiöser Vorstellungen boomten diese Leichenöffnungen und waren öffentliche Lehrveranstaltungen an toten Körpern gern – auch von der Damenwelt – besuchte „Events“. Diese Obduktionen allerdings als Frau selbst durchzuführen, war eher außergewöhnlich. Und doch war Marie in dieser Disziplin eine Meisterin und die von ihr hergestellten Wachsmodelle von Organen oder ganzen Körpern genossen internationalen Ruhm. Und das eine oder andere Modell war als Ausstellungsstück auch in verschiedenen Königspalästen anzutreffen. Auch der Philosoph und Schriftsteller Denis Diderot war einer ihrer „Schüler“.

Christine Wunnicke lässt Wachs mit einer so eindrücklichen wie skurrilen Anekdote beginnen. Darin wird die erst dreizehnjährige Halbwaise Marie, Tochter des verstorbenen Apothekers, in einer Kaserne vorstellig und verlangt eine Leiche zu kaufen. Leichen gäbe es beim Militär, hat sie gehört. Und sie möchte nun gerne eine zum Sezieren. Es ist tatsächlich makaber zu hören, wie leicht interessierte Anatomen damals an Leichen kamen. Aber hier wird Marie nicht fündig. Nach dieser Episode springt der Roman ins Jahr 1793.

Revolutionäre Zeiten

Die französische Revolution ist da im vollen Gange und es beginnt die Terrorherrschaft der Guillotine. Auch die Königin, die ebenfalls im Besitz eines von Maries Modellen war, hat wie ihr Mann ihren Kopf bereits verloren. Marie selbst ist alt und gebrechlich und lebt mit ihrem Ziehenkel Edmé, der sie pflegt und versorgt, zusammen. Mit ihnen bekommen die Leser:innen einen tiefen, sinnlichen, manchmal auch drastischen Blick in das revolutionäre Paris präsentiert. Marie hängt den Erinnerungen an ihre wissenschaftlichen Jahre und ihre Bekanntschaft, Freundschaft, Liebe mit der Pflanzenmalerin Madeleine Basseporte nach.

Madeleine ist die zweite Protagonistin des Romans und 18 Jahre älter als Marie. Sie war offizielle Zeichnerin am Jardin du Roi (später Jardin des plantes) und sehr anerkannt. Sie korrespondierte mit dem berühmten Naturforscher Carl Linné. Inwiefern Marie und Madeleine tatsächlich ein Liebespaar waren, ist nicht bekannt. Die beiden Forscherinnen und Künstlerinnen lebten aber viele Jahre zusammen. Basseporte starb schon 1780, am Ende des Ancien Régimes.

Poetisch und klug, witzig und geistreich und immer sehr unterhaltsam erzählt Christine Wunnicke von diesen beiden Frauen in zehn kurzen Kapiteln, die immer wieder von der erzählten Zeit des Jahres 1793 zurückspringen in die Kindheits-, Jugend- und Frauenjahre von Marie. Sie benutzt für ihre Geschichte dieser Selbstermächtigung zweier unerschrockener Frauen einen unangestrengt leicht altertümlichen Ton. Ein kunstfertiges, sehr schön zu lesendes kleines Buch.

 

Beitragsbild: Syringa vulgaris by Françoise Basseporte (1701-1780), Public domain, via Wikimedia Commons

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Christine Wunnicke - Wachs

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Christine Wunnicke – Wachs
Berenberg Verlag 2025, 192 Seiten, Halbleinen, fadengeheftet, 134 Seiten

 

 

 

 

Paul Harding – Sein Garten Eden

Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Harding (*1967) erhielt bereits für seinen Debütroman Tinkers 2010 den Pulitzer Prize in der Sparte Fiction, und auch mit seinem neuesten Werk, Sein Garten Eden, stand er auf der Shortlist des Booker Prize. Harding ist also ein durchaus erfolgreicher und anerkannter Autor in der angloamerikanischen Literaturwelt, der es meiner Wahrnehmung nach aber in Deutschland eher schwer hat. Seine Geschichte einer multiethnischen Gemeinschaft, die auf einer kleinen Insel vor der Küste Maines seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zusammenlebt, bevor sie von den Behörden von dort vertrieben wird, ist von den wahren Begebenheiten auf Malaga Island inspiriert. Weiterlesen „Paul Harding – Sein Garten Eden“

Zadie Smith – Betrug

„So viele Bücher. Wozu braucht er die denn alle?“ Der Ausruf des Zimmermannburschen gleich in der ersten Szene des neuen Romans Betrug von Zadie Smith erheitert jeden Buchliebhaber, jede Buchliebhaberin – hat man einen solchen Spruch doch selbst in der einen oder anderen Variante schon x-mal gehört. Hier hat die stattliche Anzahl von Büchern der Bibliothek des Schriftstellers William Harrison Ainsworth den Boden ebendieser durchbrechen lassen und ein beträchtliches Loch in der Decke des darunterliegenden Salons hinterlassen. Der spöttisch-ironische Ton des ersten historischen Romans der englischen Erfolgsschriftstellerin ist damit vorgegeben. Weiterlesen „Zadie Smith – Betrug“

Inger-Maria Mahlke – Unsereins

Das Jahr 1890, gediegene Bürgerhäuser, Tee- und Abendgesellschaften und „der kleinste Staat des Kaiserreichs“ – auch wenn Letzteres, die Autorin von Unsereins Inger-Maria Mahlke gibt es gerne zu, ein wenig gefuddelt ist. Jedem, der literarisch unterwegs ist, fällt da natürlich sofort Thomas Manns Nobelpreisroman Die Buddenbrooks ein. Und es kommt keine Buchbesprechung (natürlich auch diese nicht) ohne damit aus, das zu erwähnen. Der Roman bezieht sich auch expliziert auf den berühmten Gesellschaftsroman über das Lübecker Bürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts, zitiert ihn, ironisiert ihn, spielt damit. Aber auch wenn die Autorin den Ton des frühen Thomas Mann wunderbar adaptiert, ist Unsereins ein moderner Roman und so viel mehr als nur eine Referenz auf die Geschichte der berühmten Kaufmannsfamilie. Weiterlesen „Inger-Maria Mahlke – Unsereins“

Bastian Kresser – Als mir die Welt gehörte

Das Erstaunliche ist, dass es diesen Victor Lustig wirklich gab. Der 1890 geborene Lustig war österreich-ungarischer Herkunft, von großer Intelligenz und umfassender Ausbildung. Er sprach fünf Sprachen. Dass er mit 22 Jahren bereits 5x im Gefängnis sitzen, sich etliche fiktive Identitäten zulegen und auf Überseedampfern Geld mit Betrügereien bei Glücksspielen machen sollte, war in keiner Weise vorgezeichnet oder vorhersehbar. In die Geschichte ging er schließlich ein als „der Mann, der den Eiffelturm verkaufte“. Und das gleich zwei Mal. Seine überraschende Geschichte erzählt der österreichische Autor Bastian Kresser auf so unterhaltsame wie spannende Weise in seinem Roman Als mir die Welt gehörte. Weiterlesen „Bastian Kresser – Als mir die Welt gehörte“

Nathan Harris – Die Süße von Wasser

1865. Die Konföderierten Südstaaten sind den in der Union verbliebenen Nordstaaten von Amerika endgültig unterlegen. Die Sklaverei wird auch auf den großen Plantagen des Südens abgeschafft, Unionstruppen kontrollieren die Freilassung der Sklav:innen. Dass sich der große Konflikt, der 1861 zu einer Spaltung der Vereinigten Staaten geführt hat und die Bevölkerung ideologisch tief trennt, nach vier Jahren brutaler Kriegsführung mit geschätzt 600.000 Toten so einfach auflöst, ist unmöglich. Zu fest sind rassistische Ansichten und wirtschaftliche Abhängigkeiten von der Sklavenhaltung in der Südstaatenbevölkerung zementiert. Und was soll eigentlich mit den Millionen Freigelassenen passieren? Nathan Harris hat diesen speziellen historischen Moment für seinen 2021 auf der Longlist des Booker Prize platzierten Roman Die Süße von Wasser gewählt. Weiterlesen „Nathan Harris – Die Süße von Wasser“

Abdulrazak Gurnah – Nachleben

Seitdem der britisch-tansanische Autor Abdulrazak Gurnah im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hat, sind bereits drei seiner auf Deutsch zuvor nur noch antiquarisch zu erhaltenden Roman neu im Penguin Verlag erschienen, das zuletzt erschienene Nachleben (Original 2020) in einer neuen Übertragung durch Eva Bonné. Die vorherigen Veröffentlichungen (Das verlorene Paradies und Ferne Gestade) haben genau wie der im kommenden Frühjahr erscheinende Titel Die Abtrünnigen ihre alten Übersetzungen beibehalten (lediglich durchgesehen), die von drei jeweils unterschiedlichen Übersetzer:innen stammen. Vier Bücher, vier Übersetzer:innen – das ist zwar verständlich (man will schnell liefern), aber auch bedauerlich. Der Atem der drei Verlage bei den drei zwischen 1992 und 2006 erstmals auf Deutsch veröffentlichten Titeln war anscheinend nicht lang genug, um dem Autor treu zu bleiben. Weiterlesen „Abdulrazak Gurnah – Nachleben“

Robert Jones jr. – Die Propheten

Die Propheten – wuchtig, erdig und bedeutungsschwer kommt der Debütroman von Robert Jones jr. daher, mit dem der 1951 geborene New Yorker Autor gleich auf der Shortlist des National Book Award 2021 landete. Als „Son of Baldwin“ bloggt und twittert er über Blackness und Queerness und engagiert sich für Anti-Diskriminierung. Natürlich ist der Name eine Verbeugung vor dem großen Autor James Baldwin, den er neben Toni Morrison als sein Vorbild bezeichnet. Mit Die Propheten erzählt er eine Schwarze, queere Liebesgeschichte aus der Sklaverei des 19. Jahrhunderts. Es ist für ihn das Buch, über das Morrison sagte: „Wenn es ein Buch gibt, das Sie lesen möchten, aber es noch nicht geschrieben wurde, dann müssen Sie es schreiben.“ Weiterlesen „Robert Jones jr. – Die Propheten“

Sigrid Undset – Kristin Lavranstochter Die Frau

Nachdem Kristin Lavranstochter im ersten Teil der Trilogie, für die die Autorin 1928 den Literaturnobelpreis erhielt, als junge eigenwillige Frau ihre Ehe mit dem angebeteten Erlend Nikulaussohn durchgesetzt hat, führt Sigrid Undset die Geschichte in Die Frau fort. Gegen den Willen ihres geliebten Vaters Lavrans Bjørgulvssohn hat sich Kristin diese Ehe ertrotzt. Ihre voreheliche Schwangerschaft konnte dadurch gerade noch legitimiert werden. Der schlechte Ruf Erlends, der zuvor mit einer anderen Frau in unehelicher Gemeinschaft lebte, aus der zwei gemeinsame Kinder stammen, erholt sich durch Kristins sorgsames Haushalten und erfolgreiche Geschäfte ihres Mannes langsam. Weiterlesen „Sigrid Undset – Kristin Lavranstochter Die Frau“

Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies

Als dem aus Tansania, genauer Sansibar, stammenden Autor Abdulrazak Gurnah im letzten Jahr der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, war zunächst einmal die Ratlosigkeit recht groß. Auch Literaturkenner:innen war der 1948 geborene Gurnah meistenteils unbekannt, in Deutschland war keines seiner Werke aktuell lieferbar. Lässt man mal die beiden weißen Südafrikaner:innen Nadine Gordimer und John M. Coetzee beiseite, ist Gurnah erst der dritte Literaturnobelpreisträger aus Afrika (nach dem Nigerianer Wole Soyinka und dem Ägypter Nagib Machfus). Kritische Stimmen merkten an, dass es sich aber wieder um einen in der Diaspora lebenden und auf Englisch schreibenden Autoren handelt. Schön, dass die Leser:innen sich nun mit Das verlorene Paradies, dem viertem, für den Booker Prize 1994 nominierten Roman von Abdulrazak Gurnah, nun selbst ein Bild von dessen literarischem Werk machen können. Weiterlesen „Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies“