Welche Assoziationen löst der Titel des neuen Romans von Saskia Hennig von Lange – Heim – aus? Bei mir war es tatsächlich zunächst ausschließlich die der Geborgenheit, des Heimkommens, etwas Warmes. Aber natürlich kann ein Heim auch etwas Kaltes, Erschreckendes, Bedrohliches sein. Lange Zeit galt das beispielsweise für Kinderheime, Kindererholungsheime, Heime für Menschen mit geistigen Einschränkungen, auch Altenheime. Die Komplexität des Titels weist bereits auf die Vielschichtigkeit dieses sehr gelungenen Romans hin. Weiterlesen „Saskia Hennig von Lange – Heim“
Schlagwort: Kindheit
Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum
Der 85-jährige und mittlerweile schwer kranke Hark Bohm ist vor allem als Regisseur und Filmproduzent (zum Beispiel von Nordsee ist Mordsee oder Yasemin) bekannt, trat aber auch als Schauspieler auf und verfasste zahlreiche Drehbücher. Die nun erschienene Kindheitserinnerung Amrum lag auch zunächst als Drehbuch vor (und wird aktuell von Fatih Akin mit Diane Kruger verfilmt; voraussichtlicher Filmstart September 2025), zusammen mit dem Autor Philipp Winkler hat Hark Bohm daraus nun auch einen Roman gemacht. Meine vorurteilsbeladenen Bedenken wegen Doppelautorenschaft (die hier wegen des angegriffenen Gesundheitszustand Bohms nötig wurde) und dem Gedankenimpuls „schon wieder ein Schauspieler/Regisseur etc. der einen Roman schreiben will“, wurden gleich zu Anfang zerstreut. Amrum ist ein wunderbar leises, etwas wehmütiges, warmes Buch über eine Kindheit auf Amrum, die sicher vieles gemeinsam hat mit derjenigen des Autors. Weiterlesen „Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum“
Jessica Lind – Kleine Monster
Das Thema Mutterschaft stand schon im Debütroman im Mittelpunkt – eine einsame Waldhütte war damals Schauplatz, um die Träume und Ängste, Überforderungen und die Selbstentfremdung einer Mutter in ein leicht surreales, märchenhaftes Setting zu verlegen und viele unterschiedliche Herangehensweisen und Interpretationen des Textes zuzulassen. Nach Mama hat Jessica Lind nun erneut eine Mutter (und am Rande, wie im Debüt, auch einen Vater) zur Hauptfigur ihres neuen Romans Kleine Monster gemacht. Weiterlesen „Jessica Lind – Kleine Monster“
Javier Zamora – Solito
Es ist eine erschütternde Geschichte, die leider so oder ähnlich tagtäglich irgendwo auf der Welt passiert – das UNHCR spricht aktuell von fast 120 Millionen Vertriebenen weltweit, 47 Millionen davon sind Kinder, viele davon sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Aber ist es auch „Eine wahre Geschichte“, wie der Verlag auf dem Buchcover verkündet, die der 1990 in El Salvador geborene und nun in den USA lebende Lyriker Javier Zamora in seinem ersten Prosawerk Solito erzählt? In der Kritik wurde das schon bemängelt, denn wir „wahr“ kann eine Geschichte sein, die auf über 20 Jahre zurückliegenden Erlebnissen eines Kindes beruhen? Bitteren, bestürzenden, traumatisierenden Erlebnissen, die Zamora erst nach einer Psychotherapie zu Papier bringen konnte. Ich denke, dieser Einwand ist ein wenig müßig. Im Original wird Solito ein „memoir“ genannt. Eine zwischen Autobiografie und Autofiktion changierende Gattungsbezeichnung. Und jeder weiß ja, wie Erinnerungen beim Erzählen und Rekapitulieren immer wieder umgeformt werden. Und deshalb nicht weniger wahr werden. Weiterlesen „Javier Zamora – Solito“
Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz
Wenige Literaturnobelpreisträger konnten mich bisher so begeistern wie Abdulrazak Gurnah, dem 2021 der Preis verliehen wurde und den hierzulande bis dahin kaum jemand kannte. Alle Übersetzungen waren zum Zeitpunkt der Verkündung nur noch antiquarisch zu bekommen. Sehr schnell hat sich allerdings der Penguin Verlag verdient gemacht, alle Romane von Abdulrazak Gurnah auch in Deutschland verfügbar zu machen und veröffentlicht diese seitdem nach und nach, so nun auch den 2017 im Original erschienenen Roman Gravel Heart, in der Übersetzung Das versteinerte Herz. Weiterlesen „Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz“
Moussa Abadi – Die Königin und der Kalligraph
Es war einmal… Es war einmal eine Stadt, in der Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten. Nicht konfliktfrei, jeder in seinem eigenen Dunstkreis, aber doch mit einem gewissen Respekt und vor allem Toleranz vor dem anderen. Es war einmal das Damaskus der Kindheit von Moussa Abadi, 1910 dort geborener Autor des autobiografischen Werks Die Königin und der Kalligraph, und auch ein Stück weit das des 1946 geborenen Schriftstellers Rafik Schami, der zu eben jenem Werk, das gerade in der Übersetzung von Gerhard Meier bei Manesse erschienen ist, ein ausführliches Nachwort beigesteuert hat. Im Jahr 1900 lebten ca. 11.000 Juden in Damaskus. Viele wanderten 1948 oder nach dem Sechstagekrieg 1967 aus. 1992 zählte man noch 4000 Juden in der Judengasse, 2019 waren es laut Rafik Schami nur noch 12. Heute erscheint ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Religionen utopischer als je. Aber es war einmal… Weiterlesen „Moussa Abadi – Die Königin und der Kalligraph“
Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht
Wie Inseln im Licht ist der zweite, auf zarte und leichte Art tief berührende Roman der 1987 geborenen Autorin Franziska Gänsler. Sie variiert darin auf überraschende Art ein bekanntes Erzählszenario.
Die Mutter der 27jährigen Ich-Erzählerin Zoey ist nach langer, quälender Erkrankung, während der sie aufopferungsvoll von ihrer Tochter gepflegt wurde, gestorben. Die junge Frau flieht regelrecht an den einzigen Ort, den sie sich für die Bestattung vorstellen kann: die französische Atlantikküste. Dort hat sie mit der Mutter und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Oda eine Weile gelebt, in der Erinnerung wunderschöne Kindheitssommer verbracht. Weiterlesen „Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht“
Jean-Marie Gustave Le Clézio – Bretonisches Lied
Der Franzose Jean-Marie Gustave Le Clézio veröffentlichte bisher mehr als 40 Bücher und erhielt 2008 den Nobelpreis für Literatur. Viele davon liegen auch in deutscher Übersetzung vor und doch habe ich das Gefühl, dass der Autor hierzulande nicht zu den ganz bekannten gehört. Auch ich habe ihn nach der Lektüre von Der Goldsucher, die schon viele Jahre zurückliegt (das muss eigentlich ziemlich bald nach der Veröffentlichung 1985 gewesen sein), aus den Augen verloren. Nun legt der Verlag Kiepenheuer und Witsch zwei neue Erzählungen von Jean-Marie Gustave Le Clézio in der Übersetzung von Uli Wittmann vor – Bretonisches Lied. Weiterlesen „Jean-Marie Gustave Le Clézio – Bretonisches Lied“
Roberto Camurri – Der Name seiner Mutter
Bücher über verlassene Kinder gibt es viele. Sind die Geschichten von abwesenden Vätern vielleicht etwas zahlreicher, so sind diejenigen, in denen die Mutter fehlt, oft verzweifelter. Besonders tragisch ist es meist, wenn nicht geklärt ist, warum die Eltern, der Vater oder eben die Mutter fort sind, was mit ihnen geschah, was vielleicht die Beweggründe für ihr Weggehen waren. Wenn in den Familien Schweigen herrscht. Ein solches Schweigen begleitet auch die Kindheit und Jugend des Protagonisten im neuen Roman von Roberto Camurri, Der Name seiner Mutter. Weiterlesen „Roberto Camurri – Der Name seiner Mutter“
Anuradha Roy – Der Garten meiner Mutter
„All the lieves we never lived“ – der Originaltitel des neuen Romans der Autorin Anuradha Roy Der Garten meiner Mutter – trifft es mal wieder viel genauer. Es geht in dem poetischen, bildstarken Text um die vielen ungelebten Leben, die Möglichkeiten und Abzweigungen, die zu Beginn offenstehen, das Gelingen und das Scheitern, um Einsamkeit und Sehnsucht. Weiterlesen „Anuradha Roy – Der Garten meiner Mutter“