Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort und sogar als eine Art Protagonist – das ist jetzt nicht unbedingt ganz neu. Bei der Lektüre von Bis wir Wald werden von Birgit Mattausch musste ich häufig an Karosh Tahas Beschreibung einer Krabbenwanderung denken. Und erst vor kurzem erschien der US-amerikanische Bestseller Kaninchenstall von Tess Gunty, der im gleichnamigen Wohnkomplex angesiedelt ist. Aberso unterschiedlich Häuser und darin lebende Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Romane. Meist sind es die eher einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die im Hochhaus wohnen, viele Migrant:innen und ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel, die die Annehmlichkeiten wie Aufzug, Ebenerdigkeit etc. zu schätzen wissen. Aber meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte. Weiterlesen „Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden“
Schlagwort: Migration
Viktor Funk – Bienenstich
„Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“, so beginnt der Debütroman von Viktor Funk und war auch so betitelt, als er 2017 im damals noch existierenden Frankfurter Größenwahn Verlag erschien. Der fast durchgehend namenlos bleibende Ich-Erzähler (erst ziemlich am Ende wird er mit Herr Bellen angesprochen) erzählt darin von seiner Jugend, der Emigration nach Deutschland, aber vor allem von seinen Beziehungen zu Frauen und seinem Jugendfreund Mark. Weiterlesen „Viktor Funk – Bienenstich“
Dinçer Güçyeter – Unser Deutschlandmärchen
Ein Debütroman, ein unabhängiger Kleinverlag, ein Autor, der gleichzeitig Verleger, Theatermacher, Schauspieler und Gabelstaplerfahrer ist und aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationserfahrung stammt – der Preis der Leipziger Buchmesse ging 2023 an Dinçer Güçyeter für seinen autobiografisch gefärbten Roman Unser Deutschlandmärchen. Auch wenn es darin um Güçyeters Familie und vor allem die Frauen in ihr geht, handelt es sich nicht um einen klassischen Familienroman. Der Lyriker Güçyeter, der 2022 für seinen Gedichtband Mein Prinz, ich bin das Ghetto den Peter-Huchel-Preis verliehen bekommen hat, webt ein äußerst vielfältiges Gewebe, in dem der zentrale Mutter-Sohn-Dialog zu einer Collage aus Gedichten, Prosatexten, Chören und Theaterszenen erweitert wird. Weiterlesen „Dinçer Güçyeter – Unser Deutschlandmärchen“
Susanne Gregor – Wir werden fliegen
Ein Geschwisterroman, eine Flucht- und Migrationsgeschichte, ein Text über das Fortgehen und (Nicht)Ankommen, über die Suche nach Identität, Zugehörigkeit und den eigenen Weg im Leben – all das vereint Susanne Gregor in ihrem neuen Roman Wir werden fliegen, der an ihr voriges Buch Das letzte rote Jahr anknüpft, sich aber auch ganz wunderbar ohne Vorwissen lesen lässt (ich habe vom Vorgänger auch erst nach dem Lesen erfahren). Weiterlesen „Susanne Gregor – Wir werden fliegen“
Bernardine Evaristo – Mr. Loverman
2019 erhielt die britische Autorin Bernardine Evaristo für ihren polyphonen, feministischen Roman „Girl, Woman, Other“ (dt. Mädchen, Frau etc.) den Booker Prize. Ausgezeichnet wurde sie, und das war etwas ganz besonderes, zusammen mit der großen kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood. Ein großartiges Duo, das auch ganz wunderbar zusammenpasste. 2022 folgte dann ihr Memoir Manifesto und nun erscheint ein etwas älterer Roman von Bernardine Evaristo, Mr. Loverman (2013). Weiterlesen „Bernardine Evaristo – Mr. Loverman“
Marc Sinan – Gleißendes Licht
Marc Sinan – Gleißendes Licht
„Er hätte ein großer Dichter des zwanzigsten Jahrhunders werden sollen, doch der Krieg kommt über die Menschen und nimmt sie sich, als stünden sie ihm genauso hilflos gegenüber wie dem Lauf der Gestirne. Dabei sind sie selbst der Krieg, und die Gestirne sind die Gestirne.“
Mit dem Gedicht eines unbekannten deutschen Grenadiers aus dem Schützengraben des Ersten Weltkriegs – aus dem Jahr 1915, jenem Jahr, in dem das osmanische Reich den Völkermord an den Armeniern verübte – beginnt der 1976 geborene Musiker und nun auch Autor Marc Sinan seinen an autobiografischen Parallelen ausgerichteten Roman Das gleißende Licht.
Wie sein Protagonist Kaan hat der Autor eine armenisch-türkische Mutter und einen deutschen Vater, ist in München aufgewachsen und ein großartiger Gitarrist und Komponist. Den ersten, fast die Hälfte des Buchs umfassenden Teil seines Buches widmet Sinan dem Heranwachsen Kaans, seinen inneren Kämpfen und der auch an familienbedingten Traumata scheiternden Beziehung zu seiner großen Jugendliebe Zizi. Um es gleich zu sagen, dieser Teil hat mich leider gar nicht angesprochen, und das liegt nur zum Teil an meiner generellen Skepsis Liebesgeschichten und aufopferungsvollen Frauengestalten gegenüber. Es dauert einfach zu lange, bis der Autor zum Kern seiner Geschichte und eben zu jenen Traumata in der Familie kommt, die auch im Klappentext angekündigt werden. Es lohnt aber unbedingt, dranzubleiben. In den Zeit- und Handlungsebenen sowie in den Orten hin und her springend, erzählt Marc Sinan dann eine große, tragische Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 20. Jahrhundert.
Eine Familie an der Schwarzmeerküste
Kaans Familie stammt aus Perşembe an der türkischen Schwarzmeerküste. Dorthin ist Kaan auch als Kind immer wieder gereist, um seine geliebte Großmutter, seine Anneanne Vahide und seinen Großvater Hüseyin zu besuchen. Was er bis zum Tod von Vahide 1999 nicht wusste, war, dass sie Armenierin war und ihre gesamte Familie im Genozid verloren hat. Das Drama ihrer Herkunft verließ sie nie.
„Als meine Mayrik mich verließ, verließ mich jede Gewissheit um die Bedingunglosigkeit des Seins.“
Bei türkischen Pflegeeltern aufgewachsen, heiratete sie den aufstrebenden Hüseyin, der von der Vertreibung und Ermordung der armenischen Bevölkerung insoweit profitierte, dass er große Haselnussplantagen aus deren Besitz günstig erwarb und sich ein großes Imperium aufbauen konnte. Dieses verlor er aber in den 1940er Jahren unrechtmäßig, die Familie lebte fortan bescheiden. Eines ihrer Kinder ist Nur, die Mutter von Kaan, die nach Deutschland ging und einen deutschen Mann heiratete. Nur bedeutet „Licht“ und dieses „heilige“ oder auch „gleißende“ Licht bildet ein sich durch das ganze Buch hindurchziehendes Motiv.
Musikalität
Die Arbeit mit Motiven, die starke Rhythmik und Melodiosität seines Textes zeigt den Musiker Sinan. Und so springt der Text, allerdings immer gut nachvollziehbar, zwischen den Jahren des Genozids, den 1940er Jahren, Kaans Kindheit in den 90ern, dem Tod Vahides 1999 und einer Gegenwartebene, die sogar in die Zukunft, den April 2023 weist, und enthüllt so Stück für Stück die Familiengeschichte und das große Schweigen über den Völkermord an den Armeniern. Das Schweigen der Täter, aber auch das der Opfer, das eine wirkliche Aufarbeitung verunmöglicht.
Hinzu kommt noch die mytische Erzählung um Tepegöz, einen Zyklop, der im Buch Dede Korkut vorkommt, einer berühmten epischen Geschichte der Oghuz-Türken. In dieser grauslichen Geschichte, die nicht nur der Großvater Kaan, sondern dieser auch seiner Tochter erzählt, geht es vorwiegend um Rachegelüste, die Kaan auch nicht ganz fremd sind und die in der Gegenwartsebene, in der sich Kaan in der vom Goethe-Institut geführten Künstlerakademie Villa Tarabaya in Instanbul befindet, einen seltsamen Höhepunkt erreichen.
„Schreib endlich die Geschichte auf, Kaan. Schreibe, damit du sie vergessen kannst. Denn nur im Vergessen besteht die Chance zu überleben.“
Marc Sinan hat sie für Kaan aufgeschrieben. Das verrutscht manchmal, etwa wenn eine Walin die „Gesänge“ von ertränkten armenischen Kindern nachahmt. Auch Passagen wie „Die Tränen stürzen aus seiner Seele, ohne zuvor das Herz zu befragen. Aber es sind nicht seine Tränen. Es ist das Meer der ungeweinten Tränen“ hätte das Lektorat besser nicht passieren lassen.
Insgesamt ist Das gleißende Licht“ von Marc Sinan aber ein gelungenes, bewegendes Debüt.
Beitragsbild: Perşembe – Ordu , by Zeynel Cebeci, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Marc Sinan – Gleißendes Licht
Rowohlt Buchverlag Januar 2023, gebunden, 272 Seiten, € 24,00
Najat El Hachmi – Am Montag werden sie uns lieben
Ein weiterer mit dem Nadal-Preis (2021) ausgezeichneter Roman stammt von der marrokanisch-spanischen Autorin Najat El Hachmi. Eindringlich und bewegend erzählt sie darin vom Aufwachsen junger Mädchen aus Migrantenfamilien weit vor den Toren Barcelonas. Zerrissen zwischen den autoritären Ansprüchen ihrer im unangetasteten Patriarchat sozialisierten Eltern und den modernen westlichen Lebensformen, die sie umgeben, suchen Naíma und ihre Freundinnen ihren Weg. Najat El Hachmi lässt sie hoffen, dass nach all den Anstrengungen, es richtig zu machen, sich selbst und sein Verhalten zu perfektionieren, dass dann endlich gilt Am Montag werden sie uns lieben. Weiterlesen „Najat El Hachmi – Am Montag werden sie uns lieben“
Abdulrazak Gurnah – Ferne Gestade
Nachdem sich der deutsche Literaturbetrieb im vergangenen Jahr nach der Verkündung des Literaturnobelpreises ausgiebig die Augen gerieben hat – Wer war denn nun schon wieder dieser Abdulrazak Gurnah? Nie gehört! – , sämtliche Bestände an übersetzten Werken desselben aus den Antiquariaten weggekauft waren – kein einziger Titel war aktuell lieferbar – , machte sich allmählich die Überzeugung breit, dass es vielleicht doch den Richtigen getroffen hat, dass da mehr als ein Kontinentproporz oder ein Originalitätswettrennen bei der Wahl der viel gescholtenen Schwedischen Akademie in Stockholm im Spiel war. Hin und wieder wurde noch an dem ersten neu aufgelegten Roman, Das verlorene Paradies (Original Paradiese, 1994, Shortlist Booker Prize) herumgemäkelt (von mir nicht). Jetzt dürfte aber spätestens mit Ferne Gestade (Original: By the sea, 2001, Longlist Booker Prize) klar sein, dass Abdulrazak Gurnah den Nobelpreis völlig verdient für seine literarische Qualität zugesprochen bekommen hat. Weiterlesen „Abdulrazak Gurnah – Ferne Gestade“
Laura Cwiertnia – Auf der Straße heißen wir anders
Aghet – der Völkermord an den Armeniern begann im April 1915, als hunderte namhafte armenische Schriftsteller und Intellektuelle aus Istanbul verschleppt wurden. Darauf folgend wurden die armenischen Soldaten aus dem Heer entlassen, später fast alle wehrfähigen Männer exekutiert und die gesamte restliche Bevölkerung, vor allem Alte, Frauen und Kinder, aus den armenischen Dörfern deportiert. Die Vertreibung der Armenier endete in Todesmärschen quer durch Anatolien oder in die syrischen Wüste: bis zu 1,5 Millionen Menschen liefen so in den Tod. Während die Türkei den Genozid immer noch leugnet, findet man mittlerweile immer häufiger Romane, die von der Enkel- und Urenkelgeneration verfasst wurden und die sich mit den Spuren, die die vor mehr als einhundert Jahren verübten Taten bei den Familien und Nachkommen hinterlassen haben, beschäftigen. 2019 etwa stand Katerina Poladjans Hier sind Löwen auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Laura Cwiertnia schreibt in ihrem Debüt Auf der Straße heißen wir anders über eine Familie mit armenischen Wurzeln. Weiterlesen „Laura Cwiertnia – Auf der Straße heißen wir anders“
Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
2021 stand Sasha Marianna Salzmann mit ihrem grandiosen Generationenroman Im Menschen muss alles herrlich sein auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Heute ist er aktueller denn je, denn der erste Teil davon ist bei in der Ostukraine beheimateten Russen angesiedelt. Vor allem die Frauen stehen hier im Mittelpunkt. Weiterlesen „Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein“