2025 ist ein Thomas- Mann-Jahr: Dem 150. Geburtstag am 6. Juni schließt sich im August sein 70 Todestag an. Anlass für viele Neuausgaben seiner Werke. Mit einer besonderen habe ich „mein“ Thomas-Mann-Jahr eingeläutet, nachdem ich seit Jahren nichts von ihm gelesen habe. Allzu schwer habe ich mich nach begeisternder Lektüre der Buddenbrocks und einiger Erzählungen mit dem Zauberberg getan. Zugegeben, ich stand auch der Person Thomas Man nicht ganz offen gegenüber. Arrogant, elitär, snobistisch und kühl, ja sogar reaktionär und unpolitisch – das war mein vorherrschendes Bild. Wie sehr ich mich besonders in den beiden letzten Punkten bei Thomas Mann geirrt habe, zeigt die Neuauflage von 59 Reden, die der Autor zwischen Oktober 1940 und Mai 1945 über abenteuerliche Wege aus seinem Exil in Kalifornien an Deutsche Hörer! gerichtet hat. Weiterlesen „Thomas Mann – Deutsche Hörer!“
Schlagwort: Nationalsozialismus
Elisabeth Reichart – Komm über den See
Komm über den See von Elisabeth Reichart erschien bereits 1988, wurde 2001 neu aufgelegt und macht nun zum dritten Mal einen Anlauf, Leser:innen zu gewinnen – als Neuerscheinung im Salzburger Otto Müller Verlag. Erzählt wird die Geschichte von Ruth Berger, deren Mutter nach dem „Anschluss“ von Österreich Widerstand leistete und daran zerbrach.
„Vor jeder Erinnerung das Wissen: Alle Sätze in dieses Gestern können nur Brücken zu Inseln sein, was sie verbinden, es bleibt für immer getrennt.“
Ruth ist ein Kriegskind und ohne Vater aufgewachsen. Eine ihrer frühesten Erinnerungen ist, wie die Mutter auf offener Straße von Gestapomännern verhaftet wurde. „Lauf weg!“ rief sie ihrer kleinen Tochter zu und diese schlug sich tatsachlich bis in ihr einsames Zuhause durch. Verbrachte die Tage und die Bombennächte zusammen mit ihren Puppen im Keller und wartete auf die Rückkehr der Mutter. Erst lange nach dem Krieg erfuhr sie, was damals wirklich passierte. Die Mutter blieb traumatisiert, schwieg wie so viele ihrer Generation. Nicht nur die Gesellschaft, auch der Vater wandte sich von der von der Folter und Internierung im KZ gezeichneten Frau ab.
„´Mich ekelt vor dir` – der Ekel war zu hören, wie ihr Weinen zu hören war, ihr nächtelanges Weinen.“
Die Lehrerin
Nun lebt Ruth als Geschichts-und Englischlehrerin nicht mehr in Wien, da sie dort keine Stelle erhielt, sondern in Gmunden im Salzkammergut. Dorthin hatte ihre Mutter Beziehungen, zum Beispiel zu einer gewissen Anna Zach. Es stellt sich heraus, das beide Frauen im Widerstand aktiv waren und die Mutter irgendwann gezwungen wurde, Anna zu verraten. Vor ihren Schulklassen möchte sie Anna als Zeitzeugin befragen, aber der Direktor der Privatschule, an der sie eine befristete Stelle erhielt, will davon nichts wissen. Wie reaktionär und geschichtsvergessen die damalige österreichische Schul- und Politiklandschaft gewesen sein muss, ist erschreckend. Ruth wird als Frau und als engagierte, fortschrittliche Lehrerin gnadenlos geschuriegelt. Eine von alten Männern beherrschte Welt lässt ihr wenig Raum. Die österreichische Provinz hängt weiterhin faschistischem Gedankengut an, wovon auf die öffentlichen Medien, z.B. der ORF betroffen sei.
„(…) nehme sich eben der freie ORF die Freiheit, auf die Arbeit eines freien Redakteurs über den Umgang eines freiheitlichen Politikers mit der nationalsozialistischen Vergangenheitt freiwillig zu verzichten.“
Elisabeth Reichart arbeitet in Komm über den See mit Rückerinnerungen, Assoziationen und Träumen und zahlreichen literarischen Querverweisen, immer wieder auf Wolfgang Borcharts „Draußen vor der Tür“, auf Adalbert Stifter, auf Sarah Kirsch, von deren Gedicht „Anziehung“ der Titel stammt.
Anziehung
Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um.
Der Mond versammelt Wolken im Kreis.
Das Eis auf dem See hat Risse und reibt
sich. Komm über den See.
Der Text macht es den Lesenden nicht leicht. Meine Lesehaltung schwankte stets von interessiert zu genervt zu fasziniert. Es ist einer der Texte, die man wohl ein zweites Mal lesen muss, um ihm nahe zu kommen. Ich hoffe, er findet diese Mal eine geneigte Leserschaft. Er hätte es verdient. Ist er doch teils so aktuell wie vor fast vierzg Jahren.
„Die Rechten breiten sich immer mehr und mehr aus. Soll alles wieder von vorne anfangen, nur in anderen Kleidern? Dass es diese Frauen gab, hier und überall, darauf kommt es doch an.“
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Elisabeth Reichart – Komm über den See
Otto-Müller-Verlag Februar 2025, 200 Seiten, kartonierter Pappband, € 25
Arno Frank – Ginsterburg
Ginsterburg – eine ganz durchschnittliche (fiktive) Kleinstadt in Deutschland, mit einer romantischen Altstadt, einem Provinzschlösschen am Wasser, einer englischen Parkanlage und den typischen mittelständischen Fabriken. Eine deutsche Stadt, wie sie landauf, landab existierten und von denen viele während des Bombenkriegs in den Jahren 1940 bis 1945 zerstört wurden. Ginsterburg in den Jahren 1935, 1940 und 1945 und seine Bewohner:innen stehen im neuen, gleichnamigen Roman von Arno Frank im Mittelpunkt. Den Alltag im Nationalsozialismus, die Veränderung einer Gesellschaft unter einer menschenverachtenden Diktatur, die Schritte, die zum vollständigen, auch moralischen Zusammenbruch einer Nation der „Dichter und Denker“ führte, beleuchtet der Wiesbadener Autor in seinem genau recherchierten Roman. In der Villa Clementine erzählte er im Februar über den Entstehungsprozess. Weiterlesen „Arno Frank – Ginsterburg“
Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre
Das Jahr 2024 habe ich mit einem Roman begonnen, der mich total begeistert hat und der dennoch bei den Nominierungen zu den „großen“ deutschen Buchpreisen völlig leer ausging. Absolut unverständlich, da Unsereins von Inger-Maria Mahlke wirklich von überragender Qualität war – klug, witzig, anspielungsreich, formal perfekt. Und auch 2025 habe ich mit einem Roman gestartet, der bisher noch nirgends nominiert war, obwohl er von ebenso großer Kunstfertigkeit ist – Monika Zeiner mit Villa Sternbald.
Auch sonst haben die beiden Romane etwas gemeinsam: sie erweisen dem Jubiläumsschriftsteller dieses Jahres, Thomas Mann, auf spielerische Weise ihre Referenz. Weiterlesen „Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“
Titti Marrone – Besser nichts wissen
Bei einem Verlagsnachmittag im September lernte ich die Autorin und Übersetzerin Klaudia Ruschkowski kennen. Passend zum diesjährigen Gastlandschwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse hat sie beim Verlagshaus Römerweg eine feine kleine Reihe mit italienischen Autorinnen herausgegeben, „Perlen“ genannt. Ich habe sie auf Instagram bereits gezeigt und vorgestellt, ein ausführlicher Bericht folgt auch hier bald. Bei diesem Treffen kam die Sprache auch auf einen bereits im vergangenen Jahr im S. Marix Verlag erschienenen Titel, den Klaudia übersetzt hat. Die bekannte italienische Journalistin und Autorin Titti Marrone hat ihr berührendes Buch über das Schicksal dreier jüdischer Kinder, die zusammen mit ihren Müttern aus Fiume (damals noch zu Italien gehörend, heute Rijeka) zunächst in das einzige italienische Konzentrationslager Risiera di San Sabba bei Triest und von dort nach Auschwitz deportiert wurden, „Besser nichts wissen“ (Original: „Meglio non sapere“, 2003) betitelt. Weiterlesen „Titti Marrone – Besser nichts wissen“
Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum
Der 85-jährige und mittlerweile schwer kranke Hark Bohm ist vor allem als Regisseur und Filmproduzent (zum Beispiel von Nordsee ist Mordsee oder Yasemin) bekannt, trat aber auch als Schauspieler auf und verfasste zahlreiche Drehbücher. Die nun erschienene Kindheitserinnerung Amrum lag auch zunächst als Drehbuch vor (und wird aktuell von Fatih Akin mit Diane Kruger verfilmt; voraussichtlicher Filmstart September 2025), zusammen mit dem Autor Philipp Winkler hat Hark Bohm daraus nun auch einen Roman gemacht. Meine vorurteilsbeladenen Bedenken wegen Doppelautorenschaft (die hier wegen des angegriffenen Gesundheitszustand Bohms nötig wurde) und dem Gedankenimpuls „schon wieder ein Schauspieler/Regisseur etc. der einen Roman schreiben will“, wurden gleich zu Anfang zerstreut. Amrum ist ein wunderbar leises, etwas wehmütiges, warmes Buch über eine Kindheit auf Amrum, die sicher vieles gemeinsam hat mit derjenigen des Autors. Weiterlesen „Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum“
Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
Wer war Magda Goebbels? Wer war diese Frau, die ihre Namen so oft wechselte wir ihre Identitäten, mal Magda Behrend, Friedländer, Ritschel, Quandt hieß und schließlich als Magda Goebbels so etwas wie die First Lady des Dritten Reichs darstellte. Die als uneheliche Tochter des Dienstmädchens Auguste Behrend mit gerade einmal neunzehn Jahren die Frau des reichen Industriellen Günther Quandt und Mutter seiner beiden Söhne wurde, der ältere von ihnen war gerade einmal sieben Jahre älter als seine Stiefmutter. Wie entwickelte sich aus der lebenslustigen, kulturell interessierten, ehrgeizigen, um Aufstieg bemühten jungen Frau, die ernsthaft darüber nachdachte, mit ihrer Jugendliebe Viktor Chaim Arlosoroff nach Palästina auszuwandern, einen jüdischen Stiefvater hatte und sich selbst als unpolitisch bezeichnete, die fanatische Hitleranhängerin, die kurz vor Kriegsende ihre sechs Kinder und dann sich selbst umbrachte? Nora Bossong geht dieser Frage in ihrem Roman Reichskanzlerplatz nach. Weiterlesen „Nora Bossong – Reichskanzlerplatz“
Uwe Wittstock – Marseille 1940
Nach Februar 33. Der Winter der Literatur beschäftigt sich Uwe Wittstock in seinem neuen erzählenden Sachbuch Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur mit einem weiteren Krisenjahr. Nachdem er in der typischen mosaikartigen Erzählweise die bedrohlichen Ereignisse unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme anhand verschiedener Autoren wie Joseph Roth, Alfred Döblin und Thomas Mann beleuchtet hat, verpackt er nun die tragischen Ereignisse nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 wieder in viele kleine Episoden, wieder ganz nah an den Personen, chronologisch fortschreitend, unglaublich dicht, detailliert und spannend. Quellen waren wieder vor allem Selbstzeugnisse von Schriftsteller:innen und anderen Kulturschaffenden, wie Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen und Erinnerungen. Weiterlesen „Uwe Wittstock – Marseille 1940“
Daniel Kehlmann – Lichtspiel
Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau – der deutsch-österreichische Stummfilm und seine Regisseure haben Weltruhm erlangt. Aber wer war der 1885 in Böhmen geborene Österreicher Georg Wilhelm Pabst, den Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman Lichtspiel im den Mittelpunkt stellt? Sein Name ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dabei gelten seine Arbeiten Die freudlose Gasse (mit Greta Garbo und Asta Nielsen) und Die Büchse der Pandora (mit Louise Brooks) als Meisterwerke und auch sein Antikriegs-Tonfilm Westfront 1918 erhielt einiges an Anerkennung, bevor er 1933 verboten wurde. Besonders sein Wirken im nationalsozialistischen Deutschland schadete später dem Ansehen Pabsts. Weiterlesen „Daniel Kehlmann – Lichtspiel“
Karen Gershon – Das Unterkind
Schon sehr früh fühlt sich die kleine Käthe Löwenthal (der Geburtsname von Karen Gershon) als das Unterkind der wohlhabenden jüdischen Familie aus Bielefeld. Die beiden Schwestern, die sehr bewunderte Anne und die vielgeliebte Lise sind zwei bzw. ein Jahr älter. Und schon seit jüngsten Jahren
„hetzt (sie) sich ab, physisch, aber auch im übertragenen Sinn, um ihre Schwestern einzuholen. Die Tatsache, dass es ihr nie gelang, hat sie wohl zu der Überzeugung gebracht, ein Unterkind zu sein, und das schon vor ihrem zehnten Lebensjahr, in dem die Nazis an die Macht kamen.“ Weiterlesen „Karen Gershon – Das Unterkind“