2019, Norwegen war Gastland der Frankfurter Buchmesse und es erschienen ungewohnt viele norwegische Bücher in deutscher Übersetzung, las ich Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger. Ich hatte den Autor auf der Messe kurz treffen dürfen und war sehr fasziniert von der persönlichen Geschichte, die er da vorstellte. In Form einer Enzyklopädie präsentierte er die Familiengeschichte seiner Frau Rikke während und kurz nach der deutschen Besatzungszeit 1940-45. Die Familie hat jüdische Wurzeln und musste nach Schweden fliehen, um zu überleben. Nach der Rückkehr lebten sie – zuerst unwissend – in der Folterzentrale eines der übelsten Kollaborateure Norwegens. In seinem neuen Roman Museum der Mörder und Lebensretter erzählt Simon Stranger davon unabhängig ein weiteres Kapitel der düsteren Vergangenheit Norwegens der Besatzungsjahre. Und auch dafür fand er wieder eine familiäre Grundlage.
Bei Recherchearbeiten zu der Familiengeschichte seiner Frau stieß der Autor auf eine ganz unglaubliche Geschichte: Die beiden norwegischen Fluchthelfer, die die Großmutter seiner Frau, Ellen Glott, und ihre Familie 1942 sicher und ohne Lohn über die Grenze nach Schweden brachten (und dies wohl unzählige Male zuvor und danach ebenso), töteten kurz davor ein jüdisches Ehepaar, das sie begleiten sollten, und versenkten ihre Leichen in einem See. Erst Monate später trieben die mit Steinen beschwerten Leichen an die Wasseroberfläche und wurden entdeckt. Auch die Täter wurden identifiziert, verhaftet und angeklagt. Nach dem Krieg wurden die beiden Täter allerdings freigesprochen. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? Und wie dazu, dass aus zigfachen Lebensrettern, Mitgliedern des norwegischen Widerstandes, die oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens arbeiteten, brutale Mörder eines älteren Ehepaars werden konnten?
Ein Museum der Erinnerungen
Simon Stranger baut auch seinen neuen Roman auf eine ganz besondere Weise auf. War es bei Vergesst unsere Namen nicht die enzyklopädische Ordnung der Stichworte von A-Z, bilden die einzelnen Kapitel dieses Mal die Räume eines Museums nach. In ihnen sind Museumsobjekte wie Zeitungsartikel, persönliche Gegenstände, Gerichtsakten, Fotos angeordnet, an denen entlang er die Geschichte der Flucht von Ellen parallel zur Geschichte des Ehepaars Rakel und Jacob Feldmann und ihrer Ermordung erzählt. Wie in einer literarischen Reportage verfolgen wir auch die Spurensuche des Autors, seine Recherchen, seine Zweifel, seine Mutmaßungen. Natürlich kann er nicht wissen, was die Beteiligten damals gedacht, gefühlt, gesagt haben. Er füllt dies mit Fiktion.
Die Geschichte, die er erzählt, ist spannend wie ein Krimi und führt anschaulich die Zerrissenheit Norwegens während der deutschen Besatzung vor Augen. Unter Ministerpräsident Vidkun Quisling von der Nasjonal Samling wurden die (vergleichweise sehr wenigen) norwegischen Juden und Jüdinnen verfolgt, an die Deutschen ausgeliefert und deportiert. Wenn ihnen nicht die Flucht nach Schweden gelang, so wie der Familie von Simon Strangers Ehefrau. Und auch eine passende Anekdote aus seiner eigenen Familie erzählt der Autor. Eine der Quellen, die er für seine Romane studiert hat, das üble Propagandawerk „Der Untermensch“ (Umennesket), wurde von der Druckerei seines Urgroßvaters Sigurd Wahl gedruckt. Nicht zuletzt hinterfragt Stranger sich und seine Nachforschungen immer wieder selbst.
„Wer wäre ich während des Krieges gewesen, der ich als Jugendlicher so aufgeschlossen war, so offen und empfänglich für große Ideen? Hätte ich zu jenen gehört, die sich von den Strömungen dieser Zeit mitreißen ließen?“
Formal, inhaltlich und stilistisch überzeugt Simon Stranger mit seinem Museum der Mörder und Lebensretter, das mit einer Vielzahl von Schwarz-Weiß-Fotos ergänzt wird, und erhält von mir eine klare Leseempfehlung.
Beitragsbild: Syltefjord CC0 via digitaltmuseum.org
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Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter
Übersetzt von Thorsten Alms
Hardcover, 368 Seiten, € 22,00