Nora Krug – Im Krieg

K. Nora Krug – Im Krieg

Seit dem 24. Februar kursiert der Begriff „Zeitenwende“. Und ja, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist vieles nicht mehr so, wie es war. Ein Angriffskrieg in Europa schien trotz sich mehrender Anzeichen, trotz der immer autoritäreren Züge des russischen Regimes unter Putin, trotz erstarkendem Nationalismus vor allem in Osteuropa einfach nicht denkbar. Gab es nach den Grauen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs doch ein entschiedenes Nie wieder! Nie wieder Judenhass, nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg! Die Europäische Union, die Vereinten Nationen und der Weltsicherheitsrat – die Welt schien ihre Lehren aus dem Tod von geschätzt 60 Millionen Menschen gezogen zu haben. Sie wuchs zusammen. So dachte man zumindest im Westen oder wollte daran glauben, ungeachtet der unzähligen Konflikte weltweit. Weiterlesen „Nora Krug – Im Krieg“

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Philosophenschiffe – es gab deren vermutlich mindestens fünf – fuhren im September und November 1922 von verschiedenen sowjetischen Häfen gen Westen. An Bord: missliebige Intellektuelle aus Wissenschaft und Kultur – Professoren, Studenten, Ärzte, Schriftsteller, Kunstschaffende und eben Philosophen. Diese von Lenin persönlich angeordneten Abschiebungen ins Ausland betrafen unbequeme und „verdächtige“ Personen der sowjetischen Intelligenzija, denen man nichts Konkretes vorwerfen konnte, derer man sich aber unbedingt entledigen wollte. Vermutlich ließen sich auch nicht alle Oppositionellen oder zumindest politisch unzuverlässigen Bürger klammheimlich liquidieren, so dass man einen anderen Weg suchte. Lenin sprach von einer „langzeitigen Säuberung Russlands“, Leo Trotzki von Ausweisungen, „da es keinen Anlass gab, sie zu erschießen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ Der großartige Fabulierer Michael Köhlmeier hat nun Das Philosophenschiff hinzuerfunden. Weiterlesen „Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff“

Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden

Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort und sogar als eine Art Protagonist – das ist jetzt nicht unbedingt ganz neu. Bei der Lektüre von Bis wir Wald werden von Birgit Mattausch musste ich häufig an Karosh Tahas Beschreibung einer Krabbenwanderung denken. Und erst vor kurzem erschien der US-amerikanische Bestseller Kaninchenstall von Tess Gunty, der im gleichnamigen Wohnkomplex angesiedelt ist. Aberso unterschiedlich Häuser und darin lebende Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Romane. Meist sind es die eher einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die im Hochhaus wohnen, viele Migrant:innen und ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel, die die Annehmlichkeiten wie Aufzug, Ebenerdigkeit etc. zu schätzen wissen. Aber meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte. Weiterlesen „Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden“

Sabrina Janesch – Sibir

Sibir – dieses Wort schreibt der von Demenz bedrohte Vater der Ich-Erzählerin Leila im neuem Roman von Sabrina Janesch in den Staub der Gartentischplatte, bezeichnenderweise in drei Sprachen: Deutsch, Russisch und Kasachisch. Drei Sprachen und drei Länder, die das Leben von Josef Ambacher geprägt haben. Seine Familie stammte aus Galizien, wohin die Vorfahren im 18. Jahrhundert aus dem Egerland eingewandert waren und wo sie sich eine Heimat aufgebaut hatten. Seit 1920 gehörten sie zu Polen, wurden 1939 von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt, eine Heimat, die aber plötzlich nicht mehr das Egerland, sondern der annektierte „Reichsgau Wartheland“ war. Hier verlebte der kleine Josef mit seinem Bruder und den Eltern eine schöne Kindheit. Bis die Wirren des blutigen 20. Jahrhundert die Familie erneut einholten. Weiterlesen „Sabrina Janesch – Sibir“

Sabine Huttel – Das russische Rätsel

Liane ist kein abenteuerlustiger Mensch. Die ein paar Jahre vor ihrem Ruhestand stehende Bilbliothekarin lebt eher ein Leben auf Sparflamme. Deshalb gleicht es einem Wunder, dass sie die Einladung ihres jungen Freundes G., ihn in Russland zu besuchen, um endlich einmal Licht in ein Familienereignis zu bringen, das Liane seit ihrer Kindheit belastet. Und so macht sie sich im neuen Roman von Sabine Huttel auf, Das russische Rätsel zu lösen. Weiterlesen „Sabine Huttel – Das russische Rätsel“

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

2021 stand Sasha Marianna Salzmann mit ihrem grandiosen Generationenroman Im Menschen muss alles herrlich sein auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Heute ist er aktueller denn je, denn der erste Teil davon ist bei in der Ostukraine beheimateten Russen angesiedelt. Vor allem die Frauen stehen hier im Mittelpunkt. Weiterlesen „Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein“

Yulia Marfutova – Der Himmel vor hundert Jahren

Mit Der Himmel vor hundert Jahren schreibt Yulia Marfutova einen ganz erstaunlichen Debütroman und erzählt mit einer ganz eigenen Sprache über einen kleinem, abgelegenen russischen Ort zu Beginn des russischen Bürgerkriegs 1918, der erfahren muss, dass auch hier eine neue Realität Einzug hält. Weiterlesen „Yulia Marfutova – Der Himmel vor hundert Jahren“

Natascha Wodin – Sie kam aus Mariupol

Natascha Wodin bei der Preisverleihung zum Leipziger Buchpreis 2017 für Sie kam aus Mariupol
By Amrei-Marie (Own work) CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Der diesjährige Preis der Leipziger Buchmesse ging an Natascha Wodin, in meinen Augen völlig zurecht, hat mich doch seit langem kein Buch mehr so durchgerüttelt und aufgewühlt wie „Sie kam aus Mariupol“.

Das Buch kreist um eine große Leerstelle in Wodins Leben – ihre Mutter. 1956, die Autorin war gerade zehn Jahre alt, die kleine Schwester vier, nahm sich diese das Leben, indem sie sich bei Forchheim in den Fluss Regnitz stürzte. Der Vater, ein dem Alkohol und der Gewalt zugeneigter Mann, kam mit den Kindern wohl allein nicht zu Rande. Man weiß es nicht nach Lektüre des Buches, denn das Buch ist keine Autobiografie, die Autorin nimmt sich sehr zurück, erzählt nur sehr am Rande über sich und dann völlig ohne Sentimentalität. Fakt ist (und das kann man in ihrer Biografie nachlesen), dass Natascha Wodin in einem katholischen Mädchenheim groß wurde. Über die Schwester, der das Buch gewidmet ist, erfährt man nichts weiter. Das Buch ist alles andere als eitel, selbstreferentiell oder voyeuristisch. Auch nur durch ihre Biografie erfährt man, dass auch Obdachlosigkeit und eine äußerst schwierige Ehe mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig zu Wodins Lebensweg gehörten. Weiterlesen „Natascha Wodin – Sie kam aus Mariupol“