Eine Erfolgsgeschichte: Zehn Jahre Gereon Rath. Mit Marlow veröffentlicht Volker Kutscher nunmehr seinen siebten Fall. Dazu die fulminante, wenn auch nicht ganz unumstrittene und vielleicht auch nicht ganz so erfolgreich wie erwartete Verfilmung Babylon Berlin. Wie auch immer man zu diese Filmfassung steht: Wenn man die Geschichte von ihrer Romanvorlage abstrahiert, vor allem die äußerst fragwürdige Gestaltung der Frauenfiguren Charlotte und Greta beiseite lässt, die eine oder andere willkürliche inhaltliche Veränderung verdaut und sich über die sehr actionlastige Umsetzung besonders des letzten Teils des Fernsehspektakels genug aufgeregt hat, bleiben doch diese grandiosen Bilder, die die Figuren Volker Kutschers wohl für immer mit denen der Verfilmung verschmelzen lassen, Gereon Rath mit Volker Bruch, Charlotte Ritter mit Liv Lisa Fries. Und im Hinterkopf läuft diese merkwürdige, hypnotische Melodie, „Zu Asche, zu Staub“.
Nun also der erste Rath-Fall nach Babylon Berlin, der erste, den Volker Kutscher nicht mehr bei Kiepenheuer & Witschveröffentlicht, sondern bei Piper : Marlow.
Das Personal ist freilich das altbekannte. Die Handlung ist mittlerweile im Jahr 1935 angekommen. Das Naziregime ist etabliert, die Gesellschaft hat sich ihm schon weitgehend angepasst. Es herrscht Alltag im Dritten Reich, die HJ marschiert, die SS hat sich gegen die SA durchgesetzt und zusammen mit Gestapa (ab 1936 Gestapo) und Sicherheitsdienst SD die Polizei weitgehend an den Rand gedrängt. Die Gleichschaltung ist im vollen Gange.
Es sind diese Entwicklungen in Deutschland, die Volker Kutschers Kriminalromane weit über das Genre hinausheben und zu einem, wenn auch nicht sehr tief gehenden, Zeitporträt machen. Gestartet mit dem „Nassen Fisch“ im Jahr 1928, soll es bis ins Jahr 1938 fortgesetzt werden. Nicht nur die Polizeiarbeit änderte sich in den erzählten Jahren grundlegend, auch das Berliner Nachtleben oder die Presselandschaft wurden völlig umgekrempelt. Am nachdrücklichsten waren aber vielleicht die Modifikationen in den Verhältnissen der Menschen untereinander. Hass, Misstrauen, Verachtung, Anpassung. Die Saat war gesät und ging erwartungsgemäß oft dort besonders gut auf, wo Idealismus und Begeisterungsfähigkeit noch besonders hell brennen, Charaktere und Weltanschauungen noch nicht so gefestigt sind, bei der Jugend. So erzählt Volker Kutscher in diesem Band auch, wie die nationalsozialistische Doktrin über die Kinder auch in Familien eingepflanzt wurde, die der ganzen „Hitlerei“ vielleicht eher skeptisch gegenüber standen. Wie Familien, aber auch Freundschaften, Kollegien dadurch zum Zerreißen gebracht wurden.
Gereon Rath selbst steht dem Regime durchaus kritisch, aber auch etwas naiv gegenüber. Zwar kann er dem „deutschen Gruß“ nichts abgewinnen, aber wenn er gefordert ist, hebt er eben den Arm. Mit dem Regime möchte er aber möglichst nichts zu tun haben. Und doch, als er, umringt von fanatisierten Massen, in Nürnberg beim Reichsparteitag dem Auftritt Adolf Hitlers beiwohnt, reißt es auch ihn mit, brüllt er, wie tausende Kehlen, „Heil!“, und erschrickt selbst darüber.
Nach Nürnberg führt ihn inoffiziell ein Fall, den er in Berlin bereits zu den Akten gelegt hat. Zu schnell zu den Akten gelegt, nachdem sein Versetzungsantrag zum LKA erfolgreich und seine Tage bei der Mordkommission unter Kriminaldirektor Ernst Gennat, dem „Buddha“, gezählt waren. Die Akte „Gerhard Brunner“ soll möglichst schnell geschlossen werden, jener tödliche Verkehrsunfall, bei dem der Fahrer einer „Kraftdroschke“, Otto Lehmann, mit seinem Fahrgast gegen eine Mauer der Yorckbrücken raste, zunächst aus unerklärlichen Gründen. Später stellt sich heraus, dass Otto Lehmann unter einem aggressiven Hirntumor, einem Glioblastom, litt, was die Fehlreaktion des Taxifahrers erklären könnte. Dass der SS-Mann Brunner unter ganz anderem Namen von einer Dame als vermisst gemeldet wurde, wird mit Heiratsschwindelei erklärt. Von den äußerst brisanten Akten, die Rath im Wrack des Taxis gefunden und spontan an sich genommen hat, weiß zunächst niemand. Die waren nämlich selbst Rath zu heiß. Um geheime Nachforschungen des SDs in Sachen Reichsminister Hermann Göring ging es dort. Um sie schnellstens wieder los zu werden, schickte Rath sie einfach weiter an den ursprünglichen Adressaten. Eben in die Nähe von Nürnberg.
Dorthin ist auch Fritze, Gereons und Charlys Pflegesohn, unterwegs. Seine HJ-Abteilung marschiert quer durch Deutschland zum Reichsparteitag. Fritze ist zu Charlys großem Leidwesen glühender Anhänger der Nationalsozialisten. Etwas, wodurch es zwischen den beiden immer wieder zu Spannungen kommt. Gereon, der durch den Exkollegen und jetzigen Privatermittler Böhm auf Ungereimtheiten im Fall Brunner hingewiesen wird, die auch mit Charlys Vergangenheit zu tun haben, nimmt einen Besuch bei Fritze in Nürnberg zum Vorwand, um doch noch an die Akten aus dem Taxi zu gelangen.
Der Fall in Marlow ist komplex und verwickelt, wird von Volker Kutscher aber schlüssig aufgerollt. Dabei kommen Fakten aus dem dieses Jahr veröffentlichten Prequel der Serie, Moabit, zum Tragen, was ich sehr schön fand. Volker Kutscher betont darin auch von der Verfilmung veränderte Details, wie die Vorgeschichte von Charlotte Ritter und Greta Overbeck, augenzwinkernd nimmt er auch Bezug auf die Showtanzszenen von Gereon, indem er ihn erwähnen lässt, was für ein schlechter Tänzer er sei. Außerdem knüpft er auch an das damalige Verbrechen an.
Kutscher lässt sich für die Handlung und seine Figuren wohltuend Zeit, manchmal ist er direkt detailversessen, beispielsweise bei der Nennung diverser Zigarettenmarken. Hin und wieder versteigt er sich in zu häufige gedankliche Zusammenfassungen des Geschehens (damit es auch jeder versteht), generell ist die Leserin immer ein klein wenig klüger als das Erzählte. Insgesamt ist die Krimihandlung aber spannend und solide.
Eine in vier Einschüben erzählte Parallelhandlung, „Eine andere Geschichte“, führt zurück in die Jahre 1918 bis 1926 und erzählt die Geschichte von Johann Marlow, Titelgeber, Unterweltkönig und Gereons Widersacher. Durch diese Geschichte werden auch die Hintergründe des Todes von Charlys Vater in „Moabit“ deutlich.
Eine Stärke der Rath-Romane ist sicherlich auch ihre facettenreiche, genaue Personenzeichnung. Da ist niemand nur schwarz oder weiß, alle Charaktere haben ihre Schattenseiten und Widersprüche, aber auch ihre jeweilige Geschichte dazu. Und das gilt eben für Marlow und seine kriminellen Genossen ebenso wie für stramme Nationalsozialisten. Auch Gereon Rath ist ja alles andere als ein strahlender Held.
Dies und die interessante, detailgenaue und authentische Gestaltung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds machen den großen Reiz der Kriminalromane Volker Kutschers aus. Und so darf man auch auf die nächsten drei Bände sehr gespannt sein.
Eine zeitlich ähnlich angesiedelte Krimi-Reihe hat auch Angelika Felenda (mit z.B. Wintergewitter ) veröffentlicht
Beitragsbild: Berlin Brandenburger Tor by Bundesarchiv, B 145 Bild-P049267 / Weinrother, Carl / CC-BY-SA 3.0
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Volker Kutscher – Marlow
Piper Oktober 2018, 528 Seiten, Hardcover, € 24,00