Marjaleena Lembcke – Wir bleiben nicht lange
Was ist eine glückliche Familie und welchen Einfluss hat sie auf unser Leben? Wie beeinflusst sie, welche Art von Beziehung wir zu anderen und uns selbst schaffen?
Manche Familien sind vom Glück begünstigt, segeln wie unter einem guten Stern, andere müssen einen Schicksalsschlag nach dem anderen verkraften, eine Niederlage nach der anderen einstecken.
Zu letzteren gehört die Familie von Sisko und Mirja, finnischen Schwester, die schon früh ihre Mutter verlieren. Diese war von Depressionen gefangen, ging eines Tages fort, um sich vor einen Zug zu werfen. Ein Ereignis, das natürlich alles veränderte. Der Vater zog die Geschwister, neben Sisko und Mirja gab es noch vier Brüder, alleine groß, wurde aber auch nicht alt. Einer der Brüder starb ebenfalls recht früh, ein Neffe nahm sich das Leben. Mirja überstand eine Tumorerkrankung im Mund, nun hat der Krebs bei der jüngeren Schwester zugeschlagen. Die Schwestern sind um die fünfzig und haben trotz ihrer verschiedenen Lebensmittelpunkte ein sehr enges Verhältnis zueinander.
Denn alle Geschwister hat es hinaus in die Welt verschlagen, fort von Finnland und ihrer unglücklichen Kindheit. Sie leben in Schweden, Deutschland oder London, so ganz glücklich und zufrieden sind sie dort aber augenscheinlich nicht. Es scheint als ob die Heimatlosigkeit und Ungeborgenheit, in die sie durch den Tod der Mutter geraten sind, auch die Erwachsenen immer noch umtreibt.
Mirja lebt dabei in einer intakten Familie und Ehe in Berlin. Die vielen bösartigen Spitzen gegen ihren Wohnort und die Deutschen zeigen aber, dass sie sich dort nicht ganz heimisch fühlt.
Sisko hat ihr Glück in London gesucht, mehrere gescheiterte Beziehungen und zwei Ehen hinter sich, ist Mutter einer Tochter und zur Zeit verheiratet mit Stephan. Nun hat sie die Endphase ihrer Krankheit erreicht, die Metastasen sitzen überall. Ihre Schwester soll ihr beim Sterben beistehen.
Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit kommen hoch, letzte Dinge werden besprochen. Dabei liegt der Scherpunkt auf Mirja, wandert aber auch zu Sisko selbst. Diese blickt recht bitter, mit bösem Humor zuweilen, ist manchmal überraschend gefasst und begehrt dann doch auf. Sie will nicht sterben, kann ihre Angst nicht verbergen. Etwas anderes als pausenlos zu rauchen und Unmengen Bier und Wodka zu trinken, die Morphindosen zu erhöhen und sich im Zimmer einer Londoner Nobelklinik zu verschanzen fällt ihr aber auch nicht ein.
Den Umgang Siskos mit ihrem Sterben und den letzten verbleibenden Tagen oder Wochen kann man als Leser kaum ertragen, versteht auch ihre Umgebung nicht. Allesamt problematische Charaktere, wirklich sympathisch sind sie nicht. Oder ist einfach die finnische Mentalität eine andere? Da das im Buch hin und wieder angesprochen wird, liegt die Vermutung nahe.
Was überrascht ist, dass Marjaleena Lembcke es dennoch schafft, dem Leser diese Menschen nahe zu bringen, dass er Anteil nimmt und bis zum Schluss in Spannung bleibt. Siskos Sterben wird völlig unlarmoyant, sehr realistisch, fast sachlich geschildert und geht doch unglaublich nah. Und wer mag wissen oder entscheiden, wie es wirklich geht, das Sterben?
Marjaleena Lembcke – Wir Bleiben Nicht Lange