Es ist eine erschütternde Geschichte, die leider so oder ähnlich tagtäglich irgendwo auf der Welt passiert – das UNHCR spricht aktuell von fast 120 Millionen Vertriebenen weltweit, 47 Millionen davon sind Kinder, viele davon sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Aber ist es auch „Eine wahre Geschichte“, wie der Verlag auf dem Buchcover verkündet, die der 1990 in El Salvador geborene und nun in den USA lebende Lyriker Javier Zamora in seinem ersten Prosawerk Solito erzählt? In der Kritik wurde das schon bemängelt, denn wir „wahr“ kann eine Geschichte sein, die auf über 20 Jahre zurückliegenden Erlebnissen eines Kindes beruhen? Bitteren, bestürzenden, traumatisierenden Erlebnissen, die Zamora erst nach einer Psychotherapie zu Papier bringen konnte. Ich denke, dieser Einwand ist ein wenig müßig. Im Original wird Solito ein „memoir“ genannt. Eine zwischen Autobiografie und Autofiktion changierende Gattungsbezeichnung. Und jeder weiß ja, wie Erinnerungen beim Erzählen und Rekapitulieren immer wieder umgeformt werden. Und deshalb nicht weniger wahr werden.
Ein Kind allein
Javier Zamora war neun, als seine Eltern, die Jahre zuvor vor den Todesschwadronen des Bürgerkrieges in El Salvador in die USA geflohen sind, endlich genug Geld zusammen hatten, um ihren Sohn illegal nach Kalifornien nachkommen zu lassen. Sie selbst lebten wohl ohne Papiere – die Mutter war vier Jahre zuvor auch durch Schleuser dorthin gelangt. Jedenfalls war ein offizieller Weg wohl nicht machbar. Javier, der bis dahin bei seinen Großeltern gelebt hat, ist voller Sehnsucht nach seinen Eltern und voller Vorfreude auf „LaUSA“. Trotzdem mit einem etwas mulmigen Gefühl lässt er sich von seinem Großvater auf langen Busfahrten durch Guatemala hindurch bis an die mexikanische Grenze begleiten. Hier ist für den alten Mann Schluss, besitzen beide doch kein Visum für Mexiko.
Nun beginnt der riskante Abschnitt der Reise. Mit Booten wird eine ca. 50 Personen starke Gruppe zur Flucht bereiter Menschen von Ocós aus nach Mexiko verbracht. Alles geht gut, auch wenn die See rau ist und kaum jemand an Bord schwimmen kann. Es wechseln sich danach lange Busfahrten, endloses Warten in schäbigen Motels, Willkür, Gewalt und Korruption der mexikanischen Polizei ab. Javier und der kleinen Gruppe, der er sich angeschlossen hat – Patricia und ihre Tochter Carla, Chino, Marcelo und Chele – gelingt es, mit gefälschten mexikanischen Papieren an die Grenze zu den USA zu gelangen. Javier freut sich, schon bald seine Eltern umarmen zu können.
Flucht durch die Wüste
Doch tatsächlich beginnt hier der schlimmste Teil seiner Odyssee. Schon lange nennt sich der kleine Javier Zamora heimlich „Solito“, der Einsame. Auch wenn ihm von seiner neuen Familie auf Zeit unglaubliche Solidarität und Unterstützung zuteilwird. Endlose Wüste, Hitze, Kälte, Durst, Dornengestrüpp und Kakteen, mörderische Wegstrecken, die zu Fuß bewältigt werden müssen, Helikopter, die die Flüchtenden jagen, die Migrationspolizei und ihre Hunde – so mancher der von mehr oder weniger zuverlässigen Schleusern, den „Kojoten“, Geführten verschwindet, wird zurückgelassen, dem fast sicheren Tod ausgesetzt. Es ist erschütternd zu lesen, was die Menschen durchmachen müssen. Und mittendrin der kleine neunjährige Javier.
Zweimal werden Javier und seine kleine Gruppe erwischt und wieder zurückgeschickt. Fast zehn Wochen ist er insgesamt unterwegs und hat dabei Dinge gesehen und erlebt, die kein Kind erleben oder sehen sollte. Javier Zamoras Geschichte ist aufrüttelnd und gerade heute – seit 2012 steigt die Zahl der Vertriebenen jährlich – so aktuell und wichtig wie nie zuvor.
Literarisch ist das Buch leider weniger gelungen. Zamora erzählt zu detailreich, minutiös, oft redundant – was vielleicht der endlosen Odyssee, von der erzählt wird entspricht, das Lesen der 496 Seiten oft aber auch mühsam macht. Die extrem häufig eingestreuten Spanisch-Brocken oder –sätze, deren Verwendung keinerlei Notwendigkeit oder Mehrwert hat (warum statt „auch“ permanent „también“, statt „du“ „vos“ etc., etc.) verschärfen das noch.
Inhaltlich also ein wichtiges, ein bereicherndes, ein erschütterndes Buch, sprachlich eher mühsam zu lesen. Es bleibt ein gespaltener Eindruck.
Beitragsbild Grenze bei Tijuan by Allie_Caulfield CC BY 2.0 via flickr
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Javier Zamora – Solito Verlag:
Übersetzt von: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Kiepenheuer&Witsch Juli 2024, gebunden, 496 Seiten, € 26,00
Ich bin absolut begeistert von ‚Solito‘ von Javier Zamora! Seine kraftvolle Erzählweise und die eindringlichen Beschreibungen nehmen einen auf eine emotionale Reise, die den Leser tief berührt. Zamoras Fähigkeit, komplexe Themen wie Identität und Migration auf so einfühlsame Weise zu behandeln, macht dieses Buch zu einem Muss. Es regt nicht nur zum Nachdenken an, sondern schafft auch eine wichtige Verbindung zu den Herausforderungen, mit denen viele konfrontiert sind. Ein Meisterwerk, das sowohl berührt als auch inspiriert!