Wenn man nicht wüsste, was für ein verschmitzter, kluger Autor Saša Stanišić ist, könnte man sich fast ein wenig ärgern, über den unangenehm langen, prätentiösen Titel – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Marketingtechnisch war er wohl ein Erfolg, wurde doch schon bald kundgetan „längster Buchtitel der Literaturgeschichte“ und wurden doch gleich etliche Challenges in den sozialen Medien gestartet, „Wer kann den Titel auswendig ohne Fehler aufsagen?“ Aber da Saša Stanišić eben ein verschmitzter, kluger und verspielter Autor ist, könnte es gut sein, dass er auch darüber grinst und sich freut. Sein Buch aber hat diesen aufsehenerregenden Titel nicht nötig – es ist bereits inhaltlich und sprachlich grandios.
Zwölf Geschichten
Die zwölf zunächst – wenn überhaupt – lose miteinander verknüpften Geschichten, die man, der Weisung des Autors tunlichst folgend, unbedingt der Reihe nach lesen sollte, beginnen im Sommer 1994. Vier Freunde, Einwandererjungs aus der einst von der Neuen Heimat wohlwollend geplanten, sich dann aber schnell zu einem sogenannten sozialen Brennpunkt entwickelnden Betonsiedlung Emmertsgrund in Heidelberg, vertreiben sich ihre Zeit im benachbarten Weinberg des Königstuhls. Fatih, Piero, Nico – die Freunde nehmen den aus der DDR stammenden Nico großzügig in ihre Migrantenrunde auf, schon wegen seiner alleinerziehenden Mutter mit den zwei Jobs – und Saša. Damit dürfte klar sein, dass sich das jeder Gattungsbezeichnung enthaltende Buch eng an Autobiografisches anlehnt. Aber natürlich spielt der Autor auch hier damit.
Fatih, Piero, Nico und Saša sind qua Herkunft wenig begünstigt. Sašas Familie ist vor dem Krieg aus Sarajevo geflohen, die traumatischen Erinnerungen sitzen ihm noch im Nacken. Geldmangel, Ausgrenzung, drohende Abschiebung und Alltagsrassismus sind aber auch seinen Freunden nicht unbekannt. Fatih hat da eine Idee. „Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe?“ Zehn Minuten aus der Zukunft anschauen, und dann entscheiden. Nehme ich oder eben nicht. Eine tolle Idee, auch wenn die vier für sich eher eine „Kackzukunft“ erwarten. Aber vielleicht strengt man sich ja an, wenn man mal zehn schöne Minuten erspähen kann.
„Und dass jemand, auch so jemand wie wir, niemals gute zehn Minuten erleben wird, das kann einfach nicht sein. Für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät.“
Für solche Sätze, kunstvoll leicht und gleichzeitig weise, liebt man den Erzähler Saša Stanišić. Die Erzählung von den vier Jungs im Weinberg, die dann noch über ihre Urlaubspläne sprechen, wobei Saša eine Reise nach Helgoland vorschwindelt, die sich seine Eltern gar nicht leisten können, wird später zu einer der Rahmenerzählungen. Und sowohl der Proberaum als auch Helgoland sind später noch von Bedeutung. Das ahnt man zu Beginn nicht, es gehört aber zu Saša Stanišićs kunstvoller Konstruktion, die auch die Lesenden immer wieder direkt anspricht.
Lebensentwürfe
Dazwischen geht es um eine türkische Reinigungskraft – die Mutter von Fatih -, für die kurz die Zeit (oder ihr Herz?) stehen bleibt, in der sie die Möglichkeit alternativer Lebensentwürfe erhält und vielleicht ein wenig Freiheit. Und um den Juristen Georg Horvath, der als junger Vater nichts lieber tut als Pokémon GO zu spielen und der später nicht nur an der Mülltrennung verzweifelt, sondern vor allem daran, dass ihn sein nun Achtjähriger ständig im Piraten-Memory besiegt.
„Er hat inzwischen eine Doku gesehen, in der ein sympathisch aussehender Fisch an Plastik erstickt, und will es seitdem richtig machen mit dem Müll, zum Beispiel jetzt mit dem Piraten-Memory. Er steht vor den Mülltonnen und findet allerdings, es existieren einfach zu viele komplexe Verknüpfungen und unklare Beschichtungen. Ein bisschen wie im Familienalltag. Es ist schlicht unmöglich, all den Bedürfnissen, den geheimen Sehnsüchten, Reginas und Pauls und dreierlei Serienvorlieben zu entsprechen, obwohl man bei Paul mit Peppa Wutz immer richtigliegt.“
Es geht ferner um eine Doppelkopfrunde, aber natürlich auch hier nicht nur. Es wird existentiell:
„Zum Doppelkopf trifft du dich, weil du beim Doppelkopf nicht spürst, dass die Zeit existiert. … Beim Doppelkopf spürst du weder das harte Tuch, aus dem die Vergangenheit gewebt ist, noch hörst du die Sorgen aus der Zukunft deinen Namen rufen. Doppelkopf ist eine Dimension, in der niemand fragt: ‚Was hast du noch vor? ‘“
Und es geht eben um die Witwe Gisel, die das Grab ihres Mannes pflegt und darüber nachdenkt, ob sie wieder bereit ist für eine neue Beziehung oder überhaupt für Kontakt, denn sie ist sehr einsam Und platziert man nicht, möchte die Witwe angesprochen werden, die Gießkanne auf dem Grab mit dem Ausguss nach vorne?
Metafiktion und Verspieltheit
Die metafiktionalste, verspielteste Geschichte spielt wiederum auf Helgoland, wohin der Erzähler Saša 2023 reist und wo er beschuldigt wird, 1994 ein Kneipenschild geklaut zu haben. 1994? Das Jahr in dem sich der pubertierende Saša auf die Insel geflunkert hat, stattdessen seine Ferienwochen mit Unmengen an Büchern auf einem einsamen Hochsitz im Wald verbracht hat. Die Literatur – nicht nur ein Möglichkeitsraum für tausend alternative Leben, sondern ganz konkret Trost und Rettung vor den Zumutungen des Lebens. Der Saša des Jahres 2023 ist sich aber bewusst, nur der Erzähler zu sein in einem Buch des Autors Saša Stanišić. Und beginnt sogleich, seinen Unmut über die Entwicklung der Geschichte kundzutun. Und sogar mit dem Lektor des Textes zu verhandeln.
Die Geschichten von Saša Stanišić in Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne sprühen vor Einfällen. Sie sind traurig und lustig, verspielt und weise, zart und menschlich. Aber sie sind auch existentiell, philosophisch und politisch. Sie kreisen, wie die Bücher des Autors eigentlich immer, um Herkunft, Zugehörigkeit, Identität und ganz besonders um Freundschaft. Worauf basiert sie? Warum ist sie so wichtig für uns?
Wie die Geschichten dann letztendlich zusammengeführt werden, soll hier nicht verraten werden. Es ist so charmant und genial wie das ganze Buch. Aber aufpassen: „Bitte der Reihe nach lesen.“
Beitragsbild: Usien, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
_____________________________________________________
*Werbung*
Saša Stanišić – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Luchterhand Mai 2005, Hardcover, 256 Seiten, € 24,00