Dreimal drei Frauen bevölkern die drei Abschnitte im neuen Roman von Julia Wolf, Alte Mädchen, der zwar völlig unabhängig, von der Autorin aber als abschließender Teil einer Trilogie (Alles ist jetzt -2015, Walter Nowak bleibt liegen – 2017) gedacht ist.
Die drei Marjellchen
Zunächst führt uns Julia Wolf in ein Seniorenheim, in dem die drei „Marjellchen“ Anni, Else und Hannelore, alle drei weit über neunzig, ihren Lebensabend verbringen. Der Einstieg ins Buch ist nicht ganz leicht. Stakkatohaft, zersplittert, sprunghaft und immer wieder abbrechend erzählt hier eine kollektive Erzählstimme, ein „wir“, das man den drei alten Damen zuordnen kann. Oder einer ganzen Frauengeneration. Denn vieles ist hier exemplarisch. Sie schauen abends Heidi Klums „Germany´s Next Topmodel“ und träumen selbst von ihrer Rolle in einem Werbefilm für ihr Seniorenheim. Sie sehnen sich nach Berührungen, flirten mit den männlichen Pflegern, ärgern sich über die weiblichen, die „Trixies“, geben bissige Kommentare ab und werden immer wieder von Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend überspült. Erinnerungen an eine Kindheit im Nationalsozialismus, an den Krieg, eine Flucht, den Untergang eines Flüchtlingsschiffs, vielleicht der Wilhelm Gustloff, in eisigem Meer. Erinnerungen, die die drei Marjellchen und mit ihnen viele Frauen ihrer Generation teilen. Schreckliche Erinnerungen. Das Mitgefühl mit Anni, Else und Hannelore wird aber immer wieder durchbrochen durch die ewig gestrigen Gedanken, die sie haben, durch die Biestigkeit und Intoleranz, die sie oft zeigen.
Neue Heimat, altes Haus
Das zweite Trio besteht aus der Töchtergeneration. Die Schwestern Gerlinde und Gudrun haben gerade ihre „Mutti“ begraben, die einiges mit den drei Marjellchen gemeinsam gehabt zu haben scheint. Manipulativ, autoritär und besitzergreifend beherrscht sie das Leben ihrer Töchter, die selbst schon auf die Sechzig zugehen, immer noch. Diese sind aktuell auf der Autobahn unterwegs nach Polen, wohin sie Ola, die Pflegerin der Mutter, bringen. Julia Wolf gestaltet diesen Teil als eine lange Sprachnachricht an Gerlindes Tochter Tini, die die Brücken nach Deutschland und zu ihrer Familie abgebrochen hat und in Kambodscha lebt und arbeitet. Meist spricht Gudrun in dieses Off hinein, einmal meldet sich auch Gerlinde. Tini, die schmerzende Leerstelle, Kind einer zerbrochenen Ehe, Nachfahrin transgenerational vererbter Traumata, antwortet nicht. Auch hier spürt man die Lasten der deutschen Geschichte, das Erbe autoritärer Erziehung.
MILF
Der dritte und letzte Teil stellt drei Freundinnen um die Dreißig in den Mittelpunkt, drei Kindheitsfreundinnen, die sich noch einmal treffen wollen, bevor eine von ihnen, Jenny, ihr Kind zur Welt bringen wird. Jenny, die eigentlich auf Frauen steht, beherbergt ihre Freundinnen Thao und Undine und zusätzlich, ungeplant, die Tochter einer anderen Freundin, die gerade an einer schweren Depression leidet. Das Mädchen Kay bekommt hier die Ich-Perspektive, die aber häufig und fluide mit den anderen, personalen Perspektiven wechselt. Thao, die äußerst erfolgreiche Juristin, hat sich ein Pferd gekauft, vielleicht als Kompensation dafür, dass ihr Freund Peter sich nicht von seiner Frau trennen will. Undine ist als Grafikerin frisch arbeitslos und flüchtet sich in ständig wechselnde Affären und den Alkohol. Mit Kays Großmutter Rose, die vor den Nazis nach Amerika fliehen musste, spielt auch hier die deutsche Vergangenheit hinein.
Julia Wolf tippt in Alte Mädchen viele verschiedene Themen an, ohne dass das Buch dadurch überfrachtet erscheint. Sie bietet den Leser:innen viel Raum für eigene Gedanken und Assoziationen und sicher würde man bei einer wiederholten Lektüre noch mehr Aspekte entdecken. Formal ist das Buch durchaus anspruchsvoll. Besonders der Einstieg fordert ein wenig, aber zeigt sich dann als äußerst stimmig. Der zweite Teil als Familiengeschichte in Form einer Sprachnachricht ist großartig. Und der letzte Abschnitt ist erneut anders gestaltet. Die Sprache wechselt mit Form und Protagonisten, ist experimentell, aber dennoch gut lesbar.
Preisgekrönt
Die 1980 geborene Julia Wolf schafft mit Alte Mädchen ein Panorama deutscher Weiblichkeit mit nicht ganz untypischen Vertreterinnen dreier Generationen. Bei aller Schwere der Themen ist der Roman dennoch auch leicht, ironisch und mit viel Humor. Dabei spürt man stets die Nähe und Zuneigung der Autorin zu ihren nicht immer ganz sympathischen Figuren. Die Last der deutschen Geschichte ist bei allen, in natürlich unterschiedlicher Form, spürbar. Sie alle kämpfen mit dem großen Problem des Schweigens in den Familien. Sie alle sind sich aber dennoch irgendwie nah. Ein Roman, der noch lange nachhallt. Und für dessen Manuskript Julia Wolf 2018 den Robert-Gernhardt-Preis und – ganz frisch – den Licher Literaturpreis erhielt.
Hörbuch produziert von hr2 Kultur
hr2 Kultur hat mit Sprecherin Melanie Straub aus Alte Mädchen ein Hörbuch produziert, das noch bis 12. November in der ARD-Mediathek ungekürzt und kostenlos nachgehört werden kann. Anders als bei vielen aktuellen Produktionen hat man sich hier nicht für unterschiedliche Sprecher:innen entschieden. Alle drei Teile werden von Melanie Straub gelesen. Das funktioniert sehr gut. Ihre warme, leicht spröde Stimme verleiht allen einen jeweils eigenen Ton ohne das zu forcieren. Das leicht Aggressive von Tante Gudrun am Telefon, das mit fortschreitender Erzählung weicher, trauriger wird; der stakkatohafte Rhythmus des ersten Teils; die drei Freundinnen und ihre jeweils andere Art, dem Leben zu begegnen; die junge Kay – Melanie Schaub gibt allen einen überzeugenden Ton. Reinhören lohnt sich!
Regie: Marlene Breuer
Technik: Josuel Theegarten
Besetzung: Heike Oehlschlägel
Assistenz: Sara Glahe
Redaktion: Marit Zickermann & Julika Tillmanns
Produktion hr2 Kultur
Beitragsbild Drei Generationen by Stefan Jürgensen (CC BY-NC-ND 2.0) via flickr
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Julia Wolf – Alte Mädchen
Frankfurter Verlagsanstalt September 2022, Hardcover, 288 Seiten, € 24,00