Rita Bullwinkel – Schlaglicht

Es gibt weniges, das mich weniger interessiert als der Boxsport. Überhaupt kann ich mich für Sportthemen oder Sportromane selten begeistern. Wenn es einem Roman also gelingt, mich über mehr als 200 Seiten zu fesseln, obwohl ich keinerlei Interesse an seinem Hauptsujet besitze, dann spricht das sehr für dessen Qualität. Mir ist das tatsächlich vor längerer Zeit schon einmal passiert. Da ging es um Motorsport, tatsächlich etwas das ich noch abseitiger finde als Boxen. Der Roman hieß „Boxenstopp“ und war von Christiane Neudecker. Sie ist die Übersetzerin des hier zu besprechenden Romans Schlaglicht von Rita Bullwinkel. Zufall?

An einem heißen Juliwochenende im Jahr 20XX treffen sich in Bobs Boxpalast in Reno, Nevada acht junge Frauen, um den (fiktiven) Daughters of America-Cup auszufechten. Es handelt sich angeblich um die renommierteste Meisterschaft für Frauen U19. Trotzdem ist alles ziemlich schäbig. Eine triste Sporthalle, ein Plastikpokal, bei dem der goldene Anstrich bereits zu bröckeln beginnt, „dickwampige“ Ringrichter. Und doch ist der Kampf für die acht jungen Frauen, die antreten, eine sehr wichtige Angelegenheit. Sie fahren selbst Tausende von Meilen von Florida nach Nevada, lassen sich von Großmüttern, Müttern und Eltern aus allen Teilen des Landes herchauffieren, falls sie das Führerscheinalter noch nicht erreicht haben. Was treibt diese Mädchen an? Warum lassen sie sich unter Umständen grün und blau schlagen, setzen ihre Gesundheit aufs Spiel? Das versucht Rita Bullwinkel in Schlaglicht zu ergründen.

Acht Kämpferinnen

Kämpfe in jeweils acht Runden à zwei Minuten – wir Leser:innen lernen die Protagonistinnen mit ihren Beweggründen, ihren Hoffnungen, Zielen, Sehnsüchten nacheinander während dieser ausgetragenen Kämpfe kennen. Neben viel Boxtechnik und viel körperlichem Einsatz tauchen wir tief in die Innenwelt der Boxerinnen ein, schauen in ihre Lebensgeschichte, erleben Flashbacks, aber auch Ausblicke auf ihr Leben weit jenseits dieses Wochenendes, manchmal bis an ihr Lebensende. Zunächst die vier, dann zwei und schließlich noch das Schlussduell – sieben Kämpfe, die uns sieben amerikanische Leben präsentieren. So ungewöhnlich dieses Erzählen, so gelungen.

Da ist zum Beispiel die eitle, etwas arrogante Artemis Victor, die kämpft, um sich gegen ihre erfolgreichen älteren Schwestern zu behaupten. Oder Andi Taylor, deren Trauma – ein ertrunkener kleiner Junge, den sie als Bademeisterin nicht retten konnte – ihr stets auf der Schulter sitzt, so sehr sie auch dagegen kämpft. Da sind die Cousinen Izzy und Iggy, die sich selbst die größte Konkurrenz sind und deren Verhältnis zwischen Hass, Bewunderung und Solidarität oszilliert. Rose Mueller aus Dallas ist auf der Flucht vor ihrem strengreligiösen Elternhaus und dem Mobbing in der Schule, Rachel Doricko verfolgt die Nacht, in der ihr Elternhaus bis auf den Grund abbrannte. Tanya Maw wiederum betrauert das Verschwinden ihrer Mutter. Und die zwanghaft kontrollierte, zielorientierte Kate Heffer? Sie boxt vielleicht nur, weil sie den richtigen Körperbau dafür hat.

Boxen um wahrgenommen zu werden

Allen Frauen ist gemeinsam, dass sie boxen, um wahrgenommen, endlich gesehen zu werden. Ihre Motivation geht weit über das rein Sportliche hinaus. Sie alle, wir erfahren das in den Ausblicken, werden über kurz oder lang mit dem Boxen aufhören und relativ durchschnittliche, wenn nicht gar triste Leben führen. Was gibt ihnen nun also das Boxen? Aufmerksamkeit? Das Gefühl, gewinnen zu können? Emanzipation? Identität? Mentale Stärke? Neben der Konkurrenz im Boxring ist immer auch eine gewisse Solidarität zwischen ihnen zu spüren.

Wie es Rita Bullwinkel schafft, Interesse und Empathie für alle acht äußerst ambivalent angelegten Protagonistinnen zu wecken, den provinziellen amerikanischen Boxsport auch mit allen Schattenseiten (die Veranstalter, ausschließlich Männer natürlich, streichen stets das Geld ein) nahezubringen und mit lakonischen, an eine Reportage erinnernden Mitteln ein äußerst spannendes, faszinierendes Stück Literatur zu schaffen, verdient höchsten Respekt. Und hat mich nachhaltig begeistert.

 

Eine weitere begeisterte Besprechung findet ihr auf Lustaufliteratur

 

Beitragsbild von cottonbro studio via pexels

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Rita Bullwinkel - Schlaglicht.

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Rita Bullwinkel – SchlaglichtSchlaglicht
Übersetzer:in: Christiane Neudecker
Aufbau Juli 2024, 256 Seiten, gebunden, € 24,00

 

 

 

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