Gli anni di piombo – die bleiernen Jahre – wird in Italien die Zeit von Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein genannt, in der im Land große politische Unruhe herrschte, sowohl linksradikale als auch neofaschistische Terrorgruppen zahlreiche Attentate und Morde begingen und die Staatsgewalt darauf mit Härte reagierte. Die Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteichefs Aldo Moro am 16. März 1978 durch die linksextremistischen Brigate rosse war wohl eine der bekanntesten Aktionen. Zeitgleich trat in der BRD die RAF auf. Die Brutalität und Radikalität der von Marta Barone in ihrem autofiktionalen Roman Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand geschilderten Vorgängen waren allerdings in Italien noch erschreckender und die Mitglieder- und Sympathisantenzahlen der Untergrundorganisationen – vor allem der Roten Brigaden und der Primera Linea – weitaus höher. 197 Menschen fielen Ihnen zum Opfer.
Eher durch Zufall stößt Marta Barone auf Gerichtsakten ihres kürzlich an Krebs verstorbenen Vaters Leonardo. Dieser war in den 80ern der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Als Arzt hätte er Linksterroristen medizinisch versorgt und stände der radikal marxistisch-leninistischen, bewaffneten Terrorgruppe Primera Linea nahe. Dass ihr Vater, der sich aus dem Arbeitermilieu „hochgearbeitet“ hat, um später seinen Arztberuf für seine kommnistischen Ideale hinzuschmeißen, „links“ war, weiß Marta Barone, aber dass er der streng dogmatischen linken Organisation „Servire il popolo“ angehörte, Terroristen unterstützte und dafür mehrmals im Gefängnis war, ist ihr neu. Wer war dieser Vater, den sie zu kennen glaubte, der aber stets eine gewisse Distanz wahrte? Marta sucht das Gespräch mit Verwandten, alten Freunden des Vaters, einer Ex-Frau und der späten Lebensgefährtin. Die Mutter, von der Leonardo schon länger getrennt lebte, ist dabei keine große Hilfe. Aber es gibt Fotos, Dokumente, Briefe.
Der unbekannte Vater
Der unbekannte Vater, der sich seinen Kindern erst nach dem Tod offenbart – das Thema hat Marta Barone für Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand natürlich nicht neu erfunden. Unzählige Romane, Memoirs und Autobiografien drehen sich darum. Es sind die „Anni di piombo“ die hier interessieren und faszinieren. Wie konnten Teile einer Gesellschaft einen derartig blutigen Terror sowohl von links als auch von rechts entwickeln? Wie konnte es zu einer solchen Radikalisierung kommen? Welche Rolle spielte da noch die faschistische Vergangenheit? Und welche die große Armut, unter der vor allem der Süden Italiens und dessen „Migranten“ im Norden in den 1960er und 1970er Jahren litten? Wie lebte man damals in den Arbeitervierteln, beispielsweise Turins?
„Damals konnte jeder, egal, woher er kam, ebenso gut auf der einen wie auf der anderen Seite landen. Ein Sturm lag in der Luft, so, als stünde die Apokalypse unmittelbar bevor. Man hatte den Eindruck, man müsse sich eintscheiden, für was man stehen und wofür man kämpfen wollte, und am Ende ging es oft nur darum, wer einen zuerst in die Finger kriegte, die jungen Faschisten oder die jungen Kommunisten…“
Detailliert und atmosphärisch taucht Marta Barone in diese Zeit ein und lässt die Leser:innen an ihren Recherchen teilhaben. Demonstrationen, Streiks, Polizeigewalt, Attentate, Morde und blutige Vergeltungsaktionen – Barone nähert sich den historischen Vorgängen an, verblendet Vergangenheit und Gegenwart, persönliche Familiengeschichte und politische Ereignissen und deren Analyse. Sie will ihren Vater und die Zeit verstehen. Letztendlich bleiben sie ihr aber fremd, was eine gewisse Distanz beim Erzählen nach sich zieht.
„Obwohl diese Frauen nominell gleichberechtigt waren, blieben sie faktisch allein zuständig für Kinder, Haushalt und diverse andere Lappalien, zu denen sich die mit der Revolution viel zu beschäftigten Männer selbstredend nicht herablassen konnten. Der Feminismus war also gefährlich und musste unbedingt gezügelt werden.“
Es gibt durchaus auch poetische Stellen, über weite Strecken ähnelt Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand aber eher einer analytischen Reportage. Das macht das Buch nicht weniger lesenswert, man sollte sich allerdings ein wenig für den (italienischen) (Links)Extremismus interessieren. Und sich von einem etwas spröden Einstieg ins Buch nicht abschrecken lassen.
Beitragsbild by Neal, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
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Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Übersetzt von Jan Schönherr
Kiepenheuer&Witsch September 2024, 352 Seiten, € 24,00