Ginsterburg – eine ganz durchschnittliche (fiktive) Kleinstadt in Deutschland, mit einer romantischen Altstadt, einem Provinzschlösschen am Wasser, einer englischen Parkanlage und den typischen mittelständischen Fabriken. Eine deutsche Stadt, wie sie landauf, landab existierten und von denen viele während des Bombenkriegs in den Jahren 1940 bis 1945 zerstört wurden. Ginsterburg in den Jahren 1935, 1940 und 1945 und seine Bewohner:innen stehen im neuen, gleichnamigen Roman von Arno Frank im Mittelpunkt. Den Alltag im Nationalsozialismus, die Veränderung einer Gesellschaft unter einer menschenverachtenden Diktatur, die Schritte, die zum vollständigen, auch moralischen Zusammenbruch einer Nation der „Dichter und Denker“ führte, beleuchtet der Wiesbadener Autor in seinem genau recherchierten Roman. In der Villa Clementine erzählte er im Februar über den Entstehungsprozess.
Reale Personen
Es gibt einige reale Personen im Roman, die Arno Franks Interesse geweckt haben und die er leicht fiktionalisiert als Romanfiguren verwendet. Da ist zum einen der Pilot der deutschen Luftwaffe Lothar Sieber, der eine ziemlich prominente Rolle erhält und den wir als träumerischen, naturverbundenen, zurückhaltenden 13-Jährigen kennenlernen. Als Halbwaise lebt er mit seiner Mutter Merle in Ginsterburg. Schon als kleiner Junge träumte er vom Fliegen, sein Held ist der deutsche Jagdflieger des Ersten Weltkriegs Ernst Udet. Es ist eine romantische Schwärmerei. Als Junge schafft es Lothar, von seiner Mutter liebevoll Lolo genannt, nicht einmal, einen gefangenen Fisch zu töten. Aber er wird das Töten lernen, wenn auch als eher abstrakten Vorgang, bei dem feindliche Flugzeuge mit einem Rauchschweif fast ästhetisch in den Wolken verschwinden. Als talentierter und wagemutiger Kampfflieger werden im Krieg unzählige Abschüsse auf sein Konto gehen.
Eine weitere reale Person, die eine kleine Nebenrolle erhält, ist der deutsche Ingenieur Erich Bachem, der für die Nationalsozialisten eine der vermeintlichen Wunderwaffen konstruierte, die „Natter“, ein senkrecht startendes Raketenflugzeug, das feindliche Bomberverbände vernichten sollte. Auch er laut Arno Frank ein eher unpolitischer Mensch, der seine Erfindungen aber bereitwillig den Machthabern zur Verfügung stellte und nach dem Krieg mit der Wohnwagenserie Eriba mit Hymer weiterhin erfolgreich war.
Ambivalente Charaktere
Arno Frank schaut beobachtend auf die Menschen in Ginsterburg, nie offen verurteilend. Es gibt hier auch „das Böse“, vor allem im Arzt Hansemann oder im Zwilling Knut Gürckel. Die meisten seiner Protagonisten sind aber sehr ambivalent. Viele Sympathien, die man zu Beginn auf bestimmte Protagonist:innen legt, werden irgendwann enttäuscht. Andere Figuren überraschen im Verlauf positiv. So zeigt Lothars Mutter, die wie ihr verstorbener Mann immer politisch links stand und den uns allen wohl sehr sympathischen Beruf der Buchhändlerin ausübt, wenig Zivilcourage und Empathie für ihre jüdischen Mitbürger:innen. So wird der feingeistige, Carl von Ossietzky und die Weltbühne bewundernde Journalist Eugen von Wieland schließlich zum strammen NS-Schriftleiter.
“ (…), dass er als Bürgermeister und Kreisleiter eben nicht erst den Fluss durch die Gassen von Ginsterburg hatte leiten müssen, um die Stadt in den Dienst der nationalen Erhebung zu stellen, nur feucht durchwischen hier und ein bisschen fegen dort, weil es für normale Leute kaum einen Unterschied machte, ob sie ihren Alltag als normale Leute, Deutsche oder Volksgenpssen verbrachten.“
Dem Blumengroßhändler Otto Gürckel, der NSDAP-Kreisleiter und Bürgermeister von Ginsterburg werden wird, begegnen wir im ersten Kapitel auf dem Jahrmarkt. Vor Jahren hatte die Wahrsagerin Zola Vovoni ihm die Zukunft vorhergesagt. Eine erfolgreiche, eine strahlende Zukunft. Gürckel sieht sie nun gekommen. Für die Wahrsagerin hat er trotzdem nur Verachtung übrig.
„Unsere Zukunft nehmen wir jetzt selbst in die Hand“, sagte er. „Und mit solchen spiritistischen Sperenzchen werden wir auch noch aufräumen.“
Sprache und Denken
Und doch lässt Gürckel Uta, ein „artvergessenes Frauenzimmer“ laut ihrer BDM-geschulten Nichte, deren jüdischer Mann Theodor verschleppt wurde und wohl auch tot ist, auf seinem Grundstück wohnen, wenn auch nicht ganz selbstlos. Aber auch Gürckel radikalisiert sich immer weiter. So wie eigentlich alle Einwohner von Ginsterburg – und mit ihnen ihre Sprache. Viktor Klemperers gigantisches Werk LTI – Lingua Tertii Imperii, die Analyse der Sprache des Nationalsozialismus und ihrer Wirkungsmacht ist ein Buch, das Arno Frank sehr beeindruckt hat. Und das gerade auch heute in unserer „Zeitenwende“ enorm interessant ist.
„Vielleicht, dachte Merle, ist das Unglück die Lücke, durch die das Tückische in die Welt kommt. Es bemächtigt sich der Geschwächten und Geplagten, schenkt ihnen eine tiefe Stimme, einen bedrohlichen Ton, eine neue Sprache mit neuen Vokabeln, denen nichts Menschliches mehr anhaftet.“
Wie entwickeln sich Sprache und Denken unter einer Diktatur? Wie kann es trotz besseren Wissens und den Lehren, die man aus der Geschichte ziehen könnte und muss, zu einer derartigen Radikalisierung kommen? Einer Radikalisierung, die fast zwangsläufig in den Abgrund führt. So stehen auch im letzten Abschnitt 1945 die Bombardierung von Ginsterburg und der Untergang in einem fast alttestamentarischen Feuersturm im Mittelpunkt.
Das Ende
Am Ende haben wir Leser:innen die Protagonisten über zehn Jahre begleitet, wenn sie nicht vorher zum Opfer wurden. Wirkliches Identifikationspotential bieten sie alle nicht. Und sind deshalb umso glaubwürdiger. Sie alle sind keine Held:innen, die meisten sind Opportunistinnen und Mitläufer. Die wenigsten von ihnen sind aber auch verabscheuungswürdige Monster. Das würde es uns auch zu einfach machen. So sind wir gefragt, erneut zu überlegen: Wie hätten wir uns verhalten? Hätten auch wir uns irgendwie mit den Umständen arrangiert? Was hätte man tun können, um sich dem brutalen Irrsinn zu widersetzen? Und – noch viel wichtiger – was hätte man tun müssen, um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen? Welche Warnzeichen wurden und werden immer wieder übersehen?
„Es war schlimmer als Defätismus. Er zweifelte daran, dass Deutschland den Sieg verdient hatte. Und dieser Zweifel war ein Abgrund, in den zu schauen er sich um keinen Preis erlauben konnte. Er würde den Mund bewegen zu einem Lied, das er nicht mehr verstand.“
Zwischen die einzelnen, multiperspektivisch erzählten Kapitel von Ginsterburg hat Arno Frank immer wieder Dokumente gestreut, die zur historischen Orientierung der Leser:innen dienen. Ein sehr gelungener, ein unbedingt lesenswerter Roman.
Weitere Bücher von Arno Frank: Arno Frank – So, und jetzt kommst du und Arno Frank – Seemann vom Siebener
Beitragsbild: Sven Teschke, Büdingen, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons
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Arno Frank – Ginsterburg
Klett-Cotta Februar 2025, 432 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 26,00