Uwe Wittstock – Marseille 1940

Nach Februar 33. Der Winter der Literatur beschäftigt sich Uwe Wittstock in seinem neuen erzählenden Sachbuch Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur mit einem weiteren Krisenjahr. Nachdem er in der typischen mosaikartigen Erzählweise die bedrohlichen Ereignisse unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme anhand verschiedener Autoren wie Joseph Roth, Alfred Döblin und Thomas Mann beleuchtet hat, verpackt er nun die tragischen Ereignisse nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 wieder in viele kleine Episoden, wieder ganz nah an den Personen, chronologisch fortschreitend, unglaublich dicht, detailliert und spannend. Quellen waren wieder vor allem Selbstzeugnisse von Schriftsteller:innen und anderen Kulturschaffenden, wie Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen und Erinnerungen.

Völlig überraschend brach bereits im Juni 1940 die Verteidigung der französischen Armee in Zuge des Ende Mai gestarteten deutschen Westfeldzugs zusammen. Die Wehrmacht besetzte ganz Nordfrankreich und die französische Atlantikküste. Am 14. Juni wurde Paris kampflos übergeben, am 22. Juni ein Waffenstillstand geschlossen. Dies bewahrte den Süden vor der Besatzung. Die neue Regierung des nach dem Regierungssitz benannten „Vichy-Frankreichs“ kollaborierte aber mit der Besatzungsmacht.

Besatzung Frankreich 1940
Eric Gaba (Sting – fr:Sting) for original blanck map / Rama for zone, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

Katastrophenjahr 1940

Das war eine Katastrophe für die bereits vor oder kurz nach 1933 vor dem nationalsozialistischen Regime nach Frankreich geflüchteten Menschen, darunter viele Intellektuelle, Politiker, Künstler, Schriftsteller:innen. Für sie alle gab es nun nur eine Richtung, um sich zu retten und möglichst schnell aus Europa zu entkommen, wo Hitler und seine Armeen an allen Fronten zu siegen schienen: nach Süden. Besonders in und rund um Marseille sammelten sich viele Ausreisewillige, denn hier waren die Konsulate angesiedelt, die die begehrten Visa ausstellen konnten, hier war der letzte unbesetzte französische Hafen.

Aber auch hierhin reichte der Arm der Nationalsozialisten. Von der Gestapo wurden Listen an das Vichy-Regime verteilt, auf denen Persönlichkeiten standen, die sofort ausgeliefert werden sollten. Die Regierung von Marschall Petain setzte die missliebigen Ausländer in Internierungslagern wie Les Milles, Saint Nicolas, Le Vernet oder im Frauenlager Gurs fest. Dort herrschten teils untragbare hygienische Zustände. Und von hier konnte die rettende Ausreise schwerlich organisiert werden. Bei den Verfolgten herrschte ein zermürbender Nervenkrieg, den Uwe Wittstock hervorragend eingefangen hat.

Über völlig verstopfte Straßen oder den beeindruckenden Gare St. Charles strömten immer mehr Flüchtende nach Marseille. Vor den Konsulaten bildeten sich lange Schlangen, die Hotels und Unterkünfte waren restlos belegt und in den Cafés und auf ihren Terrassen wartete man auf Ausreisegenehmigungen und Visa, beriet sich über die Staaten, die diese noch erteilten (China, Belgisch-Kongo, Mexiko oder Panama etwa), grübelte wie man vielleicht doch noch an Affidavits aus den USA gelangen könnte. Verzweiflung und Panik trafen hier auf Überlebenswillen und Hoffnung.

Das Emergency Rescue Committee

In den USA machte man sich über die Situation bereits seit einiger Zeit Gedanken. Auch hier gab es Listen mit Menschen, die unbedingt vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt werden sollten. Lion Feuchtwanger stand darauf, Heinrich und Golo Mann, Walter Benjamin und Hannah Arendt, Franz Werfel und Anna Seghers, Max Ernst und Marc Chagall. Und viele mehr. Man sammelte Spenden, erwarb sich die Unterstützung der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt und schickte schließlich im August 1940 einen jungen Journalisten nach Marseille, um dort die Arbeit zu koordinieren und direkte Hilfe zu leisten. Varian Fry war sein Name, der schließlich mit dem geründeten Emergency Rescue Committee (ERC) um die 2000 Menschen aus Frankreich herausholte, zum Teil über illegale Fluchtwege über die Pyrenäen nach Spanien. Er wurde dabei u.a. von Lisa und Hans Fittko unterstützt.

Group portrait of European refugees saved by the Emergency Rescue Committee on board the Paul-Lemerle, Mai 1941, United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Dyno Lowenstein

Aus den geplanten drei Wochen, die Varian Fry in Marseille bleiben sollte, wurden 13 Monate. Unterstützung von der amerikanischen Regierung erhielt er dabei kaum, das State Departement beäugte sein Handeln eher misstrauisch bis ablehnend. Lediglich der Vizekonsul Hiram Bingham unterstütze ihn. Hilfe bekam er aber von anderer Seite, etwa von der schwerreichen US-amerikanischen Erbin Mary Jayne Gold, die wie ihre Landsmännin Miriam Davenport in Marseille gestrandet war, vom Vertreter der Gewerkschaftsorganisation American Federation of Labour und vom ehemaligen Spanienkämpfer Albert Hirschman. Mit nicht immer ganz legalen Mitteln und in Deckung bauten sie so ein sehr effektives Rettungsnetzwerk auf.

Varian Fry

Das Wirken von Varian Fry wird in den Werken einiger Entkommener erwähnt, insgesamt bekam er aber viel zu wenig Würdigung und geriet fast in Vergessenheit. Erst in jüngerer Zeit erinnerte man sich an ihn und seine Arbeit. 1994 wurde er als einer der „Gerechten unter den Völkern in Israels“ im Holocaust-Mahnmal Yad Vashem aufgenommen, 1998 erhielt er eine zusätzliche Würdigung als Ehrenbürger des Staates Israel. 2023 startete auf Netflix eine Serie über die Gruppe um Varian Fry (Transatlantic).

Plastisch und dicht, facettenreich und spannend schildet Uwe Wittstock diese Geschehnisse in Marseille 1940. Er springt in kurzen, chronologisch fortschreitenden Episoden von der einen Person zur anderen, wechselt rasch die Szenerien und schafft doch einen großen Zusammenhang. Er erzählt dabei im historischen Präsens, was das Geschehen noch näher bringt und ungemein fesselt. Trotz der eingängigen Erzähltechnik wird es aber niemals reißerisch, sondern bleibt immer gut recherchiert und fundiert. Auch wenn sich das Geschilderte hauptsächlich auf Selbstzeugnisse stützt und von daher sicher auch eine gewisse Subjektivität beinhaltet. Besonders deutlich wird dabei auch die zwiespältige Haltung der Franzosen, die zwischen Kollaboration und großer Hilfsbereitschaft aufgespannt war.

Flucht als etwas Exemplarisches und damit Zeitloses – auch das wird durch Marseille 1940 deutlich. Ein fesselndes, wichtiges und unbedingt empfehlenswertes Buch.

 

Beitragsbild: Marseille, unter deutscher Besatzung Hans-Michael Tappen CC BY-NC-SA 2.0 via Flickr

_____________________________________________________

*Werbung*

Uwe Wittstock - Marseille 1940.

.

Uwe Wittstock – Marseille 1940
C.H.Beck Februar 2024, 351 Seiten, mit 28 Abbildungen und 2 Karten, Hardcover, € 26,00

 

 

 

2 Gedanken zu „Uwe Wittstock – Marseille 1940

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert