Bei einem Verlagsnachmittag im September lernte ich die Autorin und Übersetzerin Klaudia Ruschkowski kennen. Passend zum diesjährigen Gastlandschwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse hat sie beim Verlagshaus Römerweg eine feine kleine Reihe mit italienischen Autorinnen herausgegeben, „Perlen“ genannt. Ich habe sie auf Instagram bereits gezeigt und vorgestellt, ein ausführlicher Bericht folgt auch hier bald. Bei diesem Treffen kam die Sprache auch auf einen bereits im vergangenen Jahr im S. Marix Verlag erschienenen Titel, den Klaudia übersetzt hat. Die bekannte italienische Journalistin und Autorin Titti Marrone hat ihr berührendes Buch über das Schicksal dreier jüdischer Kinder, die zusammen mit ihren Müttern aus Fiume (damals noch zu Italien gehörend, heute Rijeka) zunächst in das einzige italienische Konzentrationslager Risiera di San Sabba bei Triest und von dort nach Auschwitz deportiert wurden, „Besser nichts wissen“ (Original: „Meglio non sapere“, 2003) betitelt.
Besser nichts wissen, das galt für die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur Italiens, die die vor ihren Augen geschehenden Grausamkeiten ignorierten, aber auch in ganz besonderem Maße für die Mutter eines der deportierten Kinder. Eine unglaubliche, erschütternde Geschichte, über die ich mit Titti Marrone und Klaudia Ruschkowski auf der Messe sprechen durfte.
Die drei Kinder waren vier bis sechs Jahre alt, als sie im März 1943 mit ihren Müttern und den Großeltern deportiert wurden. Gisella De Simone und Mira Bucci waren Schwestern, Miras Töchter Andra und Tatiana Bucci vier und sechs Jahre alt, ihr Cousin Sergio De Simone sechs. Während Andra und Tatiana die beiden jüngsten Überlebenden von Auschwitz sind, starb ihr Cousin 1945 in Hamburg.
Im April 1945 lebten im Konzentrationslager Neuengamme noch 20 jüdische Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren, unter ihnen der kleine Sergio. Monatelang hat der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer sie als Versuchsobjekte für medizinische Experimente mit lebenden Tuberkelbazillen missbraucht. Um Spuren zu verwischen, als die Alliierten vor den Toren standen, ermordete man am 20. April 1945 die Kinder und ihre Pfleger in einer Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg, die als Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme diente, auf besonders schreckliche Weise.
Nach dem Krieg wurde das Gebäude wieder als Schule genutzt, als wäre nichts geschehen. Einige der Täter wurden bestraft, viele Verantwortliche nicht oder nur mit lächerlichen Strafen verfolgt. Die Namen der ermordeten Kinder blieben lange unbekannt, die kurz danach dort erhängten russischen Kriegsgefangenen sind bis heute nicht identifiziert worden. Auch über das besondere Schicksal der drei italienischen Kinder wurde bis auf einen kleinen Artikel in einer italienischen Militärzeitung nicht berichtet.
Die überlebenden Kinder von Auschwitz aufzuspüren, war nicht leicht, da viele von ihnen noch so klein waren und nach der Befreiung von Auschwitz zunächst als vermeintlich ohne überlebende Familienangehörige untergebracht wurden. So auch Andra und Tatiana, die in ein Waisenhaus nach England gebracht wurden. Dort in Lingfield House wurden sie mit anderen Kindern aus dem Konzentrationslager betreut. Erst zwei Jahre später fand Mira Bucci ihre beiden Töchter dort. Gisella wartete auch noch Jahrzehnte später auf ihren Sergio, da über seinen Verbleib keinerlei Dokumente existierten.
Eine unfassbare Geschichte, die fast undokumentiert geblieben wäre. Meine erste Frage an Titti Marrone war deshalb auch, wie sie darauf gestoßen ist.
Es war 1995, als ein aufgebrachter Mann sie in der Chefredaktion der Tageszeitung Il Mattino in Neapel aufsuchte. Es war Mario De Simone, der nachgeborene Bruder von Sergio. Kürzlich war seine Mutter Gisella verstorben und er hatte zum ersten Mal vom wahren Schicksal seines Bruders erfahren, der nach den Erzählungen seiner Mutter in den Nachkriegswirren „irgendwo in Europa verschollen“ war, auf dessen Rückkehr sie aber insgeheim immer noch hoffte. In der Familie wurde über diesen vermissten Bruder fast nie gesprochen. Er war eine große Leerstelle. Nun erfuhr Mario durch die Einladung zu einer Gedenkveranstaltung der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V. nicht nur das wahre Schicksal von Sergio, sondern auch, dass seine Mutter bereits 1985 nach Vermittlung durch die jüdische Gemeinde Neapels zu einer ähnlichen Veranstaltung nach Hamburg gereist war und dort auch der Tod ihres Sohnes angesprochen wurde.
Die Geschichte von Sergio, Andra und Tatiana habe also sie, Titti Marrone, gefunden und nicht umgekehrt. Seit 1978 recherchierte bereits der Journalist Günther Schwarberg über das Verbrechen am Bullenhuser Damm. Ihm gelang es, die 20 Kinder zu identifizieren und ihre Eltern ausfindig zu machen, schließlich auch Gisella De Simone. Ihm ist zudem die Gründung der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V. und die Errichtung einer Gedenkstätte dort zu verdanken.
Die Geschichte von Besser nichts wissen hatte Titti Marrone gefunden und auch Mario De Simone und Günther Schwarberg baten, die Geschichte einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Marrone begann zu recherchieren, traf die Schwestern Andra und Tatiana und andere Zeitzeugen, wertete Archivmaterial aus, rekonstruierte Dokumente und 2003 erschien „Meglio non sapere“, das in Italien mittlerweile die zwölfte Auflage erreicht hat. Neben der Geschichte Sergios erzählt sie auch die seiner überlebenden Cousinen, ihrer Unterbringung im Waisenhaus in Lingfield und die schwierige Rückkehr nach zwei Jahren in England zur italienischen Familie.
Was Titti Marrone an der Geschichte von Sergio besonders berührt hat, war die Weigerung Gisellas, an den Tod ihres Sohnes zu glauben, besonders nach der Rückkehr der Cousinen. Bis zu ihrem Tod, ja sogar nach ihrem Besuch am Bullenhuser Damm, bestand sie darauf, dass Sergio irgendwo noch lebe und vielleicht auch zurückkehren würde. Mario hat von all dem nichts gewusst. Seine Mutter hat mit ihm nie darüber gesprochen. Um, auch für ihn, ihren nachgeborenen Sohn, weiterleben zu können und nicht an ihrem Schmerz zu zerbrechen, hat sie sich geweigert, die Tatsachen anzuerkennen, wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben. Titti Marrone hat sich während ihrer Recherchen stark mit dieser Mutter identifiziert.
Was mich persönlich stark verwundert hat, war die Tatsache, dass es in Auschwitz so kleine Kinder überhaupt geschafft haben zu überleben, allein der berüchtigten Selektion zu Beginn zu entkommen, wo nahezu alle arbeitsunfähigen Personen gleich in die Gaskammern geschickt wurden. Titti Marrone hat dafür eine plausible (und entsetzliche) Erklärung. Sergio, Andra und Tatiana kamen zusammen an der Selektionsrampe an. Sie waren ausgesprochen hübsche Kinder und sahen sich sehr ähnlich. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sofort als für eventuelle medizinische Versuche interessant ausgewählt und zunächst am Leben gelassen wurden. Man könnte sie für Zwillinge oder gar Drillinge gehalten haben, die für die Lagerärzte besonders interessant waren. Obwohl die Nazis kurz vor Kriegsende sehr darum bemüht waren, sämtliches Beweismaterial zu vernichten, sind Akten über solche Versuche erhalten geblieben. Und zumindest von Sergio befinden sich dort Einträge.
Es ist immer wieder erschütternd, über die Praxis dieser Nazi-Ärzte zu hören. Josef Mengele ist den meisten ein Begriff, aber wer kennt zum Beispiel Kurt Heißmeyer? Dabei ist die Liste von KZ-Ärzten auf Wikipedia ellenlang und bei den meisten dieser Namen steht „freigesprochen“, „begnadigt“, „nicht gefasst“. Dr. Heißmeyer, ein eher mittelprächtiger Arzt mit großen Ambitionen, war als Lagerarzt im Konzentrationslager Neuengamme tätig. Um die angestrebte Professur zu erreichen, experimentierte er mit lebenden Tuberkelbakterien an Häftlingen, schließlich auch an den 20 Kindern des Bullenhuser Damms. Besonders erschreckend ist das völlig fehlende Schuldbewusstsein bei den Tätern, auch nach Kriegsende. Unterstützt wurde das durch die völlig unzureichende Strafverfolgung. Kurt Heißmeyer wurde erst 1963 verhaftet. In einem Verhör im Jahr 1964 erklärt er, dass es für ihn „keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Juden und Versuchstieren“ gegeben habe. „Als Internierte hatten sie keinerlei Rechte.“
Titti Marrone wies darauf hin, dass Heißmeyer nach Kriegsende in seiner Verblendung und Selbstüberschätzung sogar eine Kiste mit seinen „Untersuchungsergebnissen“, die übrigens damals schon widerlegt waren, vergraben hat. Er wurde ein erfolgreicher Kinderarzt, später Direktor der privaten Magdeburger Klinik des Westens. Im Nationalsozialismus kamen nicht selten diese Omnipotenz- und Allmachtfantasien mit übersteigertem Selbstbewusstsein und Menschenverachtung zusammen. „Era una follia collettiva“, meint Titti Marrone.
Bezeichnend ist, dass der Großteil der Recherchen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus von Privatpersonen und nicht von staatlichen Stellen durchgeführt wurde. So sind die grauenhaften Vorgänge am Bullenhuser Damm vom Journalisten Günther Schwarberg und seiner Frau, der Rechtsanwältin Barbara Hüsing, aufgedeckt und bekanntgemacht worden. Wie Titti Marrone feststellt, hatten auch die Briten und Amerikaner als Besatzungsmächte kein großes Interesse an Aufklärung und Verfolgung aller Verbrechen. Viele der angestrengten Prozesse wurden niedergeschlagen, die Täter freigesprochen oder gar nicht erst angeklagt. So liest man auf der Seite der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm:
„Der SS-Obersturmführer Arnold Strippel, der am Bullenhuser Damm das Mordkommando gehabt hatte, wurde dafür nie vor Gericht gestellt. Die Hamburger Justiz fand dafür tausend Erklärungen. Zur Begründung, weshalb dieser Mord nicht als »grausam« gewertet werde, fiel der schreckliche Satz: »Den Kindern ist über die Wegnahme ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden«.“
Man wollte eine Pazifizierung. Und das Land sollte wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen.
Die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm hat eine sehr informative Webseite, wo man sich weitergehend informieren kann.
Titti Marrone hat in ihrer literarischen Reportage Besser nichts wissen diese erschütternde Geschichte beeindruckend festgehalten. Ihr war es wichtig, durch die Augen eines Kindes zu schauen, besonders im Sergio gewidmeten Teil, da sie dort nicht wie im Teil über die Schwestern mit Zeitzeugen sprechen konnte. Es war ihr auch wichtig, die tief berührenden Geschichten nicht zusätzlich durch Emphase zu beschweren, weswegen sie auch mit einer für die italienische Belletristik eher ungewöhnlichen Vermeidung von Adjektiven gearbeitet hat. Ihr ist dadurch ein ganz besonderer Ton gelungen, der auch in Klaudia Ruschkowskis sehr gelungener Übersetzung überzeugt. Der Übersetzerin war es sehr wichtig, alle Fakten nochmals genau abzugleichen, damit die historische Genauigkeit gewahrt ist.
Titti Marrone ist der festen Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, einen Deckel auf die Vergangenheit zu legen. Es braucht diese Erinnerungen. Wie sie mir in meine Ausgabe von Besser nichts wissen schrieb:
„Perché la vita senza memoria é un filo spezzato“ (Denn ein Leben ohne Erinnerung ist ein zerrissener Faden)
Ich freue mich sehr, dass ein weiteres Buch von Titti Marrone, das dieser Erinnerung gewidmet ist, gerade von Klaudia Ruschkowski übersetzt wird und im nächsten Jahr wieder im S. Marix Verlag erscheinen soll. Auf Englisch liegt „Se solo il mio cuore fosse pietra“ bereits vor. „Wenn nur mein Herz aus Stein wäre“ widmet sich dem Lingfield House, jenem Anwesen von Sir Benjamin Drage, in dem ein Heim für Kinder, die aus Nazi-Lagern befreit wurden, eingerichtet worden war. Hier wurden auch Andra und Tatiana Bucci von Pädagogen und Psychologen wie Anna Freud und Alice Goldberger betreut. Ein Ort, der den Kindern wie ein Märchenland erschien.
Ich bedanke mich sehr für das Gespräch mit Titti Marrone, das durch Klaudia Ruschkowski wunderbar übersetzt wurde. Es hat mir tiefe Einblicke in das rundum empfehlenswerte Buch Besser nichts wissen gegeben. Bücher wie dieses braucht es, gerade heute.
Mehr zum Schicksal der Kinder vom Bullenhuser Damm inkl. eines Originalbeitrags der Sendung Panorama zur Strafverfolgung des Lagerleiters Arnold Strippel findet ihr auf NDR.de
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Titti Marrone – Besser nichts wissen Marix Verlag
Ü: Klaudia Ruschkowski
160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 20,00