Er ist wieder da, dieser besondere Ton – ruhig, entschleunigend, heiter und dennoch melancholisch -, den Katharina Hagena bereits 2008 in ihrem sehr erfolgreichen Debütroman Der Geschmack von Apfelkernen anschlug und den sie auch in ihrem vierten, nun erschienenen Buch Flusslinien beibehält. Zwei Frauen, die eine alt, die andere sehr jung und ein junger Mann stehen darin im Mittelpunkt. Das eigentliche Zentrum aber ist die Elbe. Und in den zwölf Abschnitten, die zwölf Tagen entsprechen, werden sehr viele Geschichten erzählt.
Margrit Raven ist 102 Jahre alt und lebt in einer Seniorenresidenz am Fluss, nicht sehr zentral, sondern weit draußen, ziemlich abgelegen. Aber in der Nähe ihrer geliebten Elbe. Fast täglich lässt sie sich von Arthur, dem Fahrer der Einrichtung, zum römischen Garten fahren. Dieser ursprünglich zwischen 1880 und 1890 an einem Elbhang in Blankenese angelegte Garten gelangte 1897 in den Besitz der Familie Warburg, deren Sohn Max ihn ab 1913 von der ersten Obergärtnerin Deutschlands, Else Hoffa, umgestalten ließ, und wurde in den 1920er und 30er Jahren zu einem Treffpunkt der Hamburger „besseren Gesellschaft“. Für Margrit bietet er nicht nur einen grandiosen Blick auf den Fluss, sondern erinnert sie an ihre Mutter Johanne, die mit Else Hoffa eine Zeitlang zusammengewohnt hat.
Else Hoffa
Else Hoffa ist eine reale historische Gestalt, die Beziehung zu Johanne hat sich Katharina Hagena für Flusslinien ausgedacht. Die Geschichte von Else, die 1938 als Halbjüdin nach England emigrieren musste, bietet ihr die Gelegenheit, an die nationalsozialistische Vergangenheit zu erinnern. Margrit überlegt, wieviel ihre Mutter von den damaligen Verbrechen gewusst hat, wieviel sie, deren jüdische Gesangslehrerin irgendwann verschwand, gewusst haben konnte. Eines der vielen Themen, die das Buch aufmacht.
Im Mittelpunkt steht aber die Beziehung der sehr alten Margrit, die zwar fast blind und ziemlich taub, geistig aber noch topfit und offen ist, zu ihrer 18-jährigen Enkelin Luzie. Luzie ist die Tochter von Margits Sohn Frieder, der sich von Barbara, genannt Brisko, der eigenwilligen Mutter Luzies, getrennt und nun in Australien eine neue Familie gegründet hat. Ihre zwei Enkel aus dieser neuen Beziehung hat Margit noch nie gesehen. Dafür verbindet sie mit Luzie ein sehr enges und vertrautes Verhältnis.
Aber auch Margit weiß nicht, warum sich Luzie, sobald sie volljährig geworden ist, von der Schule abmeldet, in einer alten DLRG-Hütte am Flussufer schläft und sich als begabte, aber amateurhafte Tattoo-Künstlerin verdingt. Hinter der Verschlossenheit und dem Zorn von Luzie steckt eine Geschichte von sexueller Gewalt, von struktureller Gewalt des Patriarchats, mangelnder Unterstützung betroffener Frauen. Margit erfährt erst allmählich davon, als sie zustimmt, sich von ihrer Enkelin „Flusslinien“ auf den Oberkörper tätowieren zu lassen und dabei viel Zeit mit ihr verbringt.
Viele Themen
Zwischen Luzie und Arthur bahnt sich allmählich eine Freundschaft oder auch Liebe an. Wie Luzie hat auch Arthur an einem persönlichen Trauma zu tragen. Sein Zwillingsbruder Theo hat sich vor einiger Zeit das Leben genommen. Neben den historischen Elementen, den Themen Altern, dysfunktionale Familie, sexueller Gewalt gegen Frauen und dem Umgang der Gesellschaft damit, macht Katharina Hagena damit noch das Thema Suizid und Depression auf. Aber auch damit nicht genug. Beim Seniorenresidenznachbar Gregor keimt eine zarte Altersliebe zu Margrit auf. Und Cornelius, Margits früherer Liebhaber, der neuerdings auch in der Einrichtung wohnt, gleitet sanft in eine Altersdemenz ab. Auch der Ukrainekrieg und die Corona-Pandemie finden noch einen Platz.
Viele Themen, viele Geschichten, viele Anspielungen. Notgedrungen bleibt vieles davon doch sehr an der Oberfläche. Auch wenn der Roman durchaus komplex und kunstfertig gestaltet ist, der Ton wieder so verführerisch ist wie beim Debüt von Katharina Hagena, kann Flusslinien deshalb nicht wirklich überzeugen. Ein Text, der sich schön liest, aber wohl wenig tiefere, bleibende „Linien“ hinterlassen wird.
Beitragsbild: Unterelbe bei Blankenese by J.-H. Janßen, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Katharina Hagena – Flusslinien
Kiepenheuer&Witsch März 2025, gebunden, 400 Seiten, € 24,00







