Zum siebenten Mal seit 2016 wird der Bloggerpreis für Literatur Das Debüt auch für 2022 verliehen. Nach Shida Bazyar, Klaus Cäsar Zehrer, Bettina Wilpert, Nadine Schneider, Deniz Ohde und Jessica Lind wird in diesem Jahr auf jeden Fall eine Autorin den Preis erhalten, denn dieses Jahr sind tatsächlich nur Autorinnen für die Shortlist nominiert.
Die Shortlist
56 Verlage reichten insgesamt 80 Titel ein. Fünf deutschsprachige Debütomane gelangten durch eine Vorauswahl der Redaktion von Das Debüt auf die Shortlist. Diese durfte die Bloggerjury lesen und bewerten. Fünf Romane, die sehr unterschiedlich sind und wieder einmal gezeigt haben, wie spannend und bereichernd Romanerstlinge sein können.
Wie jedes Jahr hätte ich mir das eine oder andere Debüt auf der Shortlist gewünscht, weil es mich persönlich sehr überzeugt hat. Manchen Titel (von meiner ewiglangen Interessenliste) hätte ich mir erhofft, um ihn endlich mal lesen zu „müssen“. Und dann überraschen wie in jedem Jahr Bücher, die ich gar nicht auf dem Schirm hatte und die ich sonst sicher verpasst hätte. Der Debütpreis ist eine Wundertüte, die die Arbeit für ihn so besonders interessant und spannend macht.
„Das Debüt“ – Bloggerpreis für Literatur 2022
Mir fiel die Entscheidung in diesem Jahr tatsächlich besonders schwer. Im letzten Jahr lieferten sich zwei Titel ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz 1, in den Jahren davor hatte ich eigentlich immer eine(n) absolute(n) Favorit:in und konnte auch meist 2-3 Bücher gleich aussortieren, da sie mir weniger oder gar nicht zusagten. 2022 hat mir keiner der Debütromane, die die Shortlist zum Bloggerpreis für Literatur erreicht haben, so überhaupt nicht gefallen. Keiner von ihnen konnte mich allerdings auch restlos überzeugen. Das machte es ganz schön kniffelig! Und ich muss gestehen, dass die Entscheidung bis kurz vor knapp zumindest bei den drei mit Punkten versehenen Romanen noch völlig offen war und jeder von ihnen eigentlich 3 Punkte verdient hätte. Zum Schluss musste dann doch ein wenig das Bauchgefühl entscheiden. Ich versuche aber in meinen Besprechugen zumindest darzulegen, was an den Texten besonders gut war und wo sie ein wenig schwächeln. Wie bei jeder Juryentscheidung, zumindest wenn es um etwas wie Literatur geht, kommen eben neben objektiven Kriterien auch subjektive Interessen und Vorlieben zum Tragen. Die manchmal erbitterten Gefechte zwischen erwiesenen Fachleuten bei Kritikerrunden beweisen das.
Zwei der Shortlist-Romane sind mir bereits beim Bayerischen Buchpreis begegnet, wo sie auch die Shortlist erreichten: Nordstadt von Annika Büsing und Ist hier das Jenseits, fragt Schwein von Noemi Somalvico. Letztere stand auch auf der Shortlist zum Hotlist-Preis, gewann den Förderpreis Komische Literatur 2023 zum Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und den Literaturpreis des Kantons Bern. Annika Büsing wurde der Mara-Cassens-Preis 2022 des Literaturhauses Hamburg und der Literaturpreis Ruhr zugesprochen. Liebe ist gewaltig wurde im Rahmen der Hamburger Literaturpreise als »Buch des Jahres« ausgezeichnet und Slata Roschal stand mit ihrem Debüt auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022. Ziemlich hochkarätige Auswahl also.
Wer möchte, kann über das Inhaltsverzeichnis oben direkt zur Wertung oder zu den Besprechungen der einzelnen Romane springen.
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Meine Meinung:
Noemi Somalvico – Ist hier das Jenseits, fragt Schwein
Verlagstext:
Seit ein paar Wochen ist Schwein allein. Trübe blickt es aus dem Fenster. Irgendwo hinter diesem Himmel wird noch ein Himmel sein und dahinter noch einer. Gut, dass Dachs einen Apparat erfunden hat, mit dem sich in Gottes Wohnung wechseln lässt. Dort sitzen sie dann, mit dem Schöpfer am Küchentisch und zitternd nimmt etwas seinen Anfang. »Ist hier das Jenseits, fragt Schwein« erzählt vom Glück Verbündete zu finden. Von Fernweh und der Sehnsucht nach dem Bekannten. Vom Diesseits, vom Jenseits und den wunderlichen Weiten dazwischen.
Voland & Quist, gebunden, 144 Seiten, € 22.00
Meine Meinung:
Schwein wird von Biber verlassen, Reh hat leider keine Zeit, da viel Arbeit wartet und die kranke Mutter gepflegt werden muss. Dachs hat eine Maschine erfunden, mit der man überallhin reisen kann. Da Schwein eigentlich einen Mitreisenden für einen gewonnenen Trip in die Wüste Halakari sucht und dabei auf Dachs stößt und die beiden Gott, der gerade eine massive Sinnkrise und eine gewaschene Depression durchmacht, mitnehmen wollen, führt die Reise schließlich ins Jenseits. Gott freut sich auf die Toten, möchte gern einen Schwatz mit ihnen halten. Das klingt reichlich skurril? Das ist diese Geschichte von Noemi Somalvico auch, die viel von ihrem Zauber dadurch erhält, dass konsequent alle Protagonist:innen durch Tiere besetzt sind, die allerdings so gar nichts mit Tieren gemein haben. Sie sind nicht nur vermenschlicht, sondern vielmehr Platzhalter für Menschen wie Maria, Lisa und Tom. Ohne diesen Kniff wäre die in sehr knappen, schlichten Sätzen erzählte Geschichte relativ belanglos. So erhält sie tatsächlich einen ganz eigenartigen Charme. Die Autorin vermeidet die klassischen Fabeltiere, lässt sämtliche geschlechtsdefinierenden Artikel fort, spricht ganz elementare Dinge an wie Liebe, Freundschaft, der Sinn des Lebens. Das Erzählte hat etwas Leichtes, Melancholisches, Schwebendes. Leider verliert es irgendwann (für mich zumindest ab Antreten der Reise) ein wenig seine Kraft und seinen Zauber, so dass dann ein nicht unerheblicher Teil der Geschichte ein wenig verplätschert.
Ursula Knoll – Lektionen in dunkler Materie
Verlagstext:
Wenn Menschen scheinbar aus dem Nichts ausflippen, steckt manchmal ganz schön viel dahinter. Bei Ines Geiger etwa, die aus Frust auf ihren Arbeitsalltag nur noch positive Asylbescheide ausstellt. Bei Heide, die mit ihrem kleinen Sohn den Kindergarten besetzt, weil die Öffnungszeiten für eine Alleinerzieherin ein Witz sind. Oder bei ihrer Exfrau, der Astronautin Katalin, die angesichts einer sturen KI in ihrer winzigen Kabine auf der Raumstation ISS rabiat wird, während die Aktivistin Milka aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelindustrie im Supermarkt mit Tomaten um sich wirft. Sie alle wollen etwas verändern, für sich persönlich oder im Großen. Ihnen allen wurden Steine in den Weg gelegt, die manchmal nur mit Gebrüll aus dem Weg gesprengt werden können.
Ursula Knoll zeigt in ihrem Debütroman eindrucksvoll, wie wir mit der Erde, dem ewig ungerechten Geschlechterverhältnis und schließlich mit uns selbst umgehen.
edition atelier, Gebunden mit Schutzumschlag, 248 Seiten, 22 €
Meine Meinung:
Ursula Knolls Roman war für mich die Überraschung der Shortlist. Ihn habe ich beim Durchblättern der Vorschauen, bei dem ich eigentlich immer besonders auf Debütromane achte, völlig übersehen. Die anderen vier Bücher hatte ich alle schon gelesen bzw. wahrgenommen, Lektionen in dunkler Materie hingegen noch nicht. Dass dies nicht nur bei mir so war, zeigt die sehr überschaubare Rezeption in der Literaturkritik. Sehr schade, denn die „Lektionen“ sind ein ganz bemerkenswertes Debüt.
Es kreist um fünf Frauen, die sich allesamt in persönlichen Ausnahmezuständen befinden, bei denen sich über die Zeit so einiges zusammengebraut hat und kurz vor der Entladung steht. Dabei sind sowohl ganz individuelle als auch gesellschaftliche Ursachen beteiligt. Da ist eine leider mittlerweile so klassische Figur wie die alleinerziehende, zwischen einem prekären Job, dem Kindergartenkind und miserablem öffentlichen Personennahverkehr aufgeriebene Heide; da ist ihre ehemalige Lebenspartnerin, die Astronautin Katalin, die diese Beziehung durch ihren beruflichen Ehrgeiz aufs Spiel gesetzt hat, ihr nun aber hinterhertrauert; da ist Katalins Schwester Eszter, die durch riskante und am Rande der Legalität balancierende Börsenspekulationen Rache an rücksichtlosen, gierigen Finanzhaien nehmen will; da ist Ines, die jahrelang emotionslos und mechanisch Asylverfahren bearbeitet hat; und da ist ihre Mitbewohnerin Milka, eine Aktivistin in Sachen Fairtrade Lebensmittel, die ihre große Liebe betrauert. Sie alle hängen auf die eine oder andere Weise zusammen und sind doch erschreckend vereinzelt, isoliert, unfähig, ihre Emotionen auszudrücken, ihre Probleme den anderen zu offenbaren. Bei ihnen allen kommt es zu einer kleinen Explosion. Wenig wird besser durch diese Entladungen. Nur einmal, als die Erzieherin Fatima der die Kita besetzende Heide unerwartet beispringt, deutet sich an, dass eine Lösung der Probleme in Solidarität liegen könnte. Eine Solidarität, die die so unterschiedlichen Frauen bei Ursula Knoll bisher nicht geübt haben.
So gelingt der Autorin, eine Vielzahl von relevanten Alltagsthemen wie Mangel an Betreuungsplätzen, prekäre Jobs, Probleme Alleinerziehender, Willkür bei der Asylerteilung, Landwirtschaftsmafia, Börsenspekulationen und etliches mehr in die Episoden, die sich vordergründig vor allem um scheiternde Beziehungen drehen, mühelos einzuflechten. Männer spielen kaum eine Rolle in den Episoden. Wo sie allerdings vorkommen, sind sie eher positiver gestaltet als die weiblichen Protagonisten. Linus beispielsweise, der kleine Sohn von Heide, Eszters Date Richard oder aber die KI Simon.
In ihre eher kühle, zumindest völlig pathosfreie Erzählstimme mischt Ursula Knoll eine gehörige Portion des typisch österreichischen leicht schwarzen Humors. Sie schreckt auch vor Situationskomik und Cliffhangern nicht zurück. Zeitweise liest sich das Buch sogar ungemein spannend. Insgesamt ein ganz wunderbares Debüt!
Slata Roschal – 153 Formen des Nichtseins
Verlagstext:
Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin – das alles ist sie und gleichzeitig ist sie nichts davon. Bei der Erforschung des eigenen Identitätspluralismus sammelt sie Ebay-Anzeigen, die das Wort »russisch« enthalten, notiert Gespräche von Arbeitskolleg:innen, korrigiert Stellenaushänge, beobachtet russische Mütter in der Stadt und israelische Verwandte auf Facebook, besucht arabische Läden, diskutiert mit einem Logopäden, dolmetscht in einer Psychotherapie für Flüchtlinge, erinnert sich immer wieder an einen traumatischen kindlichen Zustand von Orientierungslosigkeit und Fremdbestimmung, betastet misstrauisch ihren Körper und fragt sich nach einer Definition und dem Wert des eigenen Daseins. Ein schonungsloses Romandebüt in Form einer Prosacollage voll bissigem Humor und sezierenden Alltags- wie Selbstbeobachtungen.
Homunculus, 176 Seiten,Hardcover, 22,00
Meine Meinung:
Slata Roschals Prosacollage – die Bezeichnung Roman wurde wohl nur aus marketingtechnischen Gründen gewählt – ist sicher das formal interessanteste Buch auf der Shortlist und kreist um die Selbsterforschungsversuche einer jungen Frau. Ksenia Lindau, russischer Herkunft, jüdischer Kontingentflüchtling, in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aufgewachsen, zweisprachig sozialisiert, mit ihren Vorstellungen von Weiblichkeit und ihrer Rolle als Partnerin und Mutter hadernd, spricht sich ausdrücklich gegen den „Biografismus“ aus. Interessanterweise ist es der Titel auf der Shortlist des Debütpreises, der sich aber am meisten mit Identität auseinandersetzt. Auch wenn er es auf andere Weise tut als die vielen Debütromane, die die eigene Herkunft und eine Art der Selbstermächtigung durch das Schreiben in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellen. Weniger als die Formen des eigenen Seins werden hier – der Titel verrät es – das Nichtsein oder auch das Dazwischensein in vielen kleinen Textbausteinen untersucht.
Slata Roschal ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin. Ksenias Selbstbestimmung geschieht deshalb nicht weiter verwunderlich über die Sprache. Eine Collage aus 153 kleinen Textsplittern, Notizen, Infotexten, Texten zu den Zeugen Jehovas, Listen, ebay-Kleinanzeigen etc. versucht die vielen Identitäten – oder eben Nicht-Identitäten -, die einen Menschen ausmachen, auf präzise, prägnante und lyrisch verdichtete Art zu fassen. Das ist sprachlich sehr gekonnt, rundet sich für mich allerdings nicht (und soll es wahrscheinlich auch gar nicht) zu einem Text, der mir Zugang zu Ksenia, ihrem Leben, ihrer Geschichte bietet.
Claudia Schumacher – Liebe ist gewaltig
Verlagstext:
Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf: Die Eltern sind Rechtsanwälte, sie ist Klassenbeste. Doch in der Kleinstadtvilla herrscht das Grauen. Der Vater drillt die Kinder auf Leistung, prügelt sie und seine Frau. Juli wird älter, fordert ein Ende der Gewalt, deren Realität von der Mutter vehement abgestritten wird. Einzig ihre Geschwister und eine Maus geben Halt. Doch wie kann man sich befreien, wenn man weder den Eltern noch den eigenen Erinnerungen traut? Die Befreiung gerät zum Feldzug – gegen die Eltern und das eigene Ich. Drei Jahrzehnte folgen wir Juli, die mit aller Macht versucht, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Ein eindringlicher Roman über Verletzungen und eine mögliche Heilung, voller Originalität und Wärme.
dtv, gebunden, 376 Seiten, € 22,00
Meine Meinung:
Claudia Schumacher erzählt ihre Geschichte über häusliche Gewalt und Mechanismen in dysfunktionalen Familien mit einer verblüffenden Souveränität. Viel recherchiert hat die Journalistin zum Thema, viele Interviews mit Betroffenen geführt. So gelingt ihr nicht nur ein spannender, literarisch gelungener Roman, sondern auch ein überzeugender, die typischen Verhaltensmuster in dysfunktionalen, an Gewalt leidenden Familien aufzeigender Text.
In drei Abschnitten, die zeitlich 2007, 2014 und 2016 verortet sind, lässt sie die zu Beginn siebzehnjährige Juli Ehre erzählen. Ihr Vater Kurt hat hinter der Fassade der Vorzeigefamilie im Einfamilienhaus ein wahres Schreckensregime errichtet. Der zu erschreckenden Gewaltausbrüchen neigende Narzisst hat die Rückendeckung seiner der Brutalität ebenfalls ausgesetzten Ehefrau. Das ist umso verblüffender, als diese nicht dem Klischee der finanziell abhängigen, unselbständigen Hausfrau entspricht, sondern eine weltläufige, gutaussehende, ebenfalls erfolgreiche Rechtsanwältin ist. Die vier Kinder haben jeweils eigene Strategien, die Gewalt und Herrschsucht des Vaters zu ertragen. Die älteste Tochter Alex zieht sich recht elegant aus der Affäre, verlässt sehr früh das Elternhaus, der Bruder Max versucht sich anzupassen und Juli selbst ist als jüngste Tochter, als Rechengenie und Eislaufprinzessin, die überall gut funktioniert, zunächst ziemlich verschont und Vaters Liebling. Am schlimmsten trifft es den Bruder Bruno, den „Rebell“ der Familie.
Der ersten Abschnitt, der Julis Kindheit und Jugend umfasst, beginnt in einer Reha-Einrichtung, in der sich Juli nach einem Selbstmordversuch wegen ihrer „generellen Unentschiedenheit, was das Weiterleben betrifft“ befindet. Mit einem verblüffend rotzigen Humor erzählt hier Juli selbst. Im nächsten Abschnitt hat sich Jules, wie sie sich nun nennt, in Berlin zum Mathematikstudium eingeschrieben, verdient gut als Profigamerin und trauert ihrer großen Liebe, der schillernden Aktivistin Sanyu, hinterher. Auch hier erzählt sie selbst, der Ton ist cool, rau. Im letzten Abschnitt finden wir dann Julia in einer Beziehung zum erfolgreichen Thilo, für den sie nur ein attraktives Accessoire für sein Leben in der Züricher Nobelwohnung zu sein scheint. Überraschend angepasst, auf Äußerlichkeiten bedacht und als Influencerin auf Instagram unterwegs, ist Julia sich hier anscheinend so entfremdet, dass nun in der 3. Person erzählt wird.
Sind die ersten beiden Teile wirklich sehr gelungen, fällt dieser dritte Teil ein wenig ab. Besonders Thilo ist sehr klischeebeladen, ein wahres Abziehbild männlicher Toxizität. Selbst der gewalttätige Vater wurde ambivalenter geschildert (vielleicht auch deshalb, weil die erzählende Juli durchaus auch ambivalente, liebevolle Gefühle für ihn hegt). Insgesamt ist Liebe ist gewaltig ein für ein Debüt überraschend souveräner Text, relevant, gut recherchiert und mit einem ganz eigenen Ton für jede seiner Zeitebenen. Eine sehr lohnende Lektüre!
Annika Büsing – Nordstadt
Verlagstext:
Im Norden der Stadt hängen die Hoffnungen so tief wie der Novemberhimmel. Wer hier liebt, rechnet nicht mit einem Happy End. Schon gar nicht Nene, Anfang Zwanzig und Bademeisterin, die für das Unglück eine ganz eigene Maßeinheit hat. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein. Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat und ihr nicht sofort an die Wäsche will. Boris, der an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt, nur Schimpfwörter oder Mitleid. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt. Ihr erstes Date wird prompt zum Debakel, aber Nene zeckt sich in Boris’ Herz, und er sich in ihres. Er kapituliert vor ihrer Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, sein Mädchen glücklich zu machen. Boris wird für Nene die Geschichtsschreibung ändern, er wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen. Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben. Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt eine herzzerreißende und gleichzeitig berauschend lebensbejahende Geschichte über alte Narben und den Mut, neue hinzuzufügen.
Steidl, 128 Seiten, Leineneinband, € 20.00
Meine Meinung:
Nenes Heimat ist das städtische Schwimmbad im Norden einer nicht näher bezeichneten Ruhrgebietsstadt. Kein Wellnesspalast, kein Spaßparadies, einfach Schwimmer- und Nichtschwimmerbecken, Kacheln, Chlorgeruch, Sperrholzumkleiden, passend zum Norden der Stadt, wo die Einkommen und die Chancen der Menschen kleiner sind als anderswo. Und doch ist es von klein auf Nenes Sehnsuchts- und Zufluchtsort. Hierhin floh sie vor ihrem gewalttätigen, oft betrunkenen Vater. Hier wurden zum ersten Mal die Spuren der Gewalt auf ihrem Körper entdeckt und ihr Hilfe angeboten. Verständlich, dass Nenes größter Wunsch nach der Schule eine Ausbildung zur Bademeisterin war. Und sie hat es geschafft, fühlt sich in der Bademeisterkabine so wohl wie früher im Becken. Der frühe Tod der Mutter, der brutale Vater, eine Vergewaltigung in jungen Jahren – Nene ist jetzt Mitte Zwanzig und hat diese Schicksalsschläge weitgehend hinter sich gelassen. Ein wenig rau ist sie geworden, ein wenig desillusioniert, aber auf keinen Fall hart. Der Tod der alten Frau Lübke, über viele Jahre treue „Dienstagsschwimmerin“, geht ihr so nah wie die Gewalt eines Vaters gegen seine kleine Tochter, die sie im Bad beobachten muss. Kollege Marlon, Freundin Genet und Halbschwester Alma – auf direkte, manchmal etwas schnodderige Art sind ihr die Menschen nah. Da kommt eines Tages Boris ins Schwimmbad und bittet um ein Schwimmbrett. Seine Beine sind seit einer Kinderlähmung deformiert, er hat oft Schmerzen. Zwischen den Beiden funkt es, aber es ist erwartungsgemäß keine einfache Liebesbeziehung, die Annika Büsing ihre Protagonistin Nene hier rückblickend erzählen lässt. Ihre Sprache ist authentisch, oft derb, lakonisch, aber manchmal auch ganz zart. Ich bin keine große Freundin von Liebes- und Sexgeschichten. Diese hier hat mich aber mitgenommen und sehr von sich überzeugt. Ein schönes Debüt!
Meine Wertung:
Und nun das Wichtigste, meine Punktevergabe:
1 Punkt geht an Annika Büsing – Nordstadt
3 Punkte gehen an Ursula Knoll – Lektionen in dunkler Materie
5 Punkte gehen an Claudia Schumacher – Liebe ist gewaltig
Wie geschildert lagen die drei Romane sehr dicht beieinander und auch die beiden ohne Punkte ausgegangenen Texte haben mir gefallen. Eine wirklich schwere Entscheidung.
Mehr über die diesjährige Entscheidung auf Das Debüt
And the winner is….
Ursula Knoll mit Lektionen in dunkler Materie
Ganz herzliche Glückwünsche und ich freue mich auf die Preisverleihung in Essen!
Ein Gedanke zu „Bloggerpreis für Literatur Das Debüt 2022“