Henning Sußebach – Anna oder Was von einem Leben bleibt

Immer wieder musste ich bei der Lektüre von Anna: oder Was von einem Leben bleibt – Die Geschichte meiner Urgroßmutter von Henning Sußebach an den Roman Schwebende Lasten von Annett Gröschner denken. Vieles ist unterschiedlich – das eine autobiografische Recherche, eher ein Sachbuch, das andere ein Roman; Anna wurde 1867 in einem nordrhein-westfälischen Dorf bei Soest geboren, Gröschners Hanna Krause in Ostdeutschland kurz nach der Jahrhundertwende; die wurde Dorfschullehrerin im Sauerland, die andere Kranführerin in Magdeburg. Und doch ist etwas ganz Entscheidendes gleich: Es sind Geschichten von Frauen, die sowohl in ihrer Einzigartigkeit als auch in ihrer Normalität viel zu wenig Beachtung finden und oft übersehen werden. „Was bleibt von einem Leben?“ fragt daher auch der 1972 geborene Journalist Sußebach in seinem so aufschlussreichen wie berührendem Buch.

Er hat sie nicht gekannt, diese Anna Kalthoff, die die Mutter seiner Großmutter werden sollte. Ein Porträtfoto von ihr steht am Anfang:

„Eine Studioaufnahme, Porträt im Halbprofil. Anna blickt aus dem Bild heraus wie auf ein unsichtbares Ziel. Große, klare Augen. Eher schmale Lippen. Sollte der Fotograf Anna darum gebeten haben, ein wenig zu lächeln, ist ihr das gelungen, mit einem Zug ins Spöttische statt ins Unterwürfige.“

Recherche

Anhand weiterer Fotos, Poesiealben, wenigen Erbstücken begibt sich Henning Sußebach auf die Spur dieser Unbekannten, die in vielen Dingen ein ganz gewöhnliches, in manchen aber auch ein ganz außergewöhnliches, selbstbestimmtes Leben geführt hat. Gegen viele Widerstände – der Gesellschaft, der Umstände, der Zeit. Sie gewinnt, obwohl als spröde verschrien, den begehrtesten Junggesellen von Cobbenrode, dem der Vater allerdings die Heirat mit Anna ausdrücklich verbietet, da sie keine „gute Partie“ ist. Erst nach dessen Tod verloben sich Anna und Clemens, nach 12 Jahren Wartezeit. 1903 heiraten die beiden endlich. 90 Tage später stirbt Clemens nach einem tragischen Unfall auf dem Hof. Anna ist nun Witwe, 38 Jahre alt und schwanger. Sie übernimmt das Gasthaus und die Poststation von ihrem verstorbenen Mann, mehr als ungewöhnlich für die damalige Zeit. Aus der Lehrerin wird eine Unternehmerin und Mutter. Henning Sußebach erzählt ihre Geschichte auch entlang der erstarkenden Frauenrechtsbewegung.

„Anna lebte in heute schwer fassbaren, unübersichtlichen Zeiten, womöglich zu wirr und widersprüchlich für ein klares Bild, das die Jahre überdauert. Sie war Bürgerin von vier Staaten. Königreich Preußen, Norddeutscher Bund, Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik. Sie durchlebte Währungsreformen, Börsencrashs und Inflation. Sie war Zeugin, als ein großer Krieg den Kontinent verheerte, als Monarchien stürzten und eine junge Demokratie um ihre Existenz kämpfte. Sie erlebte mit, wie die Industrialisierung einigen Wohlstand brachte und andere ins Elend rutschen ließ. Sie las von Männern, die sich in wackligen Fluggeräten an die Eroberung des Himmels machten. Sie sah die ersten Autos fahren. Sie hörte, wie plötzlich Stimmen von Radiowellen übertragen wurden. Anna war dabei, als die Welt sich weitete, die Räume für eine Frau wie sie aber eng blieben.“

Generell begleitet der Autor die Stationen von Annas Leben mit historischen Ereignissen, Entwicklungen, Stimmungsbildern. Das hilft, dieses Leben in den Lauf der Geschichte, das Weltgeschehen einzuordnen. 1909 heiratet Anna erneut, diesmal den 19 Jahre jüngeren Lehrer des Ortes, ihren Nachfolger. Man redet. Mit 45 wird Anna nochmals Mutter einer kleinen Tochter, Maria, eine Risikogeburt, die viele Jahre später Henning Sußebachs Großmutter werden soll.

„Es ist ein uralter Spruch, Ursprung unbekannt und etwas in Vergessenheit geraten, so wie uns das Bewusstsein dafür verloren gegangen ist, dass wir ohne die Ideen, den Mut und das Durchhaltevermögen unserer Vorfahren heute nicht das Leben, die Rechte, die Freiheiten und Möglichkeiten hätten, die wir haben und die uns manchmal allzu selbstverständlich erscheinen.

Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen.

Und auf denen von Riesinnen.“

Eine mutige, selbstbestimmte Frau

Henning Sußebach ist sich der Unsicherheiten und der Mängel seiner Recherche durchaus bewusst. Er macht klar, dass trotz all der Sorgfalt, die er darauf verwendete, „seine“ Anna bloß eine Rekonstruktion sein kann. Eine Annäherung an eine mutige, selbstbestimmte Frau.

„Kein Leben verläuft so. In Wirklichkeit wurde Anna nicht von Anmerkungen eines Verfassers begleitet. Im Live-Modus fand alles ohne meine Kommentare statt. Auch hat Anna nicht pausenlos gegen Erwartungen ihres Umfelds verstoßen oder andauernd gängigen Pflichten entsprochen, die ihr der Zeitgeist auferlegte. Denn tatsächlich gibt es während eines Lebens zwar „Stationen“, aber es stehen nicht in regelmäßigem Abstand Haltestellen herum.“

Es ist wunderbar, dass Henning Sußebach unter dem Motto „Was von einem Leben bleibt“ seiner Urgroßmutter Anna nachgeforscht hat und ihre Geschichte voller Höhen, Tiefen, Mut und Resilienz vor dem Vergessen bewahrt hat und mit Fotografien im Buch bereichert. Etwas, das wir im Kleinen, ohne gleich ein Buch darüber zu veröffentlichen , mit unseren Vorfahren ebenso tun könnten. Es muss ja nicht die Urgroßmutter sein, vielleicht noch lebende Personen, die man fragen, mit denen man sprechen kann.

„An einem bestimmten Tag, zu einer festen Stunde, fehlt dem Herz die Kraft für einen nächsten Schlag, versiegen die Hirnströme, stellt ein Arzt einen Totenschein aus und bestätigt damit amtlich ein Ende, das insofern keins ist, weil in genau diesem Moment das zweite Sterben beginnt: Der Mensch wird vergessen.(…) Der zweite Tod erwischt zuerst jene, die wir Normalbürger nennen. Unsere Erinnerung liebt die Extreme, sie ist kriegslüstern, sensationsgierig und königstreu. Feldherren, Massenmörder und Cäsaren lässt sie länger leben.“

Anna stirbt 1932 an einem Tumor ihren ersten Tod. Der zweite lässt dank ihrem Urenkel hoffentlich noch lange auf sich warten.

Beitragsbild unter Verwendung einer Fotografie von Anna aus dem Buch.

Henning sussebach - Anna oder: Was von einem Leben bleibt.

Henning Sußebach – Anna oder Was von einem Leben bleibt
Die Geschichte meiner Urgroßmutter
C.H.Beck Juli 2025, Hardcover, 205 Seiten, € 23,00

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