Anne Enright – Vogelkind

„The wren, the wren“ lautet der Originaltitel des neuen Romans Vogelkind der irischen Booker-Preisträgerin Anne Enright und ist auch der Titel eines Volkslieds über den kleinen, gesangsstarken Zaunkönig. „Vogelkind“, so nennt der Vater Phil seine Tochter Carmel. Und Vögel spielen eine sehr große Rolle, nicht nur hier in der Romanhandlung, sondern auch in den Naturgedichten von Phil McDaragh, der als einer der großen Dichter Irlands galt. Er ist ein fiktiver Charakter, aber Anne Enright streut immer wieder „seine“ Gedichte zwischen die einzelnen Kapitel, ergänzt durch altirische Lyrik.

Der verstorbene Phil McDaragh ist die große Leerstelle, um die das Buch und das Leben seiner zwei Protagonistinnen kreist. Da ist einmal seine Tochter Carmel, die den Verlust schon ihr ganzes Leben spürt, seitdem ihr Vater die Familie Knall auf Fall verlassen hat, um in den USA als gefeierter irischer Dichter zu residieren. Seine Frau Terry lag zu der Zeit geschwächt durch Krebserkrankung und Brustamputation danieder. In späteren Interviews formulierte er diese Episode in seinem Leben immer so: seine Frau sei krank geworden und und die Ehe habe das einfach nicht überlebt. Als wäre das eine ganz unvermeidbare Entwicklung gewesen. Wie die Familie durch sein Fortgehen zerbrochen ist und das Leben sowohl seiner Tochter als auch seiner nachgeborenen Enkelin dadurch bestimmt wurde, dem nähert sich Anne Enright sprachgewaltig, ironisch, überraschend.

Eine Leerstelle

Carmel war damals 12, ihrer älteren Schwester Imelda fiel die Pflege der erkrankten Mutter zu. Imelda blieb bis zum viel späterem Tod von Terry an diese gebunden, Carmel hingegen entwickelte sich zu einem unabhängigen, eigenständigen und pragmatischen Menschen. Zu Männern fasste sie allerdings nie viel Vertrauen, zog ihre Tochter Nell später allein groß. Carmel und Nell, die als Ich-Erzählerin Anfang 20 auftritt, erhalten abwechselnd eigene Kapitel, die auch durchaus unterschiedliche Perspektiven auf die Familie und die Welt enthalten.

„Wir gehen nicht durch die gleiche Straße wie der Mensch an unserer Seite. Wir können nicht mehr tun als ihm zu sagen, was wir sehen. Wir können auf Dinge zeigen und versuchen, sie zu benennen. Wenn wir es geschickt anstellen, erlebt unsere Begleitung die Welt auf eine neue Weise, und dann kommt es zu einer echten Begegnung.“

In den in der dritten Person gehaltenen Carmel-Kapiteln schauen wir in deren Kindheit und Jugend zurück. Ich-Erzählerin Nell arbeitet als Verfasserin von Social Media Posts für Travel-Influencer:innen und hat ihren Platz im Leben noch nicht richtig gefunden. Zu Felim entwickelt sie eine toxische Beziehung, zu ihrem nie gekannten, verstorbenen Großvater eine fast zärtliche Bindung. Phil McDaragh bekommt später im Roman unverhofft ein eigenes Kapitel, in dem er von seiner Kindheit erzählt. Anne Enright schafft für beide Protagonistinnen je eigene, stimmige Sprachen. Das ist auch sehr gut von Eva Bonné übersetzt worden. Vogelkind ist im typischem unsentimental-trocken-komischen Stil von Anne Enright verfasst. Klug und sprachlich sehr überzeugend. Dennoch konnte mich das Buch nicht ganz mitnehmen. Die Protagonist:innen blieben mir fremd und meistens unverständlich. Einen wirklichen Zugang zu ihnen konnte mir die Autorin leider nicht verschaffen.

 

Beitragsbild by Huhu Uet, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

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Anne Enright - Vogelkind.

Anne Enright – Vogelkind
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin 2025, Hardcover, 304 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

 

 

 

 

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