Im September war ich sehr oft unterwegs. Es gab einige literarische Termine. So war ich Anfang des Monats in Berlin, um beim LCB-Sommerfest am Wannsee 75 Jahre Suhrkamp Verlag zu feiern. Mitte des Monats ging es dann nach Südtirol, um im Marmorstädtchen Laas dem Franz Tumler Literaturpreis zu folgen. Das war ein ganz außergewöhnlich schönes Erlebnis. Ende des Monats hatte ich dann das Vergnügen eine Woche lang die Wiesbadener Literaturtage, kuratiert vom tschechischen Autor Jaroslav Rudiš, zu begleiten. Auch das eine ganz großartige Veranstaltung. Dennoch habe ich auch im September 2025 einiges gelesen und gehört, das ich euch gerne hier vorstellen möchte. Weiterlesen „Lektüre September 2025“
Kategorie: Rezensionen
Katrina Tuvera – Die Kollaborateure – Kurz vorgestellt
In diesem Jahr sind die Philippinen Gastland bei der Frankfurter Buchmesse. Wie bei jedem Gastland werden zu diesem Anlass außergewöhnlich viele Übersetzungen ins Deutsch präsentiert. So auch zum ersten Mal ein Buch der Nationalpreisträgerin Katrina Tuvera, Die Kollaborateure. Darin erzählt die Autorin über die stark postkolonial geprägte Geschichte ihres Landes anhand einer Familie. Mehr als 300 Jahre unter spanischer Herrschaft, amerikanische Kolonie bis 1946, brutale Besatzung durch Japan im Zweite Weltkrieg – die Philippinen standen seit dem 16. Jahrhundert durchgehend unter Fremdherrschaft. Und rutschten nach der Unabhängigkeit 1946 von einer starken Abhängigkeit von den USA in die zunehmend diktatorische Herrschaft von Ferdinand Marcos und seinem Clan. Der durchschnittliche Lesende wird eher wenig Kenntnis über die philippinische Geschichte haben. Da ist das sachkundige Nachwort von Annette Hug sehr hilfreich. Ein bisschen Recherche im Internet kann auch nicht schaden. Weiterlesen „Katrina Tuvera – Die Kollaborateure – Kurz vorgestellt“
Marko Dinić – Das Buch der Gesichter
Das Buch der Gesichter von Marko Dinic war unter den für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Romanen mit 464 Seiten der weitaus umfangreichste und sowohl inhaltlich als auch formal sicher auch einer der anspruchvollsten. In acht stilistisch unterschiedlichen Kapiteln aus verschiedenen, sich ergänzenden oder auch widersprechenden Perspektiven werden die Ereignisse an einem ganz bestimmten Tag erzählt.
Es ist ein Sommertag im Jahr 1942 in Belgrad oder genauer gesagt im bis nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängigen Vorörtchen Zemun. Kein x-beliebiger Sommertag, sondern der Tag, an dem Serbien vom SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, für „judenfrei“ erklärt wurde. Serbien war damit der erste Staat im damaligen Dritten Reich, der von sich behauptete, die „Endlösung der Judenfrage“ erreicht zu haben. Angesichts der neuerlichen Bestrebungen, Geschichtsrevisionismus zu betreiben, nicht nur, aber gerade auch in Serbien, und das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus zu schönen oder zu unterdrücken, ist Das Buch der Gesichter nicht nur ein historisch wichtiges, sondern sehr aktuelles Buch. Weiterlesen „Marko Dinić – Das Buch der Gesichter“
Jacqueline Kornmüller – 6 aus 49 – Kurz vorgestellt
Jacqueline Kornmüller, Theaterregisseurin und Schauspielerin, hat mich mit ihrer von Kat Menschik reizvoll illustrierten Novelle Das Haus verlassen bezaubert. Ein wenig schräg, ein wenig skurril, ein wenig poetisch und zärtlich. Auch ihren Debütroman hat Kat Menschik mit einem schönen Cover geschmückt. Jacqueline Kornmüller erzählt darin von ihrer 1911 in Niederbayern in einer großen Familie und in großer Armut aufgewachsenen Großmutter Lina, die sich mit viel Fleiß und Arbeit und einer ganzen Portion Glück zur Hotelière und Dank 6 aus 49 zur vermögenden Frau gemacht hat. Weiterlesen „Jacqueline Kornmüller – 6 aus 49 – Kurz vorgestellt“
Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern
Hafenstadt Hamburg in den 1930er Jahren. Spätestens seit dem 30. Januar 1933 treten die braunen Horden auch in der als „rot“ bekannten Stadt immer ungenierter auf. Das bekommen alle Einwohner immer deutlicher zu spüren, besonders aber natürlich die jüdischen Mitbürger und die randständigen, die marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Für letztere interessiert sich die Autorin Anja Kampmann in ihrem großartigen, prallen Roman Die Wut ist ein heller Stern besonders. Es sind die etwas zwielichtigen Etablissements, die ärmlichen Stuben der Arbeiterviertel, die Glitzerwelt der heruntergekommenen Revuetheater, die Bordelle und kommunistischen Sportclubs, die dunklen Hinterhöfe, in denen die Handlung verortet ist. Der Roman legt dabei den Fokus auf die Frauen. Viel zu wenig thematisiert werden nach wie vor die Repressalien und die Verfolgung, die beispielsweise die Prostituierten, Tänzerinnen und Akrobatinnen der Reeperbahn erleiden mussten. Weiterlesen „Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern“
Paul Garbulski – Punch – Kurz vorgestellt
Rummel, Jahrmarkt, Kerb – die Älteren von uns und vor allem die vom Dorf oder aus der Kleinstadt können vielleicht noch nachfühlen, welch besonderes Gefühl es war, zwischen Losbuden, blinkenden Lichtern des Autoscooters, den durcheinander tönenden Popsounds der Raupenbahn, den Schlagern vom Kinderkarussell und den Warnsirenen der Fahrgeschäfte, zwischen den Düften von gebrannten Mandeln und Bratwürsten, mit klebrigen Händen von der Zuckerwatte und schmerzenden Zähnen von der Süße der Liebesäpfel über dieses meist nur einmal im Jahr stattfindende Ereignis zu schlendern. Heute, in Zeiten der Freizeitparks, der Groß-Events und kaum zu überbietenden Veranstaltungsvielfalt erscheinen diese Jahrmärkte fast ein wenig anachronistisch. Ähnlich wie der Zirkus. Und vergessen werden oft die Menschen, die hinter diesen Veranstaltungen stehen und deren Leben oft nicht gerade einfach ist, die von der Gesellschaft vielfach sogar ein wenig schräg angesehen werden. „Fahrendes Volk“ hat man sie früher nicht gerade anerkennend genannt. Paul Garbulski hat diesen Menschen mit Punch einen liebevollen, gelungenen Roman gewidmet. Weiterlesen „Paul Garbulski – Punch – Kurz vorgestellt“
Jehona Kicaj – ё
„Nach dem Aufwachen habe ich einen Splitter im Mund.“ Das Ergebnis eines intensiven Bruxismus, der der Ich-Erzählerin vom Arzt attestiert wird, eines starken Zähneknirschens, bei dem der Zahnschmelz zerstört wird. Dabei ist Zahnschmelz die härteste Substanz des Körpers. Bruxismus und die damit verbundene Knorpelschädigung kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass schmerzfreies Kauen und Sprechen nicht mehr möglich ist. Sprachlosigkeit wäre also eine Folge, dabei zieht sich Sprachlosigkeit und Schweigen bereits durch das Leben der Erzählerin, Kind von nach Deutschland geflüchteten Kosovo-Albanern. Schweigen über die Herkunft, den Krieg, allmählicher Verlust der Muttersprache. Jehona Kicaj wählt für ihren eindringlichen, poetischen Roman den Buchstaben ё als Titel, einen Buchstaben, der in der albanischen Sprache omnipräsent ist, oft aber gar nicht ausgesprochen wird. Weiterlesen „Jehona Kicaj – ё“
Literatur im Marmordorf – Der Franz-Tumler-Literaturpreis in Laas
Zum zehnten Mal wurde im September 2025 der Franz-Tumler-Preis für ein deutschsprachiges Debüt in Laas/Südtirol verliehen
Von 2017 bis 2023 war ich Mitglied der Bloggerjury für den Literaturpreis Das Debüt, den es leider nicht mehr gibt. Meine Liebe zu literarischen Debütromanen wurde spätestens hier geweckt. Wie viele spannende neue erste Verlagsveröffentlichungen es jedes Jahr gibt, wie unterschiedlich die Autor:innen diese sprachlich gestalten, welche vielfältigen Themen sie wählen – das begeistert mich immer wieder. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, als im Frühjahr die Anfrage kam, ob ich den Franz-Tumler-Preis, der jedes zweite Jahr in der kleinen Vinschgauer Gemeinde Laas verliehen wird, im Jubiläumsjahr 2025 begleiten möchte. Weiterlesen „Literatur im Marmordorf – Der Franz-Tumler-Literaturpreis in Laas“
Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule
Wie schreibt man über eine Katastrophe, ein Unglück, ein schreckliches Ereignis, das unsägliches Leid hervorgerufen hat, ohne voyeuristisch zu sein, sich dieses Ereignisses nur zu bedienen? Und wer darf darüber schreiben? Nur Betroffene? Und wie betroffen muss man sein, um es zu dürfen, es zu können? Fragen, die sich der Autor Kaleb Erdmann in seinem zweiten Roman Die Ausweichschule stellt. Er, der selbst am 26. April 2002 als Schüler des Gutenberg Gymnasiums in Erfurt Zeuge des Anschlags eines Ex-Schülers war, der elf Lehrern, einer Referendarin, einer Sekretärin, zwei Schülern und einem Polizeibeamten das Leben nahm und die Stadtgesellschaft Erfurts und ganz Deutschland tief und nachhaltig erschütterte.
Mathijs Deen – Die Lotsin
2022 erschien Mathijs Deens erster Krimi „Der Holländer“ und war gleich ein großer Erfolg. Dabei wollte Deen eigentlich gar keine Krimis schreiben. Ein wenig ist das den Nachfolgebänden „Der Taucher“ und „Der Retter“ anzumerken. Denn auch wenn sie jeweils spannende Kriminalfälle schildern, ist ihnen die Charakterzeichnung und der Schauplatz – das Wattenmeer der Nordsee – wichtiger. Auch in Die Lotsin nähert sich Mathjis Deen ganz langsam seinen Figuren und lässt dem Meer viel Raum. Diesmal ist neben Schauplätzen in Kiel, Helgoland, Cuxhaven, Grönland und Texel das Schiff Anthropocene Schauplatz des Geschehens. Weiterlesen „Mathijs Deen – Die Lotsin“