Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum

Der 85-jährige und mittlerweile schwer kranke Hark Bohm ist vor allem als Regisseur und Filmproduzent (zum Beispiel von Nordsee ist Mordsee oder Yasemin) bekannt, trat aber auch als Schauspieler auf und verfasste zahlreiche Drehbücher. Die nun erschienene Kindheitserinnerung Amrum lag auch zunächst als Drehbuch vor (und wird aktuell von Fatih Akin mit Diane Kruger verfilmt; voraussichtlicher Filmstart September 2025), zusammen mit dem Autor Philipp Winkler hat Hark Bohm daraus nun auch einen Roman gemacht. Meine vorurteilsbeladenen Bedenken wegen Doppelautorenschaft (die hier wegen des angegriffenen Gesundheitszustand Bohms nötig wurde) und dem Gedankenimpuls „schon wieder ein Schauspieler/Regisseur etc. der einen Roman schreiben will“, wurden gleich zu Anfang zerstreut. Amrum ist ein wunderbar leises, etwas wehmütiges, warmes Buch über eine Kindheit auf Amrum, die sicher vieles gemeinsam hat mit derjenigen des Autors.

Der Hauptprotagonist in Amrum ist der Junge Nanning, der, seitdem der Vater im Krieg ist, als ältester Sohn der „Mann im Haus“ ist und kräftig mit anpacken muss, mit seinen zwölf Jahren aber natürlich noch zu jung ist, um diese Verantwortung schultern zu können. Da ist der kleine Bruder und die Mutter ist auch schon wieder hochschwanger. Zum Glück hat Nanning Arbeit bei der Bäuerin Tessa gefunden. Und zusammen mit seinem besten Freund Hermann fängt er Schollen im flachen Wasser und klaut den Enten die Eier aus dem Nest, um genug zu essen auf den Tisch zu bringen. Tante Ena hilft mit, die Familie durchzubringen. Auch wenn sie mit den Ansichten ihrer Schwester oft nicht übereinstimmt.

Eine nationalsozialistische Familie

Hille Jessen ist eine überzeugte Nationalsozialistin, BDM-Führerin und hält auch jetzt, 1945, wo sich die Niederlage Deutschlands kaum noch verdrängen lässt, die Alliierten quasi vor der Haustür stehen, die englischen und amerikanischen Bomber fast jede Nacht die Insel überfliegen und scharenweise Flüchtlinge aus dem Osten ankommen, noch eisern zu ihrem „Führer“. Als Nanning ohne böse Absicht davon erzählt, dass Tessa meinte, der Krieg sei zum Glück bald zu Ende, zeigt die Mutter diese an. Nur weil Tessa für die Versorgung der Insel so wichtig ist, bleiben ihr Konsequenzen erspart. Für Nanning bedeutet dies aber das Ende seines Zuverdienst – keine Butter mehr und keine Eier.

Auch der Vater ist als SS-Obersturmführer fest auf NSDAP-Linie und der Onkel auf der Nachbarinsel Föhr ein hohes Tier in der Partei. Ganz anders der Großvater von Hermann, Opa Arjan, der mit dem „braunen Pack“ nichts zu tun haben will. Und Nannings Onkel Theo ist schon lange nach Amerika emigriert. Überhaupt sind viele Amrumer in den vergangenen Jahrzehnten ausgewandert, haben auf ihrer Insel für sich keine Zukunft mehr gesehen. Die aus dem Osten Geflüchteten sehen die Einwohner auf ihrer Insel aber trotzdem nicht gern. Und diese begegnen den Insulanern auch teils feindselig.

Zeitenwende

Es ist eine Zeitenwende, die Nanning in so manchen Loyalitätskonflikt stürzt. Er liebt seine Mutter sehr, spürt aber, dass ihr Fanatismus nicht richtig ist, bekommt immer mehr Zweifel. Nachdem Hitler Selbstmord verübt hat und das Deutsche Reich kapituliert, bricht Hille Jessen völlig zusammen, scheint dem Wahnsinn zu verfallen oder der Depression, kümmert sich kaum um ihr Neugeborenes. Auch für dieses kleine Geschwisterkind fühlt sich Nanning nun verantwortlich. Eine große Stütze sind ihm Hermann und Opa Arjan. Hark Bohm hat mit Amrum auch eine große Freundschaftsgeschichte verfasst. Und seine sinnlichen Landschaftsbeschreibungen, in denen das Dünengras weht, die Möwen durch die Luft gleiten und die Brandung rauscht, sind so atmosphärisch, dass man das Salz in der Luft schmeckt und die Wattwürmer unter den nackten Fußsohlen spürt.

Eine Hommage an die Insel Amrum, ein Erinnerungsbuch, ein teils bitterer Blick auf die eigenen familiären Verstrickungen in die NS-Gräuel und nicht zuletzt auch eine Insel-Abenteuergeschichte mit norddeutscher Lakonie und Zungenschlag. Ein richtig schönes Buch.

Lektüre September 2024

Beitragsbild: Wolfgang Pehlemann, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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Hark Bohm - Amrum.

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Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum
Ullstein April 2024, Hardcover, 304 Seiten, 23,99 €

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum

  1. Liebe Petra, danke für diesen Lesetipp, ich bin ja inzwischen siebzig Jahre alt und liebe Kindheitserinnerungen – vielleicht weil ich die Enkel aufwachsen sehe und oft Vergleiche zu meinen Erlebnissen im Kopf finde und/oder suche.
    Ganz liebe Grüsse
    Angela vom Literaturgarten

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