Brigitte Kronauer – Der Scheik von Aachen
„Der Scheik von Aachen“ – zunächst einmal ein ziemlich ungewöhnlicher Titel, der sich aber schon mit dem Blick auf den Klappentext erklärt: Es ist Wilhelm Hauffs Märchenzyklus „Der Scheik von Alessandria“, der dem neuen Roman von Brigitte Kronauer bei der Namensgebung Pate stand.
Hauff erzählt darin von eben jenem besagten Scheik, dessen geliebter Sohn eines Tages entführt wird. Der Herrscher stürzt daraufhin in große Trauer. An jedem Jahrestag entlässt er daraufhin Sklaven in die Freiheit. Nicht ganz uneigennützig, denn bevor sie gehen, müssen sie ihm eine Geschichte erzählen. Ein Erzählen wider die Trauer und den Schmerz.
In Kronauers Text ist es Anita Jannemann, die, nach Jahren in Zürich gerade wegen einer neuen Liebe in ihre Heimatstadt Aachen zurückgekehrt ist, die dieses Erzählen übernimmt.
Die alte Tante Emmi lebt seit dem Tod ihres Sohnes Wolfgang, als dieser zwölf Jahre alt war, in tiefer Trauer. Eine Trauer, die aber niemals angesprochen werden durfte. Selbst die Erwähnung von Wolfgang war tabu.
„Schon bei dem Wort ‚Hofgang‘, sogar bei ‚Walfang‘, wurde man rot vor Schreck.“
Nun ist auch Emmis Mann schon lange tot, eine resolute Polin kümmert sich um Tante und Haushalt und führt ein strenges Regiment. Anitas Besuch zum Tee am Samstagnachmittag werden zur Institution, an der über Gott und die Welt, Anitas Liebe zum kernigen Hobbybergsteiger Mario, ihren Job im Devotionalienhandel des undurchsichtigen Herrn Mahrzahn und die Nachbarn ringsum geplaudert wird. Ein wenig Klatsch und Tratsch gegen die Zumutungen der Welt. Nur über den großen Verlust, der auch Anita betrifft, trägt sie doch seitdem eine heimliche Schuld mit sich herum, wurde sie doch danach quasi als „Ersatzkind“ immer wieder zu Tante und Onkel geschickt (und las sie doch gerade als die Unglücksnachricht eintraf den „Scheik von Alessandria), über diesen tragischen Unglücksfall darf nicht gesprochen werden. Zumindest von Anita nicht.
Weite Teile des Buches sind diesen Besuchen und Gesprächen gewidmet. Sie sind spitzzüngig und anspielungsreich, spöttisch und zugleich warmherzig und boshaft. Genauso wie Anitas Selbstdurchleuchtung. Anita ist genau wie das gesamte Personal reichlich schrullig. Die Liebe ist das zentrale Element in ihrem Leben, war sie doch nach eigenen Angaben fast ohne Unterbrechung immer verliebt, nur halt nie für lange.
„Denn jedesmal gab es schon bald etwas Quälendes. Was ich so brennend wünschte, wurde nicht erfüllt. Deshalb musste ich weiter.“
Auch Mario wird ziemlich bald aus ihrem Leben verschwinden.
Überhaupt ist das Buch angefüllt mit Verlusten und der Trauer darum. Neben Emmi und Anita gibt es da noch einige Männergestalten, allesamt Witwer. Bestehende Beziehungen sind zunächst nicht vorgesehen, im Laufe des Buches werden aber welche entstehen.
Insgesamt passiert wenig in diesem Roman, viel wird geredet, in der eigenen und der Seele anderer geforscht, Erinnerungen getauscht. Es geht um die Macht des Erzählens, der Sprache, der Legenden, um Verlust, Trauer und die Liebe.
Und die beherrscht Brigitte Kronauer aufs vortrefflichste. Wortwitz und brillante Formulierungen zuhauf. Eine zweite Erzählstimme fällt immer wieder dazwischen, kommentiert, liefert Informationen. Schon zu Beginn meldet sie sich:
„Schon drängen sich drei Fragen auf. Vor wem fürchtet sich Anita? Vor Emmi. Zu wem spricht sie? Zunächst zu sich, dann zu Ihnen, jawohl, zu Ihnen, auch wenn Sie für Anita noch viel fiktiver sind als umgekehrt. Für wen schneidet sie das Fleisch? Für ein Gulasch.“
Auch die leicht spillerige Tante Emmi fährt öfter mal auf nicht ganz dezente Art dazwischen:
„“Brr!“ ruft Emmi. “Schluss und punktum mit dem Stuss! Warum peinigst du mich mit Scheißdreck? (…) Sofort aufhören mit dem Blödsinn!“
Brigitte Kronauer vereinigt so Tragik und Komödie. Der Text bekommt etwas Burleskes.
Das ist vielleicht mit ein Grund, warum mich der Roman trotz aller Kunstfertigkeit nicht wirklich erreichen konnte, mir gegen Ende sogar Unbehagen bereitet hat. Die Charaktere haben mich niemals wirklich eingeladen, sie zu verstehen, gar mitzufühlen, Anteil zu nehmen. Sie blieben für mich Figuren, die auf ihrer Bühne auf- und wieder abtraten. Und bei aller Originalität und allem Können der Autorin ein tiefes Gefühl der Unzufriedenheit zurückließen.
Brigitte Kronauer – Der Scheik von Aachen
Klett-Cotta September 2016, gebunden, 399 Seiten, € 22,95
Ich glaube, man ist entweder Fan von Kronauer oder lehnt sie total ab. Ähnlich vielleicht auch bei Mosebach …
Ich mochte z.B. Teufelsbrück sehr gern. Kann aber sein, dass sich meine Lesegewohnheiten seitdem geändert haben.
Genau, das mochte ich auch sehr … mal schauen, ich habe den Scheik noch vor mir …
Nach Martin Mosebachs gefälliger Empfehlung auf der Buchmesse stand dieser Text bei mir schon fast ganz oben auf der Liste; ist nun aber wieder etwas abgesackt. Vielen Dank für die ernüchternden Einsichten, vielleicht doch nicht etwas ganz Großem aufgesessen zu sein.
Das Buch hat in der Literaturkritik durchweg positive Resonanz gefunden, nicht nur bei Mosebach. Ich mochte es trotzdem nicht (aber ich mag auch Mosebach ehrlich gesagt nicht). Es ist wirklich gut gemacht, aber der Ton und Tenor sind einfach nicht meine.