Jessica Lind – Kleine Monster

Das Thema Mutterschaft stand schon im Debütroman im Mittelpunkt – eine einsame Waldhütte war damals Schauplatz, um die Träume und Ängste, Überforderungen und die Selbstentfremdung einer Mutter in ein leicht surreales, märchenhaftes Setting zu verlegen und viele unterschiedliche Herangehensweisen und Interpretationen des Textes zuzulassen. Nach Mama hat Jessica Lind nun erneut eine Mutter (und am Rande, wie im Debüt, auch einen Vater) zur Hauptfigur ihres neuen Romans Kleine Monster gemacht.

Welche Eltern haben nicht hin und wieder angesichts ihrer Nachkommenschaft gedacht: „Diese kleinen Monster!“ Aber wann kippt diese zeitweilige Überforderung angesichts der Eigenwilligkeit der Kinder in eine tiefempfundene Fremdheit? Wann ist der Punkt erreicht, dass Eltern ihre eigenen Kinder nicht mehr verstehen können oder wollen, sie ihnen unheimlich werden und das Vertrauen abhandenkommt?

Bei Pia, der Ich-Erzählerin in Kleine Monster, deren Sicht auf das Geschehen wir ausschließlich folgen, schleicht sich schon überraschend früh ein Misstrauen gegenüber ihrem siebenjährigen Sohn Luca ein. Dieser hat sich angeblich vor einer Mitschülerin gegen deren Willen entblößt. Die Schule und die Lehrerin gehen behutsam mit diesem „Vorfall“ um, aber die anderen Eltern sind empört und Pia wird aus der Whatsapp-Gruppe entfernt. Luca selbst schweigt eisern. Pia vermutet, er lügt. Sie reagiert darauf fast panisch. Als Leserin hegt man bald den Verdacht, dass Pias eigene Kindheit bei dieser Überreaktion eine Rolle spielt, zumal sie ihrem Mann, dem Musiker Jakob dessen „Bullerbü-Kindheit“ vorwirft, die ihn unfähig mache, Abgründe im Kind zu sehen.

Kindheitstrauma

Nach und nach wird mehr von Pias Kindheit und schließlich ein schweres Trauma aufgedeckt. Pia war die älteste von drei Schwestern. Ihre Adoptiv-Schwester Romi war nur wenige Monate jünger. Eine glückliche Familie bis die vierjährige Linda eines Tages im See ertrinkt. Während Romi dort mit ihr spielte und fortan von der Familie mehr oder weniger unbewusst die Last der Schuld aufgebürdet bekam, lag Pia krank im Bett. Die Familie zerbricht, zumindest innerlich. Während Pia ihrem Vater Gleichgültigkeit vorwirft, beschuldigt sie die Mutter, Romi fortan strenger und abweisender behandelt, sogar Gewalt gegen sie angewandt zu haben. Dabei hegt auch Pia ein gewisses Misstrauen gegenüber ihrer Schwester, beschuldigt sie, eifersüchtig auf Linda gewesen zu sein. Dieser ganze Gefühlswirrwarr wird aber nie ausgesprochen. Schweigen und Verdrängung scheinen wie so oft leichter.

„Es gibt Dinge, die werden nicht mehr gut. Schon gar nicht, wenn man sie ans Licht bringt. Ich halte inne. Vielleicht ist Lucas Schweigen ja so gemeint. Er will uns vor der Wahrheit schützen.“

Romi ist daraufhin schon als junges Mädchen zu einer Freundin gezogen, der Kontakt zur Familie bricht sehr bald ab, heute ist sie eine bekannte Influencerin und Moderatorin.

Abgründe

Durch den Vorfall mit Luca, der in der Schulgemeinde sehr schnell vergessen wird, aber Pia auf ungute Weise weiter umtreibt, kommen diese Kindheitserinnerungen wieder hoch. Die missglückte Trauerbewältigung der Familie hat bei Pia zu starken Verlustängsten und Misstrauen geführt. Was, wenn Romi damals doch etwas mit Lindas Ertrinken zu tun gehabt hat? Und was, wenn ein solcher kindlicher Abgrund auch in Luca steckt? Pia reagiert völlig irrational und zunehmend beängstigend. Sie sieht ihren Sohn wie eine Erweiterung ihrer selbst, der sie zutiefst misstraut.

„Jakob sieht nicht, was ich sehe. Weil er das Dunkle nicht kennt. Aber ich kenne es, und wenn Luca auch so ist, dann ist er es wegen mir. Wegen meiner Familie. Seit Lindas Unfall tragen wir einen Abgrund in uns.“

Die wachsende Unheimlichkeit und Bedrohung weiß Jessica Lind wie schon in Mama auch in Kleine Monster perfekt zu inszenieren und zunehmend zu steigern. Beim Lesen beginnt man selbst Pia zu misstrauen, ihre Erzählung zu hinterfragen. Der rasanten Entwicklung steht eine sehr klare, ruhige Sprache gegenüber, die die Geschichte in Richtung Psychothriller lenkt. Auch hier ist das Erzählen von Jessica Lind die auch Drehbuchautorin ist und an der Filmakademie Wien studiert hat, wie bereits im Debüt sehr filmisch. Ein wirklich überzeugender Zweitling, der mich schon auf das dritte Buch der Autorin freuen lässt.

 

Beitragsbild via pixnio

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Jessica Lind – Kleine Monster
Hanser Berlin Juli 2024, 256 Seiten, Hardcover, 24,00 €

 

 

 

 

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