Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre

Das Jahr 2024 habe ich mit einem Roman begonnen, der mich total begeistert hat und der dennoch bei den Nominierungen zu den „großen“ deutschen Buchpreisen völlig leer ausging. Absolut unverständlich, da Unsereins von Inger-Maria Mahlke wirklich von überragender Qualität war – klug, witzig, anspielungsreich, formal perfekt. Und auch 2025 habe ich mit einem Roman gestartet, der bisher noch nirgends nominiert war, obwohl er von ebenso großer Kunstfertigkeit ist – Monika Zeiner mit Villa Sternbald.

Auch sonst haben die beiden Romane etwas gemeinsam: sie erweisen dem Jubiläumsschriftsteller dieses Jahres, Thomas Mann, auf spielerische Weise ihre Referenz.

„Weil wir den Zufall nicht ertragen, neigen wir zu Religionen und anderen Verschwörungstheorien.“

So zeichnet Villa Sternbald anhand der Unternehmerfamilie Finck ein großartiges Gesellschaftspanorama vom Deutschen Kaiserreich bis in die Gegenwart, ähnlich wie die Buddenbrooks. Ausgangspunkt ist hier der 103. Geburtstag des Familienpatriarchen Henry Finck, zu dem dessen Enkel Nikolas, der so etwas wie das schwarze Schaf der Familie ist, nach langer Zeit mal wieder heim in die großbürgerliche Villa im fiktiven fränkischen Ort Gründlach in der Nähe von Nürnberg kehrt.

Die Columba-Schulbank

Dort hat sich der Schreiner Ferry Finck einst aus sogenannten kleinen Verhältnissen hochgearbeitet. In seiner Dampfschreinerei fertigt er die Columba-Schulbank, die auf der internationalen Erfinderausstellung in Paris reüssiert und bald nicht nur in Deutschland die Schulen erobert. Die Starrheit der Sitzkonstruktion entsprach dem damaligen Erziehungsverständnis, dass die „Wildheit“ der Kinder gebrochen und durch Haltung ersetzt werden sollte. Schwarze Pädagogik und Erbsünde lassen grüßen. Die Pflichterfüllung als oberstes Erziehungsideal. Dazu die „lutherische Innerlichkeit“,

„erklärt allerdings nicht nur den Hang zu Reflexion, Grüberlei und Weltfremdheit, der ja irgendwie sympathisch ist, sondern auch die Neigung zu Untertanengeist und Duckmäusertun.“

Über die Geschichte der Schulmöbelfabrik Finck wird von Monika Zeiner in Villa Sternbald auch ein Stück Ideengeschichte und eine kleine Kulturgeschichte des Sitzens eingefügt.

Schulbank
Dennis Schäffer, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Dem Erziehungsideal der damaligen Zeit muss sich auch Ferrys Sohn Jean beugen. Der verträumte, weiche Junge, der am liebsten Insektenforscher geworden wäre, muss sich dem strengen Regiment von Vater und Schule unterwerfen. Und durchs „Stahlbad“ des Ersten Weltkriegs gehen. Vom Vater wird der zu Depressionen neigende Jean nie richtig ernst genommen, er ist ihm viel zu „weibisch“. Tüchtiger erweist sich da der Enkel Henry. Dieser erkennt die Zeichen der Zeit und ergreift in den 1930er Jahren die Gelegenheit, als die befreundete jüdische Familie Stern das Land verlassen muss und kauft deren Büromöbelfabrik günstig auf. Der Grundstein eines großen Vermögens ist damit gelegt, zumal die Steins aus ihrem Exil in Frankreich nicht zurückkehren, sondern deportiert und schließlich in den Konzentrationslagern ermordet werden.

Das Schweigen

Über diese dunkle Vergangenheit der Schulmöbelfabriken wird nie geredet.

„Ich kann nicht behaupten, dass meine Familie geschwiegen hätte. Es wurde, im Gegenteil, ununterbrochen geredet, und vielleicht reden sie so viel, damit sie keine Fragen beantworten müssen.“

Erst Enkel Nikolas erfährt davon. Dessen Vater, der passenderweise im Roman keinen Namen erhält und weite Passagen einfach verschläft, bekommt kaum eine Kontur. Die Mutter kümmert sich weitestgehend nur um sich selbst und ihr Klavierspiel, Bruder Sebastian wiederum ist nur an seiner Karriere interessiert, vernachlässigt die eigene Familie.

„Während meine Familie also bereits 1945 schlagartig vergessen hatte, dass sie einige Jahre vorher aus Versehen eine Möbelfabrik arisiert und obendrein noch einen Blüthner-Flügel geschenkt bekommen hatte, hatte man später natürlich auch vergessen, mir davon zu erzählen (…)“

Das schwarze Schaf

Nikolas fühlt sich schon als Kind ungeliebt, unglücklich. Als Jugendlicher überlebt er einen Selbstmordversuch nur knapp. Als Drehbuchschreiber fürs Fernsehen hat er sich nicht nur räumlich von seiner Familie abgewandt. Beruflich läuft es aber im Moment auch nicht so gut. Und von seiner Frau Ele hat er sich unlängst getrennt. Aus dem Besuch zum Geburtstag des Großvaters wird schließlich ein ganzes Jahr in der Villa Sternbald. Ein Jahr, in dem er sich recht ziellos treiben lässt, aber auch Nachforschungen zur Familiengeschichte betreibt, die deren dunkle Vergangenheit offenbaren, während ein Wissenschaftler vor Ort die große Schulmöbelfabrik-Jubiläumsveranstaltung vorbereitet und Unternehmensberater die Firma fürs nächste Jahrtausend fit zu machen gedenken.

„Vielleicht wäre Himmlers Research Institute mit der richtigen Beratung ja noch erfolgreicher gewesen, aber der Seniorberater war damals noch nicht geboren, das Unternehmen, für das er arbeitet, hatte noch keine Dependance in Deutschland und konnte daher den Russlandfeldzug der Wehrmacht auch nicht umstrukturieren und optimieren, dachte ich. Vielleicht wäre sonst die Wehrmacht teamfähiger und effizienter gewesen.“

Blüthner Flügel
Solobratscher, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Ein Sympathieträger ist Nikolas nicht gerade. Monika Zeiner gestaltet ihre Figuren alle sehr wohltuend ambivalent. So ist auch Großvater Henry nicht nur der skrupellose Profiteur der Nazi-Zeit, sondern wird als sich den Stern-Kindern stets unterlegen Fühlender (begabter, schöner, reicher, weltgewandter)gezeichnet, der die Gelegenheit ergreift, ohne recht zu ahnen, was sich daraus entwickeln würde.

Literarische Referenzen

Neben dem Motiv der Unternehmerfamilie, ihrem Auf- und Abstieg, das natürlich besonders an Thomas Manns Buddenbrooks erinnert, ist dieser viel länger als geplante Aufenthalt von Nikolas in der Villa Sternbald eine Reminiszenz an dessen Roman Zauberberg. Auch hier bleibt ja der Protagonist Hans Castorp statt drei Wochen sieben Jahre im Sanatorium. Daneben findet man in der Villa Sternbald auch die vielen literarischen Referenzen, die endlosen Dialoge und das Schweifen durch die Zeit, die auch den Zauberberg auszeichnen. Großvater Henry wird auch immer wieder „der Zauberer“ genannt. Der Name der den Titel des Romans gebenden Villa wiederum spielt auf Ludwig Tiecks Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ an, der vom Schüler des Nürnberger Malers Albrecht Dürer berichtet. Und der Untertitel „Die Unschärfe der Jahre“ findet sich darin wieder, dass Monika Zeiner die Zeitebenen und Perspektiven in Villa Sternbald oft verschwimmen lässt.

„Dass ich nicht sagen kann, so oder so ist es gewesen. Dass ich zwar sagen kann, es ist gewesen, aber ich kann nicht sagen, wie es genau gewesen ist, weil die Wahrheit ungenau und veränderlich ist, je nachdem, mit welchem Auge und aus welcher Perspektive ich sie betrachte.“

Formaler Aufbau

Ich-Erzähler ist Nikolas, aber der Text wechselt immer wieder zu den anderen Familienmitgliedern und von der Gegenwart seines aktuellen Besuchs in die verschiedenen Vergangenheitsebenen. Trotz der epischen Breite ist die Erzählweise aber eher anekdotisch. Im Verlauf des Textes kommt auch immer mehr etwas Schwebendes, Irreales, „Unscharfes“ zum Tragen. Wie der von Beginn an durch das Buch geisternde Gärtner Sanftleben, der so unsterblich scheint wie manche Geisteshaltungen, schon zu Henrys Kinderzeiten tätig und an dessen 103. Geburtstag so emsig wie eh und je.

Das ist alles ganz großartig gemacht und gipfelt in der großartigen, geistreich sprühenden Schilderung einer Silvesternacht. Voller Anspielungen, mit viel Witz und Ironie und sorgfältiger Recherche. Sechs Seiten Quellenangaben verweisen darauf und erklären vielleicht, warum Monika Zeiner nach ihrem Debüt „Die Ordnung der Sterne über Como“ zwölf Jahre in dieses zweite Buch investierte. Es hat sich gelohnt. Völlig unverständlich wäre, wenn dieser große Roman über deutsche (Geistes)Geschichte, über Erziehung und Kindheit, über Opportunismus und Schuld, über Erinnerung und Schweigen weiterhin ohne Auszeichnung bleiben würde.

„Die Globalisierung und der liberale Markt seien die Friedensversicherung überhaupt.  Im Grunde habe schon Nietzsche gewusst, dass der Nationalismus sich überholt habe.

Der Nationalismus sei immer dann am stärksten gewesen, wenn er sich historisch am offensichtlichsten überlebt habe, sage ich. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.“

 

Beitragsbild: Villa Clason, Bonn CC0

___________________________________________________

monika-zeiner-villa-sternbald.

.

Monika Zeiner – Villa Sternbald
dtv September 2024, 672 Seiten, gebunden, € 28,00

 

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert