Lektüre September 2024

Der Monat September 2024 war ein Monat der Ambiguitäten, nicht nur bei der Lektüre so unterschiedlicher Stimmen wie die des Amerikaners Nathan Thrall und des Israeli Dror Mishani, sondern auch abseits vom reinen Lesen. Ich habe sehr viele Lesungen besucht, u.a. eine mit eben jenem Nathan Thrall, der äußerst sympathisch ein sehr einseitiges Buch und Statement gegen Israel – und zwar nicht nur gegen die grauenvollen Angriffe auf Gaza (und nun auch auf den Libanon) – präsentierte, moderiert von Deborah Feldman, die eine regelrechte Fanbase im Frankfurter Literaturhaus hatte, die sie nahezu vergötterte. Aber wenige Tage später auch eine sehr differenzierte mit Meron Mendel und Saba-Nur Cheema und ihren gesammelten Kolumnen Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Viele wunderbare Lesungen also – die mit Paul Lynch und Margarete Schwarzkopf möchte ich besonders herausheben – und dazu noch zwei Verlagsbesuche (bei Schöffling/Frankfurt und Verlagshaus am Römerweg/Wiesbaden), die sehr viel Spaß gemacht haben. Darüber hinaus aber auch einiges an Stress und Ärger. Gelesen habe ich dennoch sehr viel – häufige Zugfahrten, Hörbücher, aus dem August mitgenommene Lektüren.

Monatsliebling war Radio Sarajevo von Tijan Sila. Die Kurzrezension dazu werde ich in den nächsten Tagen ergänzen.

 

Hark Bohm - AmrumHark Bohm, Philipp Winkler – Amrum

Amrum ist ein wunderbar leises, etwas wehmütiges, warmes Buch über eine Insel-Kindheit, die sicher vieles gemeinsam hat mit derjenigen des Autors, des 1939 geborenen Regisseurs, Filmproduzenten, Drehbuchautors und Schauspielers Hark Bohm.
Sein Hauptprotagonist ist der Junge Nanning, der, seitdem der Vater im Krieg ist, als ältester Sohn der „Mann im Haus“ ist und kräftig mit anpacken muss, mit seinen zwölf Jahren aber natürlich noch zu jung ist, um diese Verantwortung schultern zu können. Die Mutter ist glühende Nationalssozialistin, der Vater SS-Obersturmführer, der Onkel hohes Parteimitglied. Ganz anders der Großvater von Nannings bestem Freund Hermann, Opa Arjan, der mit dem „braunen Pack“ nichts zu tun haben will.
1945, als sich die Niederlage Deutschlands kaum noch verdrängen lässt, die Alliierten quasi vor der Haustür stehen, die englischen und amerikanischen Bomber fast jede Nacht die Insel überfliegen und scharenweise Flüchtlinge aus dem Osten ankommen, ist eine Zeitenwende, die Nanning in so manchen Loyalitätskonflikt stürzt. Er liebt seine Mutter sehr, spürt aber, dass ihr Fanatismus nicht richtig ist, bekommt immer mehr Zweifel.

Eine große Freundschaftsgeschichte, wunderbare Landschaftsbeschreibungen, eine Hommage an die Insel Amrum, ein Erinnerungsbuch, ein teils bitterer Blick auf die eigenen familiären Verstrickungen in die NS-Gräuel und nicht zuletzt auch eine Insel-Abenteuergeschichte mit norddeutscher Lakonie und Zungenschlag. Ein richtig schönes Buch.

 

nathan-thrall-ein-tag-im-leben-von-abed-salamaNathan Thrall – Ein Tag im Leben von Abed Salama

Anfang September besuchte ich eine Lesung von Nathan Thrall im Frankfurter Literaturhaus. Benno Hennig von Lange begrüßte und sprach dabei von Ambiguitätstoleranz. Laut Wikipedia ist damit die „Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen“ gemeint. Noch genauer ist die Rede davon, “ Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren oder diese einseitig(…) zu bewerten.“ Diese Ambiguitätstoleranz einzuüben, ohne auch völlig inakzeptablen, also beispielsweise extremistischen oder menschenverachtenden Positionen Raum zu geben ist wichtig, aber nicht immer leicht. Bei kaum einem Thema ist das im Moment so heikel wir bei den aktuellen Geschehnissen in Nahost.

Moderatorin bei Nathan Thralls Lesung war Deborah Feldman, die wegen ihrer extrem israelfeindlichen und provokanten Äußerungen immer wieder polarisiert, im Literaturhaus aber auf eine starke Fanbase stieß. Ich kannte das Buch von Thrall, das einen tragischen Verkehrsunfall mit einem Bus voller palästinensischer Kindergartenkinder thematisierte, bei dem zahlreiche Kinder verbrannten und zu dem Rettungskräfte wegen der zahlreichen Behinderungen in Israel durch die Sperrgebiete, Checkpoints und Betretungsverbote für Palästinenser zu spät oder von israelischer Seite gar nicht vordringen konnten bzw. (lt. Thrall) wollten, vorher nicht.

Ein Tag im Leben von Abed Salama ist, zumindest in den ersten Teilen, extrem einseitig. Israelis, besonders die israelischen Soldaten werden so dargestellt, als würden sie aus lauter Freude ständig auf Palästinenser einprügeln oder schießen und gewohnheitsmäßig foltern. Palästinensische Jugendliche und Männer hingegen werden meist unschuldig nachts aus ihren Betten gerissen und wahllos verhaftet, ohne Böses im Sinn zu haben.

Nicht dass ich eklatante Missstände in Israel, gerade auch bei der Armee, bezweifle, ja gerade weil ich finde, dass da Vieles, gerade unter der rechtslastigen aktuellen Regierung, schief läuft, lehne ich diese tendenziöse Darstellung der Zustände in Israel ab. Das entsetzliche Leid der Kinder und der Eltern, die an der Identifizierung und dem Auffinden ihrer Kinder durch die strukturellen Bedingungen massiv behindert wurden, die rassistischen Kommentare, die der Tod kleiner Kinder in den sozialen Medien hervorrief, die fortdauernde und sich immer weiter verschärfende Diskriminierung weiter Teile der palästinensischen Bevölkerung – das alles hätte eine sorgfältigere und objektivere, verlässlichere Darstellung verdient. Nicht dass Nathan Thrall nicht ausführlich recherchiert hätte, werfe ich dem Buch vor, sondern dass es nur eine Sicht auf die Vorgänge zulassen will.

Das Buch entstand 2023, vor dem 7. Oktober. Die Situation hat sich seitdem sehr verschärft, das konnte der Autor natürlich nicht wissen. Für 2023 ging der Pulitzer Prize in der Rubrik Sachbuch an Thrall. Wenn nur solche Bücher ausgezeichnet und gelesen werden, braucht man sich über die extrem aufgeheizte Stimmung in den USA und dort besonders an den Hochschulen wenig zu wundern. Auch das Publikum in Frankfurt reagierte sehr affirmativ. Stehende Ovationen (besonders für Feldman), weinend den Saal verlassende Zuschauerinnen – das kenne ich von dort eher nicht.

Dann, nach der Lesung, eine weitere Übung in Ambiguitätstoleranz. Beim kurzen Zusammentreffen mit dem Autor zeigte sich ein sehr sympathischer, offener, freundlicher Mann. Von dem ich gern ein anderes Buch gelesen hätte. Vielleicht ein so ausgewogenes wie von Dror Mishani.

 

Barbara Bleisch - Mitte des LebensBarbara Bleibsch – Mitte des Lebens

„Eine Philosophie der besten Jahre“ nennt die Philosophin Barbara Bleisch ihre Reflexion über die mittleren Jahre, die sie zwischen 40 und 65 ansiedelt. Während diese Lebenszeit in der Antike, beispielsweise bei Aristoteles als die Blütezeit im Leben galt, zählen sie heute eher als eine Zeit der Krise, in ihnen ist die berühmte „midlife crises“ verortet und der heutige Mensch versucht alles, um möglichst lang als jung zu gelten und auch so auszusehen. Ganze Industriezweige sind darauf gegründet. Aber was trifft nun zu, Zeit der Fülle oder Zeit der Krise? Dieser Frage versucht sich Barbara Bleisch anzunähern, auch ganz persönlich, denn auch sie ist Jahrhang 1973 und mitten in dieser Lebensphase, die sie aber überwiegend positiv sieht, als eine Art Hochplateau. Menschen in der Mitte des Lebens haben schon reichlich Lebenserfahrung, sind in ihrer Urteilskraft geschärft, haben schon vieles erreicht, aber noch reichlich Jahre vor sich. Zeit, auch nach einer nicht so ganz positiven Bilanz, die man unweigerlich zieht, wenn man sich der eigenen Zeitlichkeit und Endlichkeit bewusst wird, noch eine Neupositionierung vorzunehmen.

„Philosophieren heißt sterben lernen“ (Platon)

Mit zahlreichen Verweisen auf die alten Philosophen von Platon und Epikur zu Kierkegaard und Heidegger, aber auch auf Literaten wie Albert Camus und ganz neue Veröffentlichungen wie etwas Bleibefreiheit von Eva von Radecker oder den Roman „Ende in Sicht“ von Ronja von Rönne spricht Barbara Bleisch von der Angst vor der eigenen Endlichkeit, innerer Leere, von Bedauern und Reue, von transformativen Entscheidungen, telischen und atelischen Handlungen, vom Staunen und von Lebenszufriedenheit. Nicht alle Überlegungen sind neu, die von ihr optimistisch vertretene Möglichkeit der Neuausrichtung in diesen Jahren ist sicher nicht immer möglich, aber davon zu lesen ist ermutigend. Auch wenn sie die Krisenhaftigkeit der Lebensmitte nicht leugnet, überwiegen in ihrer Sicht die Chancen. Das mag ein wenig zu versöhnlich sein, tut aber gut, eröffnet Perspektiven und ist sicher auch für Leser:innen interessant, die sich (noch) jenseits ihrer Mitte des Lebens befinden.

„Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.“ (Ludwig Wittgenstein)

 

 

Sophia Fritz - Toxische WeiblichkeitSophia Fritz – Toxische Weiblichkeit

Toxische Weiblichkeit – diesen Begriff aus der Feder einer Feministin zu lesen verstört zunächst ein wenig. Haben wir uns doch die letzten Jahre an der toxischen Männlichkeit und ihren fatalen Folgen in einer patriarchal organisierten Welt abgearbeitet, sie geradezu zu einem Trendbegriff werden lassen. Und nun soll auch das Weibliche toxisch sein? Ja natürlich, muss man antworten, wenn man nur einen Moment genauer darüber nachdenkt. Auch wenn toxisch weibliches Verhalten meist weniger gefährliche, gewaltvolle Folgen hat (meist muss man betonen, denn wie die Autorin Nele Pollatschek in einer lesenswerten Besprechung des Buches betont, gibt es auch solche Phänomene wie das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, das fast ausschließlich weiblich ist) als sein männliches Pendant, sind viele erlernte, internalisierte typische weibliche Verhaltensmuster auch Gift, nicht zuletzt für Frauen selbst. Diese Problematik anzusprechen, ist das Verdienst von Sophia Fritz in ihrem Buch.

Auch wenn sie als Reaktion auf das Patriarchat entstanden, als Möglichkeit, auf indirekte Weise zu Macht und Kontrolle zu gelangen, wo der direkte Weg wegen mangelndem Einfluss oder aber nur weniger Körperkraft verstellt scheint, sind es doch Verhaltensweisen, die zumindest überdacht werden sollten.

„Toxische Weiblichkeit ist also die Performance einer Unterordnung, hinter der sich doch der Versuch, Macht und Kontrolle zu erringen, verbirgt. Wie gesagt, es handelt sich um eine Notlösung.“

Sophia Fritz identifiziert fünf Typen davon – das gute Mädchen, die Powerfrau, die Mutti, das Opfer und die Bitch -, und Anteile von allen sind in unterschiedlichem Maße wohl in allen Frauen zu finden. Es sind Fremdzuschreibungen – meist von Männern -, die aber fatalerweise ihren Niederschlag auch bei Frauen gefunden haben. Misogynie ist leider kein allein männliches Phänomen, auch die Autorin erklärt sich nicht frei davon.

Aber darf man das? Darf man als Frau weibliches Verhalten kritisieren. Natürlich, möchte man sagen. Und eigentlich noch viel schärfer als Sophia Fritz das tut. Denn sie folgt in vielen Bereichen nach eigenem Bekunden diesen Verhaltensmustern. Will Männern unbedingt gefallen, lässt Schönheitsoperationen durchführen, verhält sich als „gutes Mädchen“. Ich gehöre einer anderen Generation als die Autorin an und war schon hin und wieder versucht zu sagen, „Mensch, dann mach da doch nicht mit!“ Ich dachte tatsächlich, der Feminismus wäre da schon weiter. Aber Sophia Fritz beschreibt so etwas wie den „Girl Hate“ der 1990er Jahre – der ging an mir wohl vorbei.

Bevor sich rechte Kreise den Begriff der toxischen Weiblichkeit unter den Nagel reißen, wollte Sophia Fritz ihn feministisch besetzen. Das brachte ihr nicht nur Zustimmung ein, mangelnde Solidarität wurde ihr vorgeworfen. Ihre Forderung, dass sich Frauen nicht nur in die Opferrolle begeben sollten, nicht nur politische und strukturelle Benachteiligungen beklagen, sondern auch den Einfluss eigenen weiblichen Verhaltens zur Stützung des Patriarchats analysieren sollen, kam nicht bei allen gut an. Dabei geht es der Autorin um wahre weibliche Solidarität, die nur eben manche „toxischen“ Punkte nicht ausblendet, und um einen entspannteren Umgang auch zwischen den Geschlechtern. Auch wenn ich nicht bei allem mitgehen kann und das Buch mir zeitweise zu subjektiv ist mit seinen vielen Gesprächen mit Freundinnen, Selbstbespiegelungen und popkulturellen Verweisen (wie gesagt, andere Generation), finde ich es an vielen Stellen sehr anregend und bereichernd.

 

Doris Wirth - Findet michDoris Wirth – Findet mich

„Ich dachte immer, dass ich aus der normalsten Familie der Welt komme.“ So beginnt die Schweizerin Doris Wirth ihren Debütroman Findet mich, der es 2024 spontan auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Wer nun eine Ich-Erzählung über eine mehr oder weniger dysfunktionale Familie erwartet, sieht sich aber zum ersten Mal getäuscht und wird im Verlauf des Romans noch so manches Mal nicht nur stilistisch überrascht. Nach dem kurzen Prolog, in dem die junge Florence Rüegg ihre Familie vorstellt und gleich einen bis zu den Urururgroßeltern zurückreichenden Stammbaum aufmacht, geht es in der personalen Perspektive weiter. Genauer gesagt in vier personalen Perspektiven, denn jedes Familienmitglied bekommt eine eigene. Neben Florence sind das die Eltern Maria und Erwin und der Bruder Lukas. Dass die Familie nicht völlig normal tickt – was immer das auch bedeuten sollte – lässt schon der erste Satz vermuten.

Zu Beginn ist Vater Erwin auf der Flucht, einer Art Schnitzeljagd, denn eigentlich will er (gesucht und) gefunden werden und verstreut manchmal recht absurde Hinweise. Warum ihn eigentlich so richtig keiner suchen mag und was hinter dieser merkwürdigen Aktion steckt, erfahren die Leser:innen erst nach und nach. Da dieses Überraschende viel vom Reiz des Buches ausmacht, sei hier nicht mehr verraten. Nur dass Doris Wirth ihren Roman klug und spannend geschrieben hat und ich ihn uneingeschränkt empfehlen kann.

 

Markus Thielemann – Von Norden rollte ein Donner

Schauplatz und heimliche Protagonistin im Roman von Markus Thielemann ist die Lüneburger Heide, jene Landschaft im Norden Deutschlands, die seit dem späten 19. Jahrhundert und ganz besonders von den Nationalsozialisten zum Mythos der urdeutschen Landschaft verklärt wurde. Heute ist sie als rustikale, vermeintliche Idylle ein vielbesuchtes Touristikziel.
Viel zu dem von den Besuchern gesuchten Bild der Heide tragen die dort ansässigen Schäfer mit ihren Heidschnucken bei. Mit einer solchen Herde ist der 19jährige Jannes Kohlmeyer unterwegs. Anders als seine Schulfreunde, die wegen Studium oder Ausbildung die Heide verlassen haben und sich nur noch selten hierher verirren, ist er dem elterlichen Hof treu geblieben und liebt die Arbeit mit den Schafen.

Aber das Unheimliche, Bedrohliche nimmt zu: vermehrte Wolfssichtungen und Risse von Nutztieren, die Überreste des Konzentrationslagers Bergen-Belsen und seiner Außenlager, völkische Siedler und der stete Gefechtsdonner von den Truppenübungsplätzen und dem Erprobungsgelände der Rheinmetall, die nahezu die einzigen Erwerdbquellen neben dem Tourismus bieten. Dieses Unheimliche, Beängstigende, die Geister der Vergangenheit und Gegenwart, Familienschuld und Krankheit, Wölfe und Gefechtslärm – Markus Thielemann verwebt sie mit stimmungsvollen Naturbeschreibungen und dem Bodenständigen, Verantwortungsvollen seiner Protagonisten zu einer etwas düsteren, spannenden und mitreißenden Geschichte. Nicht alles wird auserzählt, manches bleibt offen oder in der Schwebe. Alles andere wäre einem Schauerroman auch abträglich. Von Norden rollt ein Donner steht zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis 2024.

 

Ulla Lenze - Das WohlbefindenUlla Lenze – Das Wohlbefinden

Auch Ulla Lenze stand mit ihrem Roman Das Wohlbefinden, der die Leser:innen in die Beelitzer Heilstätten des beginnenden 20.Jahrhunderts entführt, auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Vor allem die stark steigende Anzahl an Lungenerkrankten, insbesondere Tuberkulosepatient:innen, und die neu erforschten Behandlungsmethoden führten zu diesem für die damalige Zeit fast ein wenig utopisch erscheinenden Projekt. Da es lange Zeit keine medikamentöse Therapie der Tuberkulose gab – erst 1943 wurde ein wirksames Antibiotikum entdeckt – und auch eine Impfung erst seit den 1920er Jahren zögerlich an Bedeutung gewann, galt es vor allem, den von der Krankheit Betroffenen durch entsprechende Maßnahmen möglichst die Selbstheilung oder doch zumindest ein verlängertes Leben zu ermöglichen. Was dem förderlich ist, hat sich bald gezeigt und vor allem die Begüterten ließen sich in Lungensanatorien, in Gegenden mit reiner Luft, behandeln. Das Projekt, dies auch den armen Schichten zugänglich zu machen mutet zunächst sozial-utopisch an, hatte allerdings knallharte kapitalistische Absichten. Es galt, Arbeitskräfte zurückzugewinnen, Ausfallzeiten zu verkürzen.

Auf drei Zeitebenen erzählt Ulla Lenze von Anna Brenner, einer vermeintlich mit spiritistischen Gaben versehenen Patientin 1908, die hier die Schriftstellerin Johanna Schelmann trifft, von der gealterten Johanna im Jahr 1967 und von deren Enkelin während der Corona-Pandemie im Jahr 2020. Die drei Erzählungen sind nicht gleichermaßen stark. Die von 1908 ist gewiss die interessanteste und stärkste. Eine Konzentration nur auf sie wäre vielleicht gelungener gewesen. Allerdings passiert hier relativ wenig und Johannas Kampf um ihr von ihrer Umwelt belächeltes „weibliches Schreiben“ und ihre Eigenständigkeit hätten dann noch mehr konturiert werden müssen. So fällt das Urteil über Das Wohlbefinden von Ulla Lenze ein wenig gemischt, aber doch überwiegend positiv aus.

 

reichskanzlerplatz-nora-bossongNora Bossong – Reichskanzlerplatz

Wer war Magda Goebbels? Wer war diese Frau, die ihre Namen so oft wechselte wir ihre Identitäten, mal Magda Behrend, Friedländer, Ritschel, Quandt hieß und schließlich als Magda Goebbels so etwas wie die First Lady des Dritten Reichs darstellte. Nora Bossong geht dieser Frage in ihrem für die Longlist des Deutschen Buchpreis nominierten Roman Reichskanzlerplatz nach. Dabei ist Reichskanzlerplatz gar nicht nur ein Roman über Magda Goebbels. Er ist auch die Geschichte einer instabilen Demokratie, des gesellschaftlichen Wandels von der Weimarer Republik in die nationalsozialistische Diktatur. Erzählt wird er von dem jungen Diplomaten Hans Kesselbach, rückblickend aus dem Jahr 1944.
Nach dem frühen Tod seines Jugendfreundes Hellmut Quandt, der großen unerwiderten Liebe, hatte er eine Affäre mit dessen Stiefmutter Magda. Es gibt ein historisches Vorbild für Hans, einen Studenten, von dem wenig bekannt ist und der der Autorin Nora Bossong in Reichkanzlerplatz reichlich Raum für eine faktenbasierte Fiktion bietet. Im Ton eher kühl und elegant bleibt Magda Goebbeks tatsächlich ein wenig blass und ungreifbar. Was meine Empfehlung aber nicht schmälern soll.

 

unter-dojczen-mia-rabenMia Raben – Unter Dojczen

Mia Raben hat mit der polnischen Pflegekraft Jola eine bemerkenswerte Romanfigur erschaffen. Jola ist ein „alter Hase“ in der Pflege deutscher „Seniorki“. Und auch wenn sie es manchmal nicht leicht hat mit ihren Patienten und deren Familien, liebt sie ihren Job eigentlich. Die Sorge und Fürsorge für alte Menschen erfüllt sie. Ihnen kann sie die Liebe angedeihen lassen, die sie als alleinerziehende Mutter ihrer nun erwachsenen Tochter Martha oft vorenthalten musste.

Jola erhält nun eine fast märchenhaft gute Anstellung bei Familie von Klewen. Fast zu schön, um war zu sein. Wer in Unter Dojczen Konflikte erwartet, wird vom Debüt von Mia Raben etwas enttäuscht sein. Es ist eher eine Art Utopie – was wäre wenn. Was wäre wenn alle verantwortungsvoll, rücksichtsvoll und einfach fair handelten. Und auch das angespannte Verhältnis von Jola zu ihrer Tochter, zu der sie lange Zeit gar keinen Kontakt hatte, endet in einer großen Versöhnung. Das ist manchmal ein klein wenig kitschig, aber die Autorin umschifft das Ganze mit ihrer schnörkellosen, unpathetischen Sprache. Und auch wenn das Buch eins zum Wohlfühlen ist, werden doch die wichtigen Themen Pflege und Pflegende endlich mal thematisiert. Und das ist unbedingt wichtig.

 

dror-mishani-fenster-ohne-aussichtiDror Mishani – Fenster ohne Aussicht

Dror Mishani befand sich am 7. Oktober 2023 auf einem Literaturfestival in Toulouse. Als er von den schrecklichen Verbrechen der Hamas erfuhr, rief er seine mit den beiden Kindern in Tel Aviv gebliebene Frau besorgt an. Soll er zurückkehren? Oder soll lieber die Familie zu Verwandten nach London ausreisen? Mishani entschließt sich zur Rückkehr und verfällt dort zunächst in eine Art Aktionismus. Bald merkt der Autor aber – der Krieg gegen Gaza ist angerollt, die Opferzahlen in der palästinensischen Bevölkerung schrauben sich in beängstigende Höhen, antisemitische Stimmen gesellen sich zu den israelkritischen, mit der Geiselbefreiung geht es nicht voran – dass seine Worte, die das Leid auf beiden Seiten berücksichtigt, das Entsetzen und die Schuld der Hamas klar benennt, aber auch den berühmten „Kontext“ nicht völlig ausblendet, gar nicht gern gesehen sind. Er beschließt, ein Tagebuch zu schreiben, eben jenes Fenster ohne Aussicht. Fast ein ganzes halbes Jahr – vom 7. Oktober bis zum 10. März – schreibt Mishani die Ereignisse, seine Gedanken, seine Ängste und seine Verzweiflung nieder, versucht sie zu ordnen, seine Trauer und seine Wut zu kanalisieren. Er spürt den Riss, der durch die Gesellschaft, trotz aller Solidarität und allem Zusammenhalt, hindurchgeht, auch in der eigenen Familie. Dror versucht sich in der ganzen Tragödie in der Stimme der Vernunft und der Empathie. Denkt nach über Ohnmacht, Wut, Angst, Innehalten, Nachdenken, auch über das Schreiben, das eigene Tun und über den Sinn von Literatur. Das ist sehr beeindruckend.

 

jesmyn-ward-so-gehen-wir-denn-hinabJesmyn Ward – So gehn wir denn hinab

Jesmyn Wards Vor dem Sturm machte 2011 einiges Aufsehen. Kraftvoll, wuchtig, lyrisch schrieb die junge afroamerikanische Autorin über eine Familie und das Herannahen des Wirbelsturms Katrina. Sie erhielt dafür den National Book Award. Beeindruckt, aber auch ein wenig überfordert von der Geschichte, war ich gespannt auf ihr nächstes Werk. Singt ihr Lebenden und ihr Toten, singt kam erneut kraftvoll und lyrische daher und erzählte von einer Familie und dem ihr begegnenden Rassismus im Süden der USA. Ward erhielt dafür eerneut den National Book Award und ich war begeistert. Nun So gehen wir denn hinab, ihr mittlerweile vierter Roman, der in der Zeit der Sklaverei in den Vereinigten Staaten spielt – un mich leider diesmal überhaupt nicht abholen konnte.

Annis und ihre Mutter leben bei ihrem „Sire“, der offensichtlich Annis Vater ist und seine Sklaven ausgesprochen grausam behandelt. Als er sich Annis in eindeutiger Absicht nähert und sich die Mutter dagegen wehrt, wird sie verkauft. Eine Trennung, die die noch sehr junge Annis kaum verwindet. Zum Glück ist da noch das Mädchen Safi, das sie durch ihre Zuneigung trösten kann. Der Plantagenbesitzer duldet das nicht und verkauft die beiden Mädchen. Nun beginnt auf dem beschwerlichen Weg von North Carolina nach New Orleans durch sumpfiges Hinterland und reißende Flüsse für Annis die wahre Hölle.

Auf dem Weg begleitet sie Mama Aza, der Geist einer mutigen Vorfahrin, Tochter des Windes. Sie spricht zu Annis, genau wie „die nehmen und geben“, die Erde, das Wasser. Ihre neuen Besitzer in New Orleans erweisen sich nicht besser, auch wenn ihr das Schicksal als „Fancy Girl“ verkauft zu werden knapp erspart bleibt. Annis Leiden dauern an. So geht sie denn hinab in eine weitere Hölle. In diesem Roman gibt es eigentlich gar kein Licht mehr. Jesmyn Ward gönnt ihren Leser:innen nahezu keine hellen Momente. Die Sprache ist weiterhin lyrisch schön, aber mir ist hier alles zu wuchtig, zu alttestamentarisch, zu mythisch, zu aufgeladen. Ich muss zugeben, dass ich über die „Geisterpassagen“, die sich endlos strecken, nur noch drübergelesen habe. Kehrt die Geschichte zum Alltag zurück, hat mich die Geschichte wieder erreicht und erschüttert. Aber das war leider zu selten der Fall. Schade.

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