„Ich dachte immer, dass ich aus der normalsten Familie der Welt komme.“ So beginnt die Schweizerin Doris Wirth ihren Debütroman Findet mich, der es 2024 spontan auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Wer nun aber eine Ich-Erzählung über eine mehr oder weniger dysfunktionale Familie erwartet, sieht sich zum ersten Mal getäuscht und wird im Verlauf des Romans noch so manches Mal nicht nur stilistisch überrascht.
Nach dem kurzen Prolog, in dem die junge Florence Rüegg ihre Familie vorstellt und gleich einen bis zu den Urururgroßeltern zurückreichenden Stammbaum aufmacht, geht es in der personalen Perspektive weiter. Genauer gesagt in vier personalen Perspektiven, denn jedes Familienmitglied bekommt eine eigene. Neben Florence sind das die Eltern Maria und Erwin und der Bruder Lukas. Dass die Familie nicht völlig normal tickt – was immer das auch bedeuten sollte – lässt schon der erste Satz vermuten. Die Leser:innen bekommen aber auch schon sehr bald einen eigenen Verdacht dazu.
Erwin auf der Flucht
Denn Erwin ist gleich zu Beginn auf der Flucht. Raus aus seinem Leben, fort von seiner Familie, weg vom Job, in dem er sich gescheitert sieht. Was konkret der Auslöser dafür ist, dass sich der Familienvater in seinen kupferfarbenen Toyota setzt und mit schmalem Gepäck ziellos aufbricht, sich zunächst auf einem Campingplatz niederlässt, dann auch noch letzte Fesseln der Zivilisation – sein Handy, seinen Wagen – aufgibt, erfährt man lange Zeit nicht. Durch den Blick auf die anderen Familienmitglieder und lange Rückblicke bis in die Kindheit von Erwin und Maria, ihr Kennenlernen, die Familiengründung, verhärtet sich aber bei der Leserin ein Verdacht.
Erwin war wohl schon immer leicht aufbrausend, mitunter cholerisch und seinen Kindern gegenüber oft auch ungerecht und sogar gewalttätig. Aber er konnte auch aufmerksam und zuvorkommend sein. Gerade gegenüber seiner Frau Maria. Diese war immer der ausgleichende Part in der Familie, die Vermittlerin, die, die alles wieder gerade rückt. Und auch die, die die vielen Seitensprünge ihres Mannes geschluckt hat. Es sei nun mal seine Natur, rechtfertigte sich Erwin stets. Maria wollte Harmonie, eine intakte Familie. Lukas und Florence flüchteten sich ins Kiffen oder die Bulimie. Soweit also die „normalste Familie der Welt.“
Mit Erwins Stimmungsschwankungen, mit seiner Großspurigkeit wurde es in letzter Zeit immer schwieriger. Und nun ist er fort. Macht eine Art Schnitzeljagd, denn eigentlich möchte er schon gefunden werden und hinterlässt kleine Hinweise auf seinen Verbleib. Die sind aber teilweise derart absurd, wie das gigantische Trinkgeld, das die Kellnerin dazu verleiten soll, sich an ihn zu erinnern. Absurd sind diese Markierungen vor allem deswegen, weil keiner ihn so richtig sucht. Die Familie scheint teilweise richtiggehend erleichtert durch seinen Weggang.
Geschickt lässt Doris Wirth ihre Leser:innen immer wieder in die Irre gehen, wenn diese einen „normalen“ Familienroman erwarten. Langsam kristallisiert sich heraus, dass hier auf ganz kunstvolle Art über eine psychische Erkrankung geschrieben wird. Davon, was sie für den Erkrankten, aber auch für seine Familie bedeutet. Das ist, wie gesagt, überraschend, klug und sehr gut geschrieben. Den Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises hat Doris Wirth mit Findet mich wahrlich verdient.
Beitragsbild via pxhere
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Doris Wirth – Findet mich
Gepardenverlag März 2024, 320 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, € 30.-
Ein Gedanke zu „Doris Wirth – Findet mich“