J Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine

Ein altes lila Haus auf einer Klippe mit atemberaubender Sicht auf die Küste vor Maine. Lake Grove. Schon als Teenager, als sie es vom Hummerboot, auf dem sie gejobbt hatte, entdeckte, zog es Jane Flanagan magisch an, zum Lesen, Schule schwänzen, Träumen. Manchmal zusammen mit ihrer besten Freundin Allison, später mit Freund und späterem Ehemann David. Nun lässt J. Courtney Sullivan ihre Protagonistin in Die Frauen von Maine nach einer persönlichen Katastrophe in ihr Elternhaus in der kleinen Küstenstadt Awadapquit (fiktiv, erinnert aber angeblich sehr an Ogunquit) zurückkehren, um mit ihrer Schwester das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Mutter zu verkaufen. Und es zieht sie erneut zu dem ehemals verlassenen Haus.

Jane, die eher introvertiert und sehr diszipliniert scheint, hat ein großes Problem. Ein Alkoholproblem. Schon ihre Mutter war Alkoholikerin, die Schwester Holly trinkt und auch wenn Jane denkt, sie hätte die Sache im Griff, zumindest im von ihr sehr geliebten Job, ist ihr unlängst ein schwerer Fauxpas geschehen. Die Schlesinger Bibliothek in Harvard, in der sie arbeitet, beschäftigt sich mit der Geschichte der Frauen in Amerika. Jane recherchiert, sammelt Zeugnisse des Lebens und Schaffens von Frauen, plant Ausstellungen.

„All die Sorge ließ vermuten, dass es sich um ein neues Problem handelt, dabei war der allergrößte Teil weiblichen Schreibens – ob Liebesbriefe oder Tagebücher – schon immer vernichtet worden. Verbrannt von den Autorinnen oder ihren Kindern, weggeworfen, verlorengegangen.“

Eine willkommene Flucht

Auf einer Feier mit Sponsoren der Library hat sie sich nun völlig betrunken und mit einem Gast angebändelt. Für die konservativen Unterstützer ein Skandal. Jane wird freigestellt. Und auch ihre Ehe mit David ist gefährdet. Auf Janes Wunsch trennen sich die beiden auf Zeit.

Für Jane, die sich aus dem unterprivilegierten Milieu mit einer alkoholkranken, alleinerziehenden Mutter zum Studium an der Wesleyan Privatuniversität und in Yale hochgearbeitet hat, die mit nun 38 ihr Leben mit David in Boston und ihre Arbeit liebt, bedeutet das eine Katastrophe. Da bietet das Entrümpeln des Elternhauses zusammen mit ihrer Schwester Holly und deren Sohn Jason eine willkommene Flucht. Ihre Freundin Allison führt mittlerweile mit ihrem Mann ein B&B im von den Touristen gern besuchten Küstenstädtchen. Außerdem macht Jane die Bekanntschaft mit der neuen Besitzerin des „lila Hauses“, das schon bald nicht mehr lila ist, denn die reiche Geneviève modernisiert es von Grund auf und beauftragt Jane, die Geschichte des Hauses zu recherchieren und für sie aufzuschreiben.

In einer Art Prolog erfahren die Leser:innen, dass Geneviève, um Platz für einen Infinitypool zu schaffen, eine alte Grabstätte auf dem Grundstück beseitigen ließ. Nun erscheinen ihrem Sohn Benjamin Geister. Der Spiritismus, der Geisterglaube bekommt im Buch eine wichtige Rolle: „Rückführungen“ mit einem Medium, Botschaften aus dem Jenseits, Tote, die nicht ruhen können. Mir wurde es hier manchmal zu abstrus, auch wenn die Passagen dazu dienen zu Geschichten von früheren Bewohnerinnen des Hauses zu führen.

Frauengeschichten – Geschichte von Frauen

Erbaut wurde es 1846 vom Kapitän Samuel Littleton, der ein Heim für seine geliebte Frau Hannah schaffen wollte, während er viele Jahre auf See verbrachte. Eines Tages zerschellte sein Schiff unmittelbar vor der Küste, alle Bewohner, auch Hannah, mussten hilflos zuschauen. Neben der Geschichte von Hannah und Samuel, erzählt J. Courtney Sullivan auch von anderen Frauen in Maine, die mit dem Haus in Verbindung standen. Beispielsweise von Eliza, dem Dienstmädchen, die aus einer Shaker-Gemeinde stammte. Oder von Marilyn, die in Lake Grove ihre Tochter verlor. Die Geschichte geht aber auch ganz weit zurück ins 17. Jahrhundert, wo der Ehemann der jungen Kanti vom Stamm der Abenaki von britischen Reisenden nach London entführt wurde. Diese Geschichten stehen manchmal ein wenig unvermittelt nebeneinander, so als ob die Autorin sie nur braucht, um ein neues Thema abzudecken. In sich selbst sind sie aber alle interessant.

Es geht darin um Imperialismus und Kolonialismus, um die Unterdrückung indigener Völker und den Raub ihrer Kulturgüter, um Feminismus und Frauenleben. Es geht natürlich um Alkoholismus und seine Folgen auf Familien. Ein wenig zu ausführlich und bejahend wird von Spiritismus und ein merkwürdiges Frauencamp erzählt. Es geht um Verlust und weibliche Resilienz, um Freundschaft und Solidarität. Auch wenn mir manche Themen nicht so zusagten und der ganze Roman nicht wirklich organisch verbunden wirkt, habe ich Die Frauen von Maine doch größtenteils gern gelesen. J. Courtney Sullivan kann sehr atmosphärisch schreiben. Dennoch gibt es meiner Meinung nach bessere Bücher von ihr, vor allem Sommer in Maine und All die Jahre sind und bleiben absolute Lieblingsbücher von mir. J. Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine

„Wir tragen ungeborene Kinder in uns, und wenn wir sie zur Welt bringen, drohen die Männer, ohnmächtig zu werden. Deswegen sind sie so besessen von äußerlichen Erfolgsmerkmalen. Und vom Krieg! Töten, um einen Bruchteil der Macht zu spüren, die wir haben, indem wir Leben geben, Das muss man den Männern lassen: Es ist ihnen gelungen, uns davon zu überzeugen, dass das, was Frauen Macht verleiht, im Grunde Schwäche ist. Mutterschaft ist der radikalste Akt, den es gibt, und wir haben sie auf süßen Tapioka-Pudding reduziert. Gibt es etwas Zahnloseres, weniger Sichtbares als eine Mutter in unserer westlichen Kultur?“

 

Beitragsbild: Siameselover, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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J. Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine
Aus dem Amerikanischen von: Henriette Zeltner-Shane und Monika Köpfer
Klett-Cotta September 2024, 496 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 26,00

 

 

 

 

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