Han Kang – Unmöglicher Abschied

In diesem Jahr wurde der Literaturnobelpreis an die gesellschaftskritische südkoreanische Autorin Han Kang verliehen, die seit dem Booker Prize 2016 für ihren Roman Die Vegetarierin auch in Deutschland vielbeachtet ist. Ich muss zugeben, dass ich mit diesem schmalen Roman, der gegen das in Südkoreas Patriarchat vorherrschende Frauenbild anschreibt, nicht recht warm geworden bin. Deshalb habe ich mich dem aktuellen Roman von Han Kang, der gerade auf Deutsch erscheint und Unmöglicher Abschied als Titel trägt, vorsichtig genähert. Nachdem Die Vegetarierin schon vor einer Weile in den offenen Bücherschrank weitergezogen ist, wollte ich nun doch wissen, was den Reiz ihres Schreibens ausmacht.

Zu Beginn steht ein Traum. Ein Traum, den die Protagonistin Gyeongha mit der Autorin teilt. Es ist ein Bild tausender dunkler Baumstämme, die eine weite Schneefläche bedecken und die Inspiration für den Roman waren. In Gyeonghas Traum befinden sich unter ihnen Gräber, die von einer heranrollenden Flut bedroht werden. Gyeongha versucht vergeblich, die Gebeine zu retten. Sie hatte diesen Traum zum ersten Mal im Sommer 2014, „zwei Monate nachdem ich ein Buch über das Massaker in jener Stadt veröffentlicht hatte.“

Wer ein wenig über Han Kangs Werk weiß, findet die Parallele, denn die Autorin selbst hat in diesem Jahr ihren Roman Menschenwerk in Korea veröffentlicht, in dem sie über ein Massaker in ihrer Heimatstadt Gwangju, das im Mai 1980 stattfand, schrieb. Damals gingen bei einer studentischen Demonstration gegen die herrschende Militärdiktatur und das verhängte Kriegsrecht Soldaten mit brutaler Gewalt vor. Der anschließende Aufstand von Studenten, Arbeitern und Bürgern wurde durch ein regelrechtes Massaker niedergeschlagen, das bis zu 2000 Todesopfer forderte.

Der Traum

Der Traum von den Baumstämmen  und Alpträume verfolgen Geyongha seitdem immer wieder. Wir begegnen ihr vier Jahre später, laut eigenem Bekunden hat sie „keine Familie mehr“, lebt allein in Seoul und hat einige nicht näher beschriebene Verluste erlitten. Eine tiefe Depression, die sie zwei Monate niederstreckte und beinahe zum Suizid getrieben hätte, ist knapp vorbei, als sie eine SMS ihrer Freundin Inseon erreicht, in der diese sie bittet, in ein Krankenhaus zu kommen. Bei einem Unfall hat sie sich zwei Finger abgetrennt und liegt nun in dieser Spezialklinik in Seoul. Sie bittet die Freundin, ihren Vogel, den sie in ihrem Haus auf der Insel Jeju zurückgelassen hat, zu versorgen.

Inseon ist eine Fotografin und Dokumentarfilmerin, mit der Gyeongha einst eine Installation zu ihrem Baumstamm-Traum geplant hatte. Durch die Demenzerkrankung ihrer Mutter wieder in ihr Elternhaus im kleinen Bergdorf auf Jeju zurückgekehrt, ist die Freundin dort auch nach deren Tod hängengeblieben und arbeitet als Schreinerin in ihrer kleinen Werkstatt.

Der Schneesturm

Der Zeitpunkt für die Reise ist denkbar ungünstig. Es ist Dezember und ein schwerer Schneesturm angekündigt. Gyeongha erwischt den letzten Flug nach Jeju, aber dort ist der Busverkehr stark eingeschränkt. Die Fahrt vom Flughafen zum kleinen Dorf in den Bergen und die Wanderung durch den Schneesturm zum abgelegenen Haus Inseons nehmen fast 100 Seiten ein und sind ein Höhepunkt des Buchs. Han Kang arbeitet stark mit Motiven und Symbolen. Der Schnee ist eines davon. Er knüpft an den Traum von den Baumstämmen und an die Alpträume vom Gwangju-Massaker an. Denn Jeju ist nicht nur eine südkoreanische Ferieninsel.

Hier fand auch im April 1948 das erste einer Reihe von Massakern gegen vermeintlich linksgerichtete Rebellen statt. Es forderte mehr als 30.000 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 300.000, löschte ganze Dörfer aus und wurde mit großer Brutalität ausgeführt. Auch Inseons Familie hatte etliche Tote zu beklagen, ihre Mutter war Zeitzeugin. Immer wieder werden Recherchen dazu, die Inseon für einen ihrer Filme durchgeführt hat, in die Geschichte eingeblendet.

Leichtigkeit und Schwere

Ein weiteres Motiv neben dem Schnee ist der Gegensatz von Leichtigkeit und der Schwere der Gewalt, die hier auf Jeju verübt wurde. Die Leichtigkeit von Schneeflocken oder der – ebenfalls weißen – Vögel von Inseon werden immer wieder thematisiert. Als Gyeongha auf dem Weg zu Inseons Haus in der heraufziehenden Dunkelheit ausrutscht, ihr Handy verliert und im Schnee liegen bleibt, beginnt die von Anfang an leicht schwebende, zunehmend entrückte Stimmung immer surrealer zu werden. Die Realitäten, Orte, Zeiten und Personen verschwimmen. Es ist bald nicht mehr klar, ob Gyeongha in der Kälte beginnt zu halluzinieren, ob sie es ins Haus der Freundin schafft, ob der Vogel lebt oder bereits tot ist. Ja sogar der Unfall Inseons erscheint plötzlich nur als eine Möglichkeit. Oder erscheint sie Gyeongha als Geist, als Erscheinung?

Intensiv, in schlichter, poetischer Sprache, die manchmal ein klein wenig ins Pathetische kippt, erzählt Han Kang in Unmöglicher Abschied von einer zarten Freundschaft, von unfassbarer Grausamkeit, von kleinen weißen Papageien und einer magischen Winterreise. Wieder öffnet sie ein dunkles, lange verdrängtes Kapitel südkoreanischer Geschichte, wie bereits in Menschenwerk. Für mich war das Buch eine poetische Entdeckung. Ich freue mich, auch weitere ihrer Werke kennenzulernen.

 

Beitragsbild by Christopher Boese  (CC BY-NC 2.0) via flickr

___________________________________________________

han-kang-unmoeglicher-abschied.

.

Han Kang – Unmöglicher Abschied
Übersetzer:in: Ki-Hyang Lee
Aufbau Verlag Dezember 2024, Hardcover, 315 Seiten, € 24,00

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert