1991 erschien ein Büchlein – Cathérine, die kleine Tänzerin, gewohnt zauberhaft bebildert von Jean-Jacques Sempé -, das vielleicht eine Art Vorläuferin des aktuellen Werks von Patrick Modiano war. Wie alle Werke des Literaturnobelpreisträgers ist es sehr schmal. Die Tänzerin nun mag man mit seinen knapp 93 Seiten kaum mehr Roman nennen. Und doch enthält es die ganze Modiano-Welt.
Es ist eine trüb beleuchtete Welt, meist in die 1950er oder 1960er Jahre zurückführend, fast immer in Paris beheimatet und bevölkert mit „gewissen“, oft geheimnisvollen oder gar zwielichtigen Gestalten, die teilweise von anderen Werken Modianos bekannt sind. Es ist die Jugend der jeweiligen Erzähler und die des Autors, in die die Texte rückblickend eintauchen. Der Erinnerungsstrom wird stets von einer Begegnung, einem Gegenstand, einem Brief ausgelöst. So auch in Die Tänzerin.
„(…)die gleichen Situationen, die gleichen Schritte, die gleichen Gesten wiederholen sich über die Zeit hinweg. Und sie sind nicht verloren, sondern auf alle Ewigkeit eingeschrieben in die Trottoirs, Mauern und Bahnhofhallen dieser Stadt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen.“
Begegnung in Paris
An einer Ampel steht der Erzähler plötzlich einem „alten Bekannten“ gegenüber, der zunächst aber leugnet, dieser ehemalige Kneipenbesitzer Serge Verzini zu sein, der ihm in seiner Jugend ein Mansardenzimmer vermietet hatte und über den er die Bekanntschaft mit der Tänzerin machte. Was die beiden verband, wird nie so wirklich deutlich, vielleicht eine Freundschaft, vielleicht auch eine Liebesbeziehung. Er kümmert sich zumindest häufig um ihren Sohn Pierre, bringt und holt ihn zur und von der Schule, geht mit ihm ins Kino, passt auch mal nachts auf ihn auf, wenn die Mutter Auftritte hat. Es gibt aber auch noch Hovine, der den Haushalt der Tänzerin zu führen scheint und für Pierre sorgt. Es sind wie immer bei Modiano flüchtige Identitäten, geisterhafte Schatten, die das Romanpersonal stellen. Die Erinnerungen liegen 60 Jahre zurück, sind diffus geworden, unzuverlässig.
„Die Luft war mild, fast sommerlich, und doch scheint mir, es war November. Und ich bin überzeugt, die Bäume hatten noch ihre Blätter.“
Unzuverlässig wie der Erzähler. Manchmal behauptet er, sich an gar nichts mehr erinnern zu können, dann sprudelt er komplexe Namen und Adressen hervor, beides auch charakteristisch für die Texte von Patrick Modiano. Die Vergangenheit verschwimmt, aber die Details stechen überdeutlich hervor. Überhaupt, was heißt schon Vergangenheit. In Die Tänzerin macht der Erzähler, der hier sicher mit dem Autor in eins gesetzt werden kann, deutlich, was er von Vergangenheit hält:
„Ich dachte, die Erinnerung an sie käme zu mir, wie das Licht von einem seit tausend Jahren erloschenen Stern, nach den Worten eines Dichters. Nein. Es gab keine Vergangenheit, keinen erloschenen Stern und keine Lichtjahre, die uns für immer voneinander trennen, es gab nur diese ewige Gegenwart.“
Lebensbuch
Der angehende Dichter, der ein wenig ziellos durch Paris treibt, die Tänzerin, die Unterricht bei dem realen Balletttänzer Boris Kniasoff (1900-1975) nimmt, um durch Disziplin und Ordnung Struktur in ihr Leben zu bringen und die bis zum Ende namenlos bleibt, und der kleine, einsame Pierre – Patrick Modiano und seine unglückliche Kindheit, seine Jugend in Paris kann man vielleicht in allen dreien durchschimmern sehen. Auch Die Tänzerin ist ein Mosaiksteinchen im großen Lebensbuch von Modiano, das von seinen mittlerweile vierzig Büchern gebildet wird. Melancholisch, leicht, knapp und tänzerisch schwebend und uneindeutig. Neu ist vielleicht, dass sich der Erzähler aus einer konkret benannten Gegenwart, der Post-Covid-Zeit von 2022/23 zurückerinnert und das touristische Paris kritisch beäugt.
„Wir lebten seit drei Jahren in so schwierigen Zeiten, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Und die Welt um mich herum hatte sich derart schnell verändert, dass ich mich in ihr als Fremder fühlte.“
In diesem Jahr feiert Patrick Modiano seinen 80. Geburtstag. Sein literarisches Werk zählt für mich zu den faszinierendsten überhaupt. Es braucht, glaube ich, einen Zugang, den man nicht erzwingen und nicht erklären kann. Hat man ihn gefunden, taucht man mit jedem der schmalen Bände ein wenig ein in diese „ewige Gegenwart“.
Unterwegs nach Chevreuse und viele weitere Links zu Modiano-Besprechungen
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Patrick Modiano – Die Tänzerin
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag März 2025, Hardcover, 96 Seiten, 20,00 €