Lektüre Juni 2025

Ein vielseitiger Monat war der Juni 2025, was meine Lektüre betrifft. Von politischem Sachbuch über Reisereportage und einem weltberühmten Klassiker zu ganz aktuellen Titeln. Endlich war auch mal wieder ein Debütroman dabei. Ein Buch habe ich abgebrochen, was ich wirklich sehr, sehr selten tue, aber da hat es einfach nicht gepasst. Mit Tan Twang Engs Haus der Türen habe ich auch einen Anwärter für „Bücher des Jahres“ gelesen.

Jean-Baptiste Andrea - Was ich von ihr weißJean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß

2023 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet erzählt Jean-Baptiste Andrea hier eine ein ganzes Jahrhundert umspannende Geschichte. Sie folgt Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo, dessen Familie Anfang des Jahrhunderts aus Oberitalien nach Frankreich auswandern. Nach dem Tod des Vaters kann die Mutter den kleinen Mimo nicht mehr ernähren und schickt ihn zu Verwandten in ein kleines italienisches Dorf. Dort lernt er die unangepasste Viola aus der reichen, angesehenen Familie Orsini kennen und zeigt ein beeindruckendes bildhauerisches Talent. Der Roman spielt von Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, in denen Mimo als als alter Mönch in einem Kloster auf das Sterben wartet und sein Leben Revue passieren lässt. Es beleuchtet auch die gesellschaftlichen Veränderungen und den Aufstieg des Faschismus in Italien. Episch und unterhaltsam geschrieben.

 

pierre-jarawan-frau-im-mondPierre Jarawan – Frau im Mond

Auch Pierre Jarawan erzählt eine Familiengeschichte und greift in Rückblicken auf die Vergangenheit zu. Hier ist Lilit, die Tochter einer libanesischen Mutter und eines kanadischen Vaters, die Ich-Erzählerin, die sich auf die Spuren ihrer unbekannten, aus Armenien stammenden Großmutter Anoush begibt. Der Großvater Maroon ist mittlerweile 100 Jahre alt, lebt in einem Seniorenheim in Montréal und kann nur bedingt Auskunft über seine Frau geben, die über ihre frühen Jahre wenig erzäht hat. Aber er schwärmt von seinen Jahren in Beirut, wo er an der Libanese Rocket Society an einem libanesischen Weltraumprojekt gearbeitet hat. Lilit fliegt selbst nach Beirut und findet dort Menschen, die Anoush noch gekannt haben. Und wird beinahe Zeugin der verheerenden Expllosion im Beiruter Hafen 2020.

 

Christian Mitzenmacher - KnallkrebseChristian Mitzenmacher – Knallkrebse

Knallkrebse erzählt eine sommerleichte Freundschaftsgeschichte mit sehr ernstem Hintergrund. Der Münchner Physikstudent Tom wird in einem Programm für Geflüchtete Pate des sechzehnjährigen aus Quetta geflüchteten Farid. Die beiden werden Freunde. Zusammen mit Toms Freundin Laura bilden sie ein unzertrennliches Dreiergespann. Farid quälen aber immer wieder Erinnerungen an seine Traumatische Flucht, vor allem den Verlust des Mädchens Pari, und die Sorgen um seine in Pakistan zurückgebliebene Familie. Als Tom einen riskanten Entschluss Farids vereitelt, gerät er in eine psychische Krise. Psychologisch genau und immer wieder auch die eigene Perspektive als Erzähler überdenkend, ist Knallkrebse aber auch ein Sommerbuch mit vielen Dialogen, leicht und amüsant.

 

Niklas Maak – Durch Manhattan

2017 erschienen und deshalb sicher ein wenig in die Jahre gekommen, ist Durch Manhattan für mich aber beste Reiseliteratur und Stadt-Erzählung. Der Journalist  Niklas Maak und und die Künstlerin Leanne Shapton wandern zwei Tage von der Südspitze Manhattans bis zur Nordspitze der Insel an der 220. Straße. Ohne feste Route, mit sehr viel Gespür für zufällige Begegnungen und Besonderheiten auf der Strecke, ohne jedes touristisches Interesse  entsteht ein so ungewöhnliches wie faszinierendes Bild von New York. Habe ich sehr gern gelesen.

 

Anne Applebaum - Die Achse der AutokratenAnne Applebaum – Die Achse der Autokraten

Die Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2024 hat eine kluge Analyse darüber geschrieben, wie Demokratien systematisch ausgehöhlt, diffamiert und geschwächt werden und wie sich zu diesem Zweck die diversesten Autokratien zu fluiden Zweckbündnissen zusammenschließen. Eine bedrückende Analyse, die aber auch Auswege und Methoden aufzeigt, wie sich demokratische Gesellschaften gegen diese dem eigenen Machterhalt dienenden autokrtischen Bestrebungen widersetzen können. Wichtiges Buch!

 

Annett Gröschner - Schwebende LastenAnnett Gröschner – Schwebende Lasten

Ein ganzes Leben erzählt in einem so lakonischen wie berührenden Ton. Es ist die Geschichte der Floristin und später Kranfahrerin Hanna Krause aus Magdeburg, die im Kaiserreich geboren, zwei Weltkriege, zwei Demokratien, zwei Revolutionen und zwei Diktaturen erlebt und sechs Kinder geboren hat, von denen nur vier erwachsen wurden. Kein leichtes Leben, aber in all seiner Individualität doch so typisch für eine bestimmte Frauengeneration – millionenfach so ähnlich gelebt und doch weitgehend ungesehen. Annett Gröschners gibt denen ein Gesicht, die zu oft unsichtbar bleiben.

 

Kerstin Holzer - Thomas Mann macht FerienKerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien

Ein sommerlich leichter, sehr unterhaltsamer Beitrag zum diesjährigen Thomas-Mann-Jubiläumsjahr. Wir folgen im sommer 1918 der siebenköpfigen Familie Mann für zwei Monate an den Tegernsee, begleiten Ruderpartien, Spaziergänge mit dem Hund Bauschan, Hamstertouren, Schreibprozesse, Gedanken und Seelennöte und erhalten einen etwas anderen Blick auf den Schriftsteller und seine Familie. Gut recherchiert und niemals voyeuristisch.

 

Patrick Modiano - Die TänzerinPatrick Modiano – Die Tänzerin

Ein weiteres Mosaiksteinchen im großen Lebensbuch des Nobelpreisträgers Patrick Modiano trägt Die Tänzerin bei. Wir folgen wieder den Erinnerungen des Erzählers an frühere Jahre in Paris, rätselhafte Menschen, die er einst gekannt hat und die im Nebel verschwunden sind. Straßen, Cafés, Bars – es sind die dunkel, geheimnisvollen Stimmungen, die auch im neuesten, sehr schmalen Roman – vielleicht eher eine Erzählung – des Franzosen präsent sind.

 

Susanne Kaiser - Riot GirlSusanne Kaiser – Riot girl

Eine neue Ermittlerin aus München, der Beginn einer neuen Krimireihe mit der Forensikerin Obalski. Unter dem Hashtag Riotgirl kündigen Unbekannte Aktionen gegen das Patriarchat an, sollten nicht bestimmte Männer, die Gewalt gegen Mädchen ausüben endlich strafverfolgt werden und die entsprechenden Behörden endlich tätig werden.

Eine Brücke haben sie bereits zum Einstürzen gebracht und kündigen weitere Aktionen an. Obalski wird als verdeckte Ermittlerin ins Jugendamt eingschleust, wo sie Verbindung zu Mädchen aufnimmt, die eine merkwürdige Narbe tragen und auf unterschiedliche Weise Gewalt ausgesetzt sind. Auch in die soziale Medien, in denen sich die Gruppe der „Influenzas“ mit dem Hashtag Smash the patriarchy! organisiert, dringt sie ein. Bald wird ein Toter aus der Isar gezogen und von #riotgirl ein Ultimatum verkündet. Mich hat weder die Geschichte dieses feministischen Krimis – so wichtig das Augenmerk auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen und die oft praktizierte Untätigkeit der Behörden und der Polizei sind – noch die Sprache, die sich einer mehr oder weniger  – ich mag das nicht endgültig zu beurteilen, mich nervte es aber – authentischen Jugendsprache und vieler Begriffe aus den sozialen Medien bedient, so richtig überzeugt.

 

Ayelet Gundar-Goshen - Ungebetene GästeAyelet Gundar-Goshen – Ungebetene Gäste

Ayelet Gundar-Goshen taucht auch in ihrem neuen Roman tief in die menschlichen Abgründe ihrer Protagonist:innen hinein. Ein tragischer Unfall – der einjährige Sohn von Naomi wirft in einem unbeobachteten Augenblick den Hammer des arabischen Handwerkers über den Balkon und dieser trifft einen zufällig vorbeigehenden Passanten tödlich – zeigt nicht nur die gesellschaftlichen Verwerfungen in Israel, die Unterschiede in den Lebensbedingungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis, zwischen Arm und Reich, sondern auch die tiefsitzenden Ängste und Vorurteile zwischen den Bevölkerungsgruppen, die Auswirkungen des Schweigens, von Schuld, Scham und Rache. Außerdem wirft es einen Blick auf Mutter- und Partnerschaft.

 

velickovic-nachtgästeNenad Velickovic – Nachtgäste

Diesen Roman aus dem belagerten Sarajevo der 1990er Jahre, der 1995 erstmalig erschien, habe ich nach 2/3 leider abgebrochen. Ich bin mit der Erzählweise, der für mich nicht stimmigen naiv-distanzierten Perspektive der jugendlichen Maja und dem merkwürdigen Humor nicht warmgeworden. Schade. Die Stimmen zum Roman waren sehr positiv und der Inhalt mit der in einem Keller des Museums Schutz suchenden, bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft vielversprechend. Hat aber leider nicht gepasst.

 

Ursula Knoll - ZuckerUrsula Knoll – Zucker

Ein Roman auf auf verschiedenen Zeitebenen und mit vier verschiedenen Protagonistinnen und einem Geist, in dem Zucker eine Rolle spielt: um 1828 hat die ehemalige Sklavin Mary Prince mit ihrer Autobiografie, in der sie über ihr Leben auf den Zuckerrohrplantagen auf Bermuda berichtet, in London großen Erfolg; um 1848 erleben die Arbeiterin in einer Zuckerfabrik Dita und ihre spätere „Herrin“ Mathilde die Deutsche Revolution und den Siegeszug der einheimischen Zuckerrübe gegen das importierte Zuckerrohr; 1997 bis heute begleiten wir Paula, die u.a. an einer mit Zucker betriebenen Batterie arbeitet. Kunstvoll verwoben, voller spannender Fakten über das heutzutage umstrittene „weiße Gold“, humorvoll und unterhaltsam. Toller zweiter Roman von Usch Knoll.

 

Tan Twan Eng - Das Haus der TürenTan Twan Eng – Das Haus der Türen

Nicht mit auf dem Beitragsbild, da gerade noch beendet, ist Das Haus der Türen das Monatshighlight eines starken Lesemonats. Ein ganz wunderbar erzählter Roman.

1921: der weltberühmte Schriftsteller William Somerset Maugham ist mit seinem Sekretär und Geliebten Gerald in Penang/Malaysia zu Gast und findet bei seiner Gastgeberin Leslie Inspirationen zu neuen Geschichten. Macht sofort Lust, wieder einmal zu Maughams Erzählungen zu greifen.

 

 

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