Jean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß

2023 erhielt Jean-Baptiste Andrea, 1971 in Cannes geboren, für seinen Roman „Vieller sur elle“ den renommierten Prix Goncourt, jetzt ist dieser unter dem Titel Was ich von ihr weiß auch auf Deutsch erschienen. In einem breiten epischen Bogen erzählt der Autor das Leben des äußerst talentierten, kleinwüchsigen Bildhauers Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo, von seiner Geburt 1904 bis zu seinem Sterben in einem italienischen Kloster im Jahr 1986.

In einem fast altmeisterlichen Stil und völlig unbeeindruckt von möglichen Vorwürfen, der Roman sei zu konventionell komponiert, entfaltet Andrea ein großes historisches Tableau. Im Mittelpunkt steht der Ich-Erzähler Mimo, der im Kloster, das er seit vierzig Jahren bewohnt, abseits und von seinen Mitbrüdern bewacht, im Sterben liegt. Noch vor wenigen Tagen stand er auf der Leiter im Garten, nun sind seine letzten Stunden angebrochen. Und Mimo erinnert sich. Unterbrochen werden diese Erinnerungen nur von kurzen Einschüben eines allwissenden Erzählers, einer Art Chor der Mitbrüder, die auf ihn und sein Sterben schauen, und von der personalen Perspektive des Abtes des Kloster, Pater Vincenzo.

Die Lebensgeschichte eines Außenseiters

Was ich von ihr weiß ist die Lebensgeschichte eines Außenseiters, der es zu Ruhm und Ansehen gebracht hat, sein Talent und seine Leidenschaft für die Bildhauerei ausleben konnte, aber sein Lebensglück doch verfehlte.

Michelangelo wird als Sohn von ligurischen Auswanderern in Frankreich geboren. Er fühlt sich als doppelter Außenseiter, da er von allen als Italiener und als Kleinwüchsiger geschmäht wird. Was seinem Talent und den vom Vater gelernten Fähigkeiten als bildender Künstler aber nicht im Wege steht. Nach dem frühen Tod des Vaters sieht sich die Mutter allerdings genötigt, ihn zwölfjährig zu Verwandten nach Italien zu schicken, da sie ihn kaum ernähren kann. „Zio Alberto“ meint es allerdings nicht gut mit seinem „Neffen“. Hunger, Schläge, Ausbeutung sind fortan Mimos Los.

Dafür gewinnt er im Brüderpaar Annex und Emanuele Freunde fürs Leben und in der eigensinnigen, abenteuerlustigen Viola Orsini eine faszinierende, wenn auch geheime Gefährtin. Mitglieder der Familie Orsini, einer der bekanntesten italienischen Adelsfamilien, werden später Mäzene des Bildhauers Michelangelo Vitaliani und besonders Francesco, der Bruder Violas, als Priester, Bischof und Kardinal sein Förderer. Aber die Standesunterschiede zwischen Mimo und Viola sind zumindest am Anfang so groß, dass sich die beiden Jugendlichen nur heimlich treffen können.

Talentierter Bildhauer

Während Mimo durch sein Talent immer bekannter, reicher und angesehener wird, muss sich Viola dem Schicksal fast aller Frauen der damaligen Zeit beugen. Sie wird verheiratet, bleibt aber zum großen Verdruss ihres Mannes kinderlos. Die Lebens- und auch Liebesgeschichte – wenn sie das im klassischen Sinn auch nicht ist – wird natürlich begleitet von der italienischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und verfolgt den Aufstieg der Faschisten unter Mussolini. Mimo ist im Gegensatz zu seiner Freundin unpolitisch, nimmt auch von den neuen Machthabern Aufträge an. Sein letztes Werk allerdings wird eine fast mystische Pieta werden, deren Aura ein wenig zu raunend von Beginn an als bedrohlich, sexuell aufgeladen und geheimnisvoll umschrieben wird. Sie sei so geheimnisvoll, dass sie vom Vatikan im Kloster, das auch zu Mimos Zuhause werden soll, versteckt wird. Warum er letztlich dort landet, wird allerdings nicht erzählt.

Freundschafts- und Liebesgeschichte, italienische Geschichte über den Aufstieg der Faschisten, Künstlerroman, Beginn der italienischen Filmindustrie, Religion, ein Schuss Mystik, ein Schuss Spannung – das lässt sich alles sehr süffig und unterhaltsam lesen. Ob der Riesenerfolg, den der Roman in Frankreich hatte, oder der Prix Goncourt tatsächlich angemessen sind für diesen eher konventionellen historischen Schmöker, mag ich nicht beurteilen. Gern gelesen habe ich ihn schon.

 

Beitragsbild: Michelangelos Pieta Michelangelo, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

 

Jean-Baptiste Andrea - Was ich von ihr weiß.

Jean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß
Aus dem Französischen von Thomas Brovot
Luchterhand Mai 2025, Hardcover, mit Schutzumschlag, 512 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

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