Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Schwebende Lasten ist der so poetische wie passende Titel eines Romans, in dem Annett Gröschner ein ganzes Frauenleben im 20. Jahrhundert erzählt. Ein Leben, das so einzigartig wie exemplarisch ist, das ähnlich millionenfach gelebt wurde und doch in der Regel unsichtbar bleibt.

„Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 1930er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.“

Sechs Kinder – die Abtreibungen und Fehlgeburten gar nicht miteinbezogen. Als Vierjährige hat sie die Mutter durch einen Schlaganfall verloren – der polnische Vater war da bereits schon längst verschwunden. Sie ist mit der Schwester Liese bei der älteren Halbschwester Rose aufgewachsen, die sie wie die andere Halbschwester Margarete immer nur als Ballast und Konkurrenz empfand: Es ist kein einfaches Leben, das Hanna Krause lebt. Das wird gleich am Anfang klar.

Das Blumengeschäft

1913 geboren, ist ihre glücklichste Zeit die, in der sie in einem kleinen Blumengeschäft selbst entworfene Sträuße zusammenstellen kann. Bei ihrer Halbschwester Rose hat sie das Handwerk der Floristin gelernt und konnte 1933 einen kleinen Laden am Rande des Knattergebirges, dem Armenviertel von Magdeburg, günstig übernehmen. Da ist sie schon mit Karl verheiratet und bald Mutter von Johannes. Karl verliert seine Arbeit als Vertreter von Eisenbahnversicherungen und hilft fortan im Laden. Die Töchter Elisabeth, Barbara und Selma folgen. Hanna besitzt das Talent für außergewöhnliche Arrangements und entwickelt bald eine große Leidenschaft für Blumen, die ihr „menschlicher als ihre eigene Gattung“ erscheinen. Die einzelnen Kapitel von Schwebende Lasten leitet Annett Gröschner dann auch durch Kurzporträts einzelner Blumen ein.

Sie sind Teil eines Blumenstilllebens des Malers Jakob Marell. Es ziert eine Postkarte, die ein Kunde mit der Bitte, den abgebildeten Strauß „in echt“ nachzubilden, in Hannas Laden zurücklässt. Ein Stillleben als Vanitas-Symbol, kaum zu verwirklichen, da die gemalten Blumen zu ganz unterschiedlichen Zeiten blühen. Hanna gelingt es dennoch fast originalgetreu. Der Kunde erscheint allerdings nie wieder, obwohl er im Voraus bezahlt hat. Vielleicht liegt das am zwangsweise neu angebrachten Schild „Juden nicht erwünscht“? Der 1939 ausbrechende Krieg bedeutet auch das langsame Aus des geliebten Blumenladens. Wer hat schon noch Geld für Blumen?

Die Zeiten werden schwieriger

Karl verliert bei einem Arbeitsunfall ein Bein, die Zeiten werden immer schwieriger. Im August 1944 werden die Krauses ausgebombt, Ende September werden die erneut schwangere Hanna und die Kinder unter einer Kirche verschüttet. Johannes stirbt im anschließenden Feuersturm. Den Verlust des Kindes verwindet Hanna nie, auch wenn sie weiter funktionieren muss. Auch die ihr sehr zugetane Schwiegermutter Sibylle fällt dem Krieg zum Opfer. Karl greift immer mehr zur Flasche, vertrinkt das Geld. Nach dem Krieg wird Hanna zur Kranführerin im Thälmann-Stahlwerk, in dem auch Karl arbeitet. 1949 kommt ihre letzte Tochter Judith auf die Welt. Mit 49 erleidet Hanna einen Herzinfarkt. 1982 stirbt Karl, die Tochter Judith wird später wegen versuchter Republikflucht verhaftet. Hanna stirbt erst mit über achtzig.

Die Resilienz und der Pragmatismus, die viele Frauen dieser Generation aufweisen, hat auch ihren Preis. Eine sehr liebevolle Mutter, die ein enges Verhältnis zu ihren Kindern hat, ist Hanna nicht. Sie bringt die Familie durch, sorgt für sie, kämpft für sie. Für große Gefühlsäußerungen ist da kein Platz.

Auch Annett Gröschner erzählt das Leben von Hanna Krause in Schwebende Lasten völlig lakonisch, unprätentiös und mit einem leisen Humor. Das passt ausgezeichnet. Eine „einfache“ Geschichte für ein so gar nicht einfaches, aber so unspektakulär gelebtes Leben.

 

Beitragsbild via pxhere

 

Annett Gröschner - Schwebende Lasten.

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Annett Gröschner – Schwebende Lasten
C.H.Beck März 2025, 282 Seiten, Hardcover, € 26,00

 

 

 

 

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