Ulrike Draesner – zu lieben

Kann man zu lieben lernen? Was bedeutet es überhaupt, zu lieben – das beleuchtet die Autorin Ulrike Draesner anhand der Adoption eines Kindes, ihres Kindes. Nach mehreren Fehlgeburten und unzähligen Versuchen, schwanger zu werden sind die Ich-Erzählerin, die durchaus mit der Autorin gleichgesetzt werden kann, und ihr Mann Hunter schon jenseits der Vierzig. Zu alt für das deutsche Adoptionssystem. Für solche Fälle gibt es Vereine, die Auslandsadoptionen vermitteln. Die Wahl fällt auf Sri Lanka und die Zeit des Wartens und der bürokratische Hindernisse beginnt.

Dann kommt er tatsächlich, der Anruf aus Colombo: In einem Kinderheim der Mutter-Teresa-Schwestern lebt ein kleines Mädchen, 3 Jahre alt und mit Namen Mary, das für die Adoption in Frage kommt. Die Ich-Erzählerin und Hunter fliegen nach Sri Lanka. Vier Wochen des Kennenlernens und sich aneinander Gewöhnens liegen vor ihnen, denn die Behörden lassen vor ihrer Genehmigung prüfen, ob Eltern und Kind auch miteinander harmonieren. Vier Wochen, um eine Art Bonding herzustellen, von dem immer gesagt wird, die prägenden Momente wären die direkt nach der Geburt.

Zwei Welten

Hier treffen nun die beiden Weißen ohne jegliche singhalesische Sprachkenntnisse auf ein kleines willensstarkes, trotziges Mädchen, das seit seiner Geburt mit seiner damals erst zwölfjährigen Mutter in diesem Heim lebt, vordergründig versorgt – mit Nahrung, Kleidung, Sauberkeit -, aber gezwungenermaßen emotional vernachlässigt. Wie kann man seine Fremdheit, Angst, Scheu, Ablehnung überwinden? Fünf sri-lankische Familien müssen bereits die Adoption abgelehnt haben, bevor ein Kind für eine Auslandsadoption in Frage kommt. Mary ist kein einfaches Kind. Sie verweigert jede Nähe und Berührung ihrer potentiellen Adoptiveltern ab.

Wie gelingt es, diese Distanz zu überwinden? Wie lernt man, zu lieben – oft musste ich, so abgenudelt es erscheinen mag, an den kleinen Prinz von Antoine de Saint-Exupéry denken. „Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt … (…aber)du musst sehr geduldig sein“ sagt der Fuchs. Und diese Geduld braucht es auch für Mary. Es gibt Fortschritte und Rückschritte und es ist bewundernswert, wieviel Raum die zukünftige Adoptivmutter ihrer „future daughter“ lässt, damit auch manches Mal fast verzweifelt, aber durchhält, bis es nach diesen vier Wochen tatsächlich zur Adoption kommt. Nach jeder Menge Bürokratie, Ämtern, Behörden.

In Berlin stößt die kleine Familie auf weitere Schwierigkeiten. Das Mädchen kommt aus einer ganz anderen Kultur, kennt keine Löffel, keine Schuhe, keine Unterhosen. Und die Umgebung beäugt die Mutter und ihr so ganz anders aussehendes Kind misstrauisch. Die Ehe mit Hunter bekommt Risse, scheitert letztendlich.

Beeindruckende Offenheit

Ulrike Draesner erzählt in zu lieben beeindruckend offen. Roman steht als Gattungsbezeichnung auf dem Cover, denn es ist kein Roman, es ist wahr, aber es ist natürlich rekonstruiert, erinnert, nach-erzählt und damit schon wieder ein Stück weit Fiktion. Der Text ist in sehr kurze Abschnitte geteilt, die meistenteils chronologisch fortschreiten, aber auch assoziativ springen können, und durch in anderen Schriftarten abgesetzte Passagen der Reflexionsebene unterbrochen werden. Begriffe werden durchgestrichen, weil sie manchmal nicht passen, die Suche danach aber sichtbar gemacht werden soll. Emotionalität und Empathie werden durch Ironie und Analyse ergänzt. Die Autorin ist sich der Situation – Weißes privilegiertes Paar „holt“ sich ein Kind aus einem ehemalig kolonialisierten Land – sehr bewusst, hinterfragt das auch, weiß, dass hier ein Machtgefälle besteht. Sie sieht auch die furchtbaren patriarchalen Strukturen, die dazu führen, dass es für eine zwölfjährige Mutter nur die Zuflucht in ein solches Mutter-Kind-Heim gibt. Dass es überhaupt zwölfjährige Mütter gibt.

Mehr als fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen. Mutter und Tochter haben zu lieben gelernt. Davon erzählt dieses so einnehmende, zärtliche und offene Buch über Elternschaft und Mutterliebe, über Kinderwunsch und dessen Erfüllung. Über eine Beziehung, die keiner anderen gleicht. Wunderbar!

 

Über den dritten Teil der „Nebelkindertrilogie“ von Ulrike Draesner könnt ihr hier lesen:

Ulrike Draesner – Die Verwandelten

 

 

Beitragsbild: © [imaghitasia]/12ERF.COM

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Ulrike Draesner – zu lieben
Penguin September 2024, 352 Seiten, gebunden, € 24,00

 

 

 

 

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