Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme

Die 1979 in Tirana geborene albanisch-britische Philiosophin Lea Ypi hatte mit ihrem Memoir „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, in dem sie aus (ihrer) kindlichen Perspektive vom Übergang ihres Heimatlandes von einer streng abgeschotteten sozialistischen Diktatur zu einem ungezügelten Kapitalismus erzählte, 2021 großen Erfolg. Das Buch wurde in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Auch ihr neues Werk spielt augenzwinkernd auf ein bedeutendes historisches Sachbuch an. War es bei Frei das berühmte „Das Ende der Geschichte“ von Francis Fukuyama, in dem dieser nach Zusammenbruch des „Ostblocks“ über einen vermeintlich finalen Sieg des Liberalismus und ein Ende der weltpolitischen Dualität jubilierte (leider deutlich zu früh), fügt Lea Ypi ihrem neuen Buch Aufrecht, das das Leben ihrer Großmutter in den Fokus rückt, den Untertitel Überleben im Zeitalter der Extreme hinzu, was sich auf das gleichnamige Buch des britischen Historikers Eric Hobsbawm bezieht, der darin die Zeit von 1914 bis 1991 behandelt.

Kriege, Genozide, der Zusammenprall extremer Ideologien, rasante gesellschaftliche und technische Entwicklungen, Flucht und Vertreibung – auch das Leben der 1918 geborenen Großmutter von Lea Ypi, Leman Leskoviku, werden von diesen Ereignissen im „Zeitalter der Extreme“ geprägt. Geboren wird sie in Saloniki, dem heutigen Thessaloniki, als Enkelin eines Paschas, also eines höchsten Beamten des damals bereits in den letzten Zügen liegenden Osmanischen Reichs.

Nach seinem Tod übersiedelt die Witwe mit ihrer Tochter Selma von Istanbul zu ihrem Sohn Avni Bey, der wegen seiner Geschäfte schon länger in Saloniki (dem heutigen Thessaloniki) lebt. Dort dauert das Luxusleben noch eine Weile an. Auch den „großen Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei, der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reichs als Zwangsumsiedlung vereinbart wurde, und der 1922/23 alle griechisch-orthodoxen Staatsangehörigen des Osmanischen Reiches, die im Gebiet der heutigen Türkei lebten, sowie alle muslimischen Staatsangehörigen Griechenlands betraf, übersteht die Familie Dank ihrer Beziehungen in Saloniki.

Ausbruch nach Tirana

Leman ist die Welt, in die sie hineingeboren wird, zu eng. Ihre geliebte Tante Selma begeht vor der erzwungenen Hochzeit mit einem deutschen Tabakhändler Suizid. Und Leman will studieren, selbstbestimmt leben, weg von der väterlichen Kontrolle, frei sein. Ihr gelingt das, indem sie mit 18 Jahren nach Tirana übersiedelt. Im damaligen Königreich Albanien der 1930er Jahre wird sie die erste Frau, die in der staatlichen Verwaltung arbeitet. Sie lernt Asllan Ypi kennen. Auch er entstammt der einstigen osmanischen Elite. Sein Vater war kurzzeitig Premierminister des Landes. Sein Sohn allerdings ist Sozialist, Jurist, ehemaliger Studienkollege des späteren kommunistischen Diktators Enver Hoxha. Leman und Asllan heiraten.

Ein Foto ihrer Hochzeitsreise im Jahr 1941 in den italienischen Nobel-Skiort Cortina d`Ampezzo in den Dolomiten, das Lea Ypi auf Facebook entdeckt und das in der Social-Media-Gemeinde Spekulationen zu ihrer Großmutter auslöst (Was macht eine Albanerin im Kriegsjahr in Italien (=Besatzungsmacht)? War sie eine Spionin?), veranlasst letztendlich Ypis Recherchen zu ihrer Familie, die im Buch Aufrecht münden. Sie fährt nach Tirana, nimmt Einblick in die Untersuchungsakten der albanischen Staatspolizei Sigurimi, die ihre Großmutter tatsächlich bespitzeln ließ, rekonstruiert das Leben Lemans, füllt die Lücken mit Fiktion. So wie sie sich das Leben ihrer Großmutter vorstellt.

Leben im Zeitalter der Extreme

Nach der italienischen und dann deutschen Okkupation und dem inneren Exil folgt 1946 die von Enver Hoxha ausgerufene Sozialistische Volksrepublik Albanien. Der ehemalige Studienfreund orientiert sich zunehmend an den stalinistischen Praktiken und Asllan Ypi fällt  schließlich den Säuberungen Hoxhas zum Opfer. Er wird zunächst als Staatsfeind zum Tode verurteilt und dann zu 20 Jahren Lagerhaft begnadigt. Leman ist nun gesellschaftlich geächtet und muss Zwangsarbeit in der Landwirtschaft ableisten. Ihren kleinen Sohn Zafo, Vater der Autorin, muss sie allein großziehen.

In kaleidoskopartigen Rückblenden imaginiert Lea Ypi in Aufrecht, wie es hätte sein können. Diese fiktionalisierten, auktorialen Passagen wechseln mit den Rechercheergebnissen, der Reise nach Tirana und eigenen Erinnerungen ab. In den Archiven wird sie gefragt, ob sie als Angehörige oder als Wissenschaftlerin tätig werden möchte. Lea Ypi ist beides. Das Buch ist sowohl emotional als auch mit wissenschaftlichem Interesse geschrieben. Letztendlich gibt es – gerade auch über Frauen, so die Autorin – relativ wenig dokumentarisches Material. Ich finde, Lea Ypi ist diese Verbindung sehr gut gelungen. Auch wenn ein wenig die Ironie und der Humor des ersten Teils, Frei, fehlt, der durch die Kinderperspektive in der absurden Gegenwart der Albanischen Sozialistischen Republik gegeben war, ist das Buch nicht nur historisch interessant, sondern auch äußerst unterhaltsam.

 

Beitragsbild: Skanderbeg Tirana by Thomas Quine (CC BY 2.0) via Flickr

 

Lea Ypi - Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme.

Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp September 2025, Fester Einband, 389 Seiten, € 28,00

 

 

 

 

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