Der Juli steht im weltbekannten Wintersportort Lech im österreichischen Vorarlberg im Zeichen der Literatur. Seit 2021 findet dort das Literaricum Lech statt. Von Donnerstag bis Sonntag dreht sich dann alles um einen Klassiker, der vom Team um Kuratorin Nicola Steiner mit Raoul Schrott und Michael Köhlmeier ausgewählt wird. Dieser wird dann in vielfältigen Veranstaltungen beleuchtet und auf seine Aktualität befragt. Dazu werden jedes Jahr namhafte oder auch junge Autor:innen mit ihren Büchern eingeladen. 2024 drehte sich beim Literaricum Lech alles um Lolita von Vladimir Nabokov.
Dass dieser 1955 erschienene, durchaus umstrittene und vielfach falsch interpretierte Roman ausreichend Anlass für Diskussionen und reichlich Anknüpfungspunkte bietet, liegt auf der Hand. Von den einen als „Verherrlichung von Pädophilie“ verschrieen, von den anderen als sprachliches Meisterwerk verehrt, ist in jüngerer Zeit eine Art „Ehrenrettung“ des Romans ins Zentrum gerückt.
Lolita lesen?
Lange Zeit habe auch ich mich vor der Lektüre von Lolita gedrückt, belastet durch all die Vorurteile, die ich mir dem Roman gegenüber gebildet habe. Diese sind – zum Glück – nun weitgehend ausgeräumt und die Geschichte um Humbert Humbert und Lolita begeistert mich nicht nur wegen ihrer literarischen Raffinesse und Güte, sondern ist für mich auch die erschütternde Geschichte eines jungen Mädchens in den Fängen eines pädophilen Psychopathen. Dessen Grausamkeit nicht zu sehen, sondern seine Geschichte zu einer Art Liebesgeschichte umzuformulieren, hat vor allem die Verfilmung von Stanley Kubrick von 1961 bewirkt, die sich mit ihren ikonographischen Bildern viel tiefer eingeprägt hat als der zu Grunde liegende Roman.
Ursache der vielen Missverständnisse, die der Roman hervorgerufen hat und die zu seinem zeitweisen Verbot führten, war unter anderem seine radikal subjektive Perspektive. Die Leser:innen sitzen quasi im Kopf des Humbert Humbert, der zwar nebenbei erwähnt, dass er bereits verschiendene Male in der Psychiatrie war bevor seine Erzählung beginnt, der sie aber – versehen mit allerlei Selbstreflexion, Witz und Ironie – durchaus „an den Mann“ zu bringen weiß. Vladimir Nabokov gestaltet seine Lolita als eine Art Bekenntnis, Beichte und Geständnis – so betitelte auch Schriftstellerin Nora Bossong ihre Eröffnungsrede zu Beginn des Literaricum Lech 2024.
Eröffnungsrede
Immer wieder gelingt es den Veranstaltern, sehr namhafte Redner für den Literaricumsauftakt zu gewinnen. Daniel Kehlmann, Elke Heidenreich, Denis Scheck und in diesem Jahr eben die 1982 geborene Nora Bossong, deren Roman „Schutzzone“ 2019 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. Wie passend: Ihr Studium schloss sie mit einer Magisterarbeit zur „Inszenierung des Bösen“ im Werk des Filmregisseurs David Lynch ab. Und so wurde ihr Eröffnungsvortrag bereits zu einem frühen Highlight der viertägigen Veranstaltung.
„Wie genau lässt sich dieser Roman fassen?“ so die Ausgangsfrage. Als „Schuldbekenntnis eines ebenso skrupellosen wie selbstsüchtigen, zur Reue kaum fähigen Mannes?“ Oder als „Das Geständnis eines des Mordes angeklagten Pädophilen?“ Oder als ein „erotisches Liebesbekenntnis“? Gleich zu Beginn erwähnt Nora Bossong die „manipulativen Mittel“ derer sich Humbert Humbert in seiner Erzählung reichlich bedient und betont, „alle Deutungshoheit liegt beim Erzähler.“
Den fiktiven Untertitel der Aufzeichnungen von Humbert Humbert, „Confession of a White Widow „, haben die Übersetzer:innen mit „Bekenntnisse“ (möglich wären auch Geständnis oder Beichte gewesen) wiedergegeben. Damit knüpfte Lolita laut Bossong trotz gänzlich anderem Hintergrund direkt an die in der Mitte des 20. Jahrhunderts hoch im Kurs stehende „Bekenntnisliteratur“ à la „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, „Stiller“ oder „Deutschstunde“ an. Im Gegensatz zu diesen, vorwiegend auf diesseitige Schuld rekurrierenden Werken, handle es sich, so die aktive Katholikin, bei Lolita aber um ein „hochreligiöses Traktat.“ Verweise an biblische Motive, wie die Seaphim, den Dornbusch oder die Äolsharfen finden sich reichlich. „Es ist die Beichte eines Atheisten, der Gott noch braucht, um seine eigene Grandiosität zu beschreiben“, so Bossong, die dann den Bogen zu den „Bekenntnissen“ des Augustinus und den heute so beliebten Autofiktionen schlägt.
Ist dieses Buch ein Skandal?
Nora Bossong beginnt ihren Vortrag und leitet ihre Schlussbetrachtung mit der Überlegung ein „Ist dieses Buch ein Skandal?“. Sie beklagt das um sich greifende „fundamentalistische Lesen“, das „nur unter Ausblendung textinterner Hinweise und metaphorischer Sinngehalte“ gelinge und ein „flaches Lesen“ sei. Es zerstöre „die vielen heterogenen Sinnebenen und damit letztlich das Lebendige in der Literatur oder sogar mehr noch: in uns. Denn ohne Mehrdeutigkeiten und Widersprüche wären wir nicht.“
Welch ein schöner Auftakt für die Auseinandersetzung mit einem solch mehrdeutigen, anspielungsreichen, widersprüchlichen Werk wie Lolita von Vladimir Nabokov beim Literaricum Lech 2024.
Im Anschluss an die Veranstaltung, beim Sektempfang auf der Dachterrasse erzählte mir Nora Bossong noch, was sie so besonders an Lolita fasziniert.
Ein Gespräch mit Nora Bossong beim Literaricum Lech könnt ihr bei Wolfgang Tischer im Literaturcafé nachhören.
Beitragsbild: Nora Bossong Literaricum Lech 2024 copyright: Dietmar_Hurnaus