In der vergangenen Woche (18. bis 21. Juli 2024) fand in Lech am Arlberg die vierte Ausgabe des Literaricum Lech mit dem Roman Lolita statt. In der herrlichen Landschaft der Vorarlberger Hochalpen treffen sich auf bis über 1750 Metern Höhe Literat:innen, Kritiker:innen und interessiertes Lesepublikum um sich wie jedes Jahr einem Klassiker der Weltliteratur an drei Festivaltagen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Nach eigenem Motto wird Bildung und Unterhaltung auf hohem Niveau geboten. Das kann ich uneingeschränkt bestätigen. Eingeladen von Lech Zürs Torismus konnte ich drei Tage lang interessante und hochkarätige Veranstaltungen rund um Vladimir Nabokovs Lolita besuchen, mit den Autor:innen und Pressekolleg:innen sprechen und tolle Leute kennenlernen. Das Wetter spielte auch mit, ein paar Wolken, ein paar Tropfen Regen, ansonsten strahlte die Sonne und verbreitete richtiges Feriengefühl.
DAS LITERARICUM
Seit 1997 findet im schicken Vorarlberger Wintersportort Lech am Arlberg jedes Jahr im September ein hochkarätiges geisteswissenschaftliches Ereignis statt. Das Philosophicum Lech bietet “Nachdenken auf höchstem Niveau – 1500 Meter über dem Meer”, mit enormem Publikumszuspruch. Initiiert von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott und kuratiert von Nicola Steiner wird seit 2021 außerdem ein Literaturfestival veranstaltet, das Literaricum. Idee und Umsetzung sind großartig, seit diesem Jahr stehen mit den Lechwelten auch ein attraktives, exklusives Veranstaltungshaus im Ort selbst zur Verfügung. Noch ein wenig groß für die leider noch begrenzte Zuhörerschar, bietet es aber großartige Chancen auf zukünftiges Wachstum. Auf jeden Fall macht es den Zugang zum Literaricum deutlich leichter als der ebenfalls phantastisch schöne bisherige Veranstaltungsort, oben in Oberlech im Hotel Sonnenburg.
Nach der Eröffnung durch Nora Bossong am Donnerstag, begann das Literaricum Lech auch 2024 traditionsgemäß am Freitag mit einer Lesung aus dem Werk Lolita durch den Schauspieler Thomas Sarbacher. Dieser hat die vorgetragenen Textstellen selbst mit großem Fingerspitzengefühl ausgewählt und so einen sehr passenden Einblick in das doch recht umfangreiche Buch gewährt. Sowohl der besondere Ton Nabokovs als auch der Inhalt des sehr umstrittenen Werks wurden gut angetippt.
Die Wahrheit über Lolita
Danach folgte der Film „Die Wahrheit über Lolita“ von Olivia Mokiejewski (2021). Dem Film gelingt es, durch Gespräche mit internationalen Literaturwissenschaftlerinnen und Nabokov-Kennern wie u.a. dem Biograf Brian Boyd und der Autorin Vanessa Springova („Die Einwilligung“), durch Originalinterviews mit Nabokov und ausgewählten Textpassagen das Lolita-Bild zurechtzurücken, den Roman weit von einer „Verherrlichung von Pädophilie“ fortzuführen und Gründe dafür zu benennen, warum der Roman so oft missverstanden wurde. Witz, Ironie, Anspielungen und Mehrdeutigkeiten im Schreibstil Nabokovs trugen beim oberflächlichen Lesen wohl genauso dazu bei wie die Skandalisierung und die völlig falsche Darstellung als eine Art Liebesgeschichte im großen Filmerfolg von Stanley Kubrick (1962).
Das ließ sich sogleich beim nächsten Veranstaltungspunkt, der Filmanalyse durch Kultur- und Literaturwissenschaftlerin und Autorin Elisabeth Bronfen überprüfen. Die Vermarktung mit Lolita als Lolly lutschendes, laszives junges Mädchen gelang dem Film von Stanley Kubrick auch durch die Besetzung mit der Schauspielerin Sue Lyon (damals 14) perfekt und machte den Film zum großen Erfolg, trug aber auch entscheidend zum Missverständnis des Romans bei. Bronfen outete sich als absoluten Fan des Films und trug allerhand filmische Remineszensen bei und machte auf besonders gelungene Sequenzen aufmerksam. Das war höchst interessant und unterhaltsam, auch wenn ich persönlich den Film für nicht so gelungen halte, vor allem deshalb, weil er die Ironie des Romans zwar aufgreift, sie aber im Gegensatz zu diesem zur Verharmlosung des pädophilen Humbert Humbert beiträgt, der hier eher wie ein etwas hilfloser, liebestoller Trottel dargestellt wird und nicht als der rücksichtslose, brutale Pädophile des Buchs.
Die Verfilmung von Adrian Lyne (1997) wurde – wohl zu recht, wenn es nach den gezeigten Ausschnitten geht – als komplett misslungen mit Tendenz zum Softporno abgetan.
Terézia Mora und Muna
Die letzte Veranstaltung des Freitags galt Terézia Mora und ihrem aktuellen Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“. Ich hatte die Ehre, die Autorin am darauffolgenden Morgen interviewen zu dürfen. Deshalb fasse ich mich hier mit Verweis auf den bald erscheinenden Bericht kurz. Alexander Wasner stellte am Freitag die Fragen.
Auch Muna ist ein Roman über eine obsessive Beziehung. Hier ist es die zu Beginn 17-jährige Muna, die 1989 den etwas älteren Magnus kennenlernt. Wir begleiten sie über die Jahre, über die Trennung, als Magnus die DDR über Ungarn verlässt und nicht zurückkommt, über Munas Studienjahre in London, Berlin und Wien bis zu ihrem Wiedersehen und dem Beginn einer dysfunktionalen Beziehung. Muna bleibt auch nachdem Magnus begonnen hat, gegen sie Gewalt anzuwenden, ihrer obsessiven Liebe zu ihm treu. Der Titel von Muna geht natürlich auf das berühmte Gedicht von Friedrich Hölderlin zurück.
Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Teréza Mora las einige längere Passagen aus dem Roman und danach ging es hinauf nach Oberlech zum Literatendinner.
Kriegeralpe, Toxische Weiblichkeit und Moralspektakel
Der Samstag begann wie immer auf der Kriegeralpe. Dieses Jahr zum ersten Mal nicht bei strahlendem Sonnenschein, sondern etwas bedeckt. Die Sonne gab sich aber später noch die Ehre. Raoul Schrott fuhr fort mit seiner Klassiker-Reihe und las aus der Ilias. Das aus dem 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. stammendes Epos über den trojanischen Krieg und über die griechische Götterwelt ist eines der ältesten schriftlich festgehaltenen fiktionalen Werke Europas.
Der Nachmittag beim Literaricum Lech – Lolita begann mit einem Podium mit Autorin Sophia Fritz („Toxische Weiblichkeit“) und Philosoph Philipp Hübl („Moralspektakel“), moderiert von Raoul Schrott, der Themen wie das Gendern, das Verwenden dikriminierender Sprache u.a. in klassischer Literaur und Identitätspolitik anschnitt. Seine Eingangsfrage an Sophia Fritz (und später an Philipp Hübl) lautete: „Redest du hier mit mir als Frau oder als Mensch?“ Schwierig. Denn neben Geschlecht gibt es die soziokulturelle Prägung. Das auseinander zu dividieren finde ich, wie die Autor:innen, unmöglich.
Sophia Fritz versuchte dann, ihre Theorie in „Toxische Weiblichkeit“ darzulegen, den Versuch, mehr über das Körperliche zu gehen und auch weniger über Empowerment für Frauen, als auch Weichheit für Männer zuzulassen. Ein interessanter Ansatzpunkt, der aber im Gespräch leider ein wenig zu kurz kam. Auch Philipp Hübls Buch wurde inhaltlich nur angetippt. Immerhin wurde mein Interesse so stark geweckt, dass ich beide Bücher bestellt habe. Ich werde sie hier noch besprechen und dann auch nochmal auf das Gespräch eingehen.
Kunst des Übersetzens
Der letzte Veranstaltungspunkt am Samstag war ein Gespräch zwischen Nicola Steiner und dem schwedischen Autoren und Nabokov-Übersetzer Aris Fioretos. Das Sprachgenie Nabokov schrieb seine Texte zunächst auf Russisch, nach der Emigration mit seiner jüdischen Frau Vera aus Berlin, wo die Familie Nabokov seit der Oktoberrevolution im Exil lebte, über Paris nach Amerika vorwiegend auf Englisch. Von diesen hat Aris Fioretos die meisten ins Schwedische übersetzt. Sein erster Roman von Nabokov war „Durchsichtige Dinge“ – laut Fioretos kein übermäßig guter Roman. Seine Lieblingsromane sind vielmehr „Pnin“, „Verzweiflung“ und auch Lolita. In diesem kommt besonders Nabokovs Liebe zur englischen Sprache und zu allem Amerikanischen zum Ausdruck. Nabokov war fasziniert von der Sprache der jungen Amerikaner – derer er sich für die junge Dolores Haze bediente – und ganz allgemein den „american way of life“.
Die bildhafte, lyrische Sprache Nabokovs zu übersetzen fordert heraus. Aris Fioretos machte es an einigen konkreten Beispielen deutlich.
Poeta laureatus
Der Sonntag gehörte wie bereits im vorigen Jahr ganz dem zu kürenden Poeta laureatus. Leider war der diesjährige Preisträger, Clemens J. Setz, erkrankt und konnte nicht vor Ort sein. Deshalb hat Alexander Wasner nicht nur die Laudatio gehalten, sondern auch die Dankesrede vorgelesen. In der Jurybegründung (Mara Delius, Michael Köhlmeier, Raoul Schrott, Nicola Steiner, Alexander Wasner) hieß es:
Clemens Setz „ ist ein Geschichtenumsetzer mit weitem Horizont, ein Themenfinder mit Scharfblick, ein Materialumwälzer mit grenzenlosem Interesse. Das hat die deutschsprachige Literatur selten gesehen. Es wird spannend, was er in den nächsten 12 Monaten an Fundstücken in seine irisierenden Gedichte packt. Ihm ist nichts Menschliches fremd und alles Fremde menschlich. Klar ist, dass er dabei auch die Grenzen dessen verschieben muss, was heute unter literarischer Sprache verstanden werden kann: Denn dazu gehören notwendig auch Bilder, soziale Medien, Videos und Podcasts.“
Raoul Schrott las einige der Gedichte, die für den Preis entstanden sind. Hier ist eines davon:
Schmetterlingseffekt
Dieser eine verheerende
Wirbelsturm letzte Woche
am anderen Ende der Welt:
Das war ich
Nur eine einzige bedachte Drehung
oder Faltung der Flügel,
mehr kann’s im Prinzip
nicht gewesen sein
Ich schwöre, ich werde mich
in Zukunft bemühen
Aber wie meinen Körper halten
wie die Fühler, die Beinchen
Immer noch bringt
jede kleinste Bewegung
gewaltiges Massensterben
irgendwo weit weg
Selbst mein vollkommen regloses
Ausruhen auf der Tempelglocke
auf ihrem betörenden Moosbelag
bringt weltweit nichts als Zerstörung (Clemens J. Setz, 8.3.2024)
Nachzuhören sind die Gedichte und die Gespräche dazu mit Alexander Wasner auf der Website vom SWR
Der Poeta des vergangenen Jahres, Michael Krüger, war anwesend
und las noch einmal einige seiner Gedichte. Diese sind in dem kleinen, im Ulrich Keicher Verlag in fadengehefteter Broschur sehr schön gestalteten Büchlein „Zwölf“ erschienen. Große Empfehlung von mir.
Damit ging das Literaricum Lech 2024 mit Lolita im Mittelpunkt zu Ende und es war wieder ein großartiges Erlebnis. Ich hoffe, dass es noch die breite Aufmerksamkeit erhalten wird, die es verdient. Für mich ist es bereits das Highlight des Büchersommers.
Alle Fotos ©Petra Reich